τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 25. August 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez IV

 24. August 2022

 

Michel Serres läßt sich vom römischen Dichter-Philosophen dazu verführen, nein dazu inspirieren, sogenannte persönliche Erfahrungen als „Fälle“ zu betrachten, die sich unter jahrhundertealte theoretische Formulierungen subsumieren lassen, und damit beide Ebenen überhaupt verständlich machen: seine Erfahrungen durch die Theorien und die Theorien durch Erfahrungen. Und er führt auch den Begriff der „Ataraxie“ an, der Unerschütterlichkeit des Gemüts, welche für die Ethik der Epikureer maßgeblich gewesen ist.

 

„Ein Vergnügen, die Ataraxie wieder zu entdecken. Selber bin ich Abstand, meine Seele, mein ganzer offener Körper neigt dazu, abzudriften. Unwiderruflich gleitet er den Hang hinunter. Wer bin ich? Ein Wirbel. Eine Streuung, eine Zersetzung. Ja, ich bin eine Singularität.

Das Meer, schwer und eben, nimmt den Wind und die Neigung seines Drängens an. Bett des Windes. Die hohle Schlagwelle wird aufgetürmt und sie breitet sich aus. Hoher Seegang, steile See. Die beiden Kräfte, die passive Schwere des Meeres und der Winkel der Brise . . . .

Ich wälze meinen flüssigen Körper auf demselben Sisyphos-Hang wie das Meer, das aufgewühlte. Schiff in der Abdrift, unter dem Ruderwinkel, das bin ich. Bald werden da und dort vereinzelte Bretter sichtbar werden, Atome wieder zu Atomen geworden. Wie soll man ohne einen Ruderwinkel steuern können? Ich bin auf dem Schiff, das heißt, das Ruderblatt muß einen Winkel haben und der bedingt meine Existenz, meine Geburt und meine Zeit. Die Neigung dieses Blitzes steuert mich, wie sie die Universum steuert. Wenn etwas existiert, so existiert es nur wie ein Stein, der den Hang eines Hügels hinunterrollt (sagt Spinoza), wie ein Schiff, das in einem Windbett dahin getrieben wird. Und ohne jenen Ruderwinkel geht nichts. Die Dinge existieren – eher. Alles ist Taraxie, alles ist Trubel.. . .

Doch Meister Epikur, der vielgesichtige, sagt das Physik-Gesetz, das der Natur, der meinigen. Unumkehrbar kommt die Turbulenz und löst sich auf, wie durch Zufall. Sie läuft auf der geneigten Ebene dahin, formt sich da und dort um, auf dem Abhang. Spiralische Figur der laminaren Strömung. Meteorischer Zyklon im Raum des Himmels. Unregelmäßige Bewegung auf der stabilen Chreode.[1]

 

Raue See auf sanftem Meeresgrund. Die Ataraxie ist die materielle Basis des Seins, der ständige Aufruhr, von dem sich die fliegenden Wörter, die Geburten und der Tod absetzen. Epikur und Lukrez haben, lange vor Spinoza, Sisyphos aus der Unterwelt befreit. Indem sie ihn der Natur zurückgegeben haben, haben sie ihn als glücklich imaginiert. Ich akzeptiere es, mich im brennenden Plasma der Materie aufzulösen. Und der Rest ist Agitation. Das ewige Schweigen jener unendlichen Räume beruhigt mich.

 

Archimedes: Lemma des Salinon.

 

 

Ein stabiler Ring, der den Trubel einfaßt. Lokale Figur der Ataraxie. Der gezeichnete Kreis stellt die Wasser nicht still, sondern er transformiert ihre Instabilität zu einem Gesetz. Sanftes Theorem. Die Ataraxie verallgemeinert das Salinon: sie zieht ihre Höhlung auf der Höhe des Kliffs durch.

 

Die Moral, das ist die Physik. Die genaue Kenntnis der natürlichen Dinge. Daher ist es nicht ganz unerwartet, daß mitten in der Abhandlung über die Atome ein Traktat über die Seele dazwischen kommt. Deren Reduzierung aufs Objektive ist ein Kernstück des Systems. Die Seele ist sterblich, ebenso wie dieses oder jenes Ding, wie diese oder jene Welt. Allerdings: sie erkennt – das ist der Punkt. Und diese Ausnahmestellung muß reduziert werden. Daher das Buch über die Wahrnehmung und über die Simulakren. Typen, Repliken, die den Festkörpern nachgebildet sind – Schalen, Schuppen, Hülsen, Häutchen, Ultrastrukturen. Die Theorie des Erkennens ist mit der Theorie des Seins isomorph. Das ist aufzuzeigen.

 

Zunächst aber ist es natürlich, Venus zu huldigen. Der Text über die Wahrnehmung vollendet sich mit der Empfängnis im genetischen, generischen, genesischen Sinn. Genese des Wissens und Genesis der Körper. Anders gesagt: wie lieben? Wie lieben, damit die Befruchtung optimal sei?

 

Wie bei den Vierfüßlern: die Keime des Samenflusses gelangen auf diese Weise und mühelos zu ihrem Ziel – dank der Senkung der Brüste und der Erhebung der Lenden. Wiederum der richtige Neigungswinkel, die Landung der Genese, der optimale Lauf des Flusses. Nichts fehlt, was dazugehört: Abstand, Neigung, Flüssigkeit, Maximalisierung, Genesis. Wir werden ebenso geboren wie die Dinge: in der Spirale der Wollust. Das Eindringen der Besamung fließt mit dem weiblichen clinamen ab. Männliches regnet auf die weibliche declinatio.

 

Lukrez insistiert und reduziert weiter. Am Ende des Buches läutert er den venerischen Prunk. Er kommt auf die Wassertropfen zurück, welche in die Tiefen der Leere regnen. Er läßt sie auf die Steine herabfallen. Die Flut umgeht zwar diese Sperre, die sich dem Wasser unüberwindlich entgegenstellt. Aber zuletzt setzt sie sich über sie hinweg. Sie durchbricht den Felsen und findet die abschüssigste Bahn. Und das Buch endet da.

Und es fängt an die Lust, sich den jungfräulichen Quellen anzunähern, und darin zu baden. Die Lust, Kränze zu flechten. Die Lust des süßen Honigs um den Becher. Die Lust der Verse. Die Konstanten sind immer die gleichen und sie durchqueren das gesamte System der Metaphern, der sexuellen und wie immer man sie nehmen mag. Invarianz in der Variation der Verkehre. Verkehre und Verlustierungen.

 

Und die Theorie macht weiter: die Elemente flattern im Raum; die Simulakren oder Membranen schwirren da und dort, ultroque citroque, herinnen und draußen, hinauf und hinunter; auch die Gespenster scheinen herumzugeistern – dank unseren höllischen Ängsten. Es gilt, diese Flüge auf einander zurückzuführen, die Geister auf die Simulacren und diese auf die Atome. Es gilt, dieses Bewegungsspiel zu beschreiben.

Es ist eine Flut, die von den Dingen ausgeht. Von den Dingen, wenn sie extremistisch betrachtet werden: summo de corpore heißt es acht mal innerhalb von vierzig Versen. Die Oberfläche ist ein Gipfel, eine oberste Seite. Eben habe ich von einer „Ultrastruktur“ gesprochen. Das Simulakrum löst sich als eine optimale Form vom Volumen des Objekts ab: als eine Über-Form. Diese Betrachtungsweise, die aus jedem Objekt einen Sender macht, scheint naiv, tatsächlich beruht sie auf einem subtilen Kalkül, da sie dem Prinzip des geringsten Aufwands folgt. Das Innere des Objekts, sein Grund, sein intimes Geheimnis, verfügt über eine Höhe, von der aus es agiert: ex alto. Von da aus flutet es herab, verbreitet sich bis an seine Ränder, arbeitet sich durch unwegsames Gelände; es wird abgelenkt, umgeleitet, verunstaltet. Der Körper, hohl oder massiv, ist ein Netz aus Adern, dessen Geriesel ständig blockiert ist. Er zerteilt sich, zerstreut sich, diffundiert sich, disseminiert sich. Brennendes Holz oder qualmender Rauch. Diese Umwege und Holzwege im Gewebe der Stoffe: das sind die Wege der fragilen Seele: zerbrochen fließt sie durch die Mäander und Mündungen der Körperkanäle in Richtung Tod. Sie umgeht Hindernisse, zerfleddert sich, um sie zu überwinden. Diese Ausflüsse führen zu vielfach verzweigten Mündungen, sie enden bei den selben Poren, bei denselben Toren – egal welcher Sperren. Als würde es sich um ein Prinzip des größten Aufwandes oder des schwierigsten Weges handeln. Um die größte Wirrnis eines Deltas. An seinen Rändern ist das Objekt nur noch eine Garbe von Chreoden . . ..

Wir merken sehr wenig von den Eingeweiden, hauptsächlich nehmen wir Peripherie wahr. Diese hat die beste Lage. Das Ding ist ein schwarzes Loch, ein Hohlraum durchquert von hohen Mauern. . .“ (50ff.)

 

Diese letzte Bemerkung verdient nun wirklich eine qualifizierte Bestätigung durch den Protokollanten, der sich ja hauptsächlich als philosophischer Physiker versteht, womit er wiederum eine engere Kollegialität mit Lukrez aufrecht erhält. Dessen eben zitierter Satz zur Topologie der Dingwahrnehmung wird von mir in der Physik des Daseins dahingehend verständlich gemacht, daß die meisten Körper, jedenfalls Festkörper, ihre gute Sichtbarkeit dem Umstand verdanken, daß sie undurchsichtig oder opak sind und daher nur ihre äußere, ihre äußerste „Hülse“ sich dem Auge darbietet, wobei diese jedoch das Innere des Körpers zur Gänze verhüllt, womit grob gesprochen mindestens 99% des Körpers unsichtbar bleiben (übrigens bleiben auch ungefähr 50% der Hülse dem Sehen entzogen, was man durch Umdrehen des Körpers oder durch äußeres um ihn herumgehen (etwa bei Gebäuden) nicht aufheben wohl aber „umständlich“ variieren kann).

 

Dieser Sachverhalt, der etwa beim Lesen eines Buches den totalen „Durchblick“ durch alle 100 oder 500 Seiten unmöglich und das Lesen zu einer langwierigen Abfolge von Umblättern oder auch Zurückblättern macht und damit eine spezielle Variante von Sensomotorik erzwingt, wird also auch von Lukrez bemerkt, ohne daß sein – natürlich spekulativer – Atomismus direkt damit zusammenhängt. 

 

Aber sein Atomismus ist nicht nur spekulativ, er wird immer wieder an die sinnliche Wahrnehmung, an die mesoskopische, angenähert, etwa wenn die Buchstaben eines Textes als „Atome“ bezeichnet sind.

Oder sogar die Wörter des Textes als gewissermaßen eigenständige Bedeutungsträger, Bedeutungsverstärker um nicht zu sagen Bedeutungsmittel oder -pharmaka, die durch Anhäufung, Wiederholung, rhythmische Anordnung wirken, vergleichbar mit Blumengeflechten, -kränzen, -gärten. Oder aber und erst recht mit komplexen Wassertropfenarrangements von versteckten oder prunkvollen Spritzbrunnen, die mit Aphrodite- oder anderen Götterstatuen tituliert werden, wobei einer Göttin kein Abbruch getan wird, wenn ihr nicht ein sturer Mono…ismus nur einen einzigen Namen, einen allerheiligsten, vorbehält, sondern wenn ihr zum griechischen Namen auch noch der lateinische, einmal der und einmal der, zugesprochen wird, wenns sein müßte, würde es auch noch ein anderssprachiger sein dürfen, zum Beispiel derjenige der Frau im Meer, die in einer der letzten Fußnoten nur abgebildet aber nicht benannt ist. (In irgendeiner viel früheren ist sie schon genannt worden).[2]

Ich muß noch einmal auf das zurückkommen, was am 10. August protokolliert und mit dem amerikanischen Aphrodite-Foto illustriert worden ist und jetzt mit der schönen Zeichnung des Salinon kanonisiert wird: das Schwanken der Schlagwelle ist die Grundform des Daseins und das leibnizsche Grundprinzip ist dasjenige, was der von ihm formulierten ontologischen Grundfrage vorausliegt: „daß nämlich eher etwas existiert – als nichts“ (30).

 

Existieren ist ein „eher“ (32) – ein Versuch, ein anfängerischer, inchoativer, bescheidener, zitternder, ein wagendes, vorsichtiges, mutwilliges Sich-Absetzen von der Ruhe, von der Sicherheit, von der Einfachheit, vom Leichteren, Bequemeren, ein Aufbruch, ein Abbruch, ein Abstand. Ein Brechen mit dem „ein und alles“ – das in der Philosophiegeschichte immer wieder als Allheilmittel oder soll ich sagen als Endlösung ? angeboten worden ist, von den denkenden Philosophen als allzu einfache Formel befunden worden ist, da sie als Aussage genommen einfach nicht stimmt.

 

Und dieses Zittrige haben laut Michel Serres Archimedes und Lucrez „physikalisch“ beobachtet, formuliert, gesucht und versucht, sie haben versucht, es zu sehen und zu sagen, zu zeichnen und zu konstruieren, mit Sandkörnern und Steuerrudern.

 

Dabei bedeutet „existieren“ etwas Positives. Keineswegs kokettiert es mit dem Negativen, gar mit irgendeinem Nichts, weder mit einem europäischen noch mit einem asiatischen, auch nicht mit einem südlichen, etwa einem global-südlichen, das neuerdings so gefragt ist.

 

Das Existieren ist von Archimedes in einer Wissenschaft gesucht und gefunden worden, die „Statik“ genannt wird, und die selber die Gattungsbezeichnung episteme trägt, was selber ganz und gar auf Festigkeit, Feststellung, Verstehen und Verstand deutet. So sehr, daß Serres die Behauptung wagt, Archimedes habe das leibnizsche Prinzip des zureichenden Grundes angebahnt, auf dem – angeblich – alles „steht“ (siehe 32)

 

Die Leere und die Atome sind unsterblich. Es existiert aber noch eine dritte Ewigkeit: diejenige der Bewegung, welche die Körperchen im Raum transportiert. Es handelt sich um eine ständige Bewegung, die durch nichts hervorgebracht wird und die nichts hervorbringt. Die Bewegung ist ewig weil stabil. Der Fluß befindet sich nicht im Ruhezustand, aber er bleibt stabil. Nichts erschafft ihn, er wird durch nichts erschaffen. Das Fluten der Atome ist ewig – insofern statisch.

 

Erst Leibniz führt da eine Beschleunigung ein – die Dynamik taucht auf. Sie ist zwar ein Fremdkörper innerhalb der Statik – aber sie taucht gleichzeitig mit den Dingen der Welt auf.

 

Was die Dinge produziert, das ist ein Beweger, ein Motor, ein Bewegungsproduzent, von dem weder Lukrez noch Leibniz wissen, wie er hervorgebracht wird. Und es wird noch einige Jahrhunderte brauchen, bis man einen Motor herstellen wird können.

Wie läßt der Regress zur Frage nach der Produktion des Produzenten vermeiden? Nach der Produktion der Kräfte? Nach einem ersten transzendenten Motor – außerhalb der Welt und der Natur?

 

Aristoteles hat dieses Problem nicht umgehen können – und sein erster Beweger ist unbeweglich.

 

Sein Imperativ lautet: 

 

αναγκη σθηναι  - da muß man stehen bleiben

 

oder

 

Das Gesetz ist die Statik.

 

Und das Wort episteme für „Wissenschaft“ besagt seinerseits: Feststellung, Verstand.

 

Die Atome stoßen aufeinander, reiben einander, bremsen einander, lenken einander ab.

 

Daher gibt es keine Zeit – außer derjenigen der Objekte. Die Zeit der Geschichte ist nur ein Zwischenakt.

 

Alle Dinge sind Sender, unsere Sinne unablässige Rezeptoren.

 

Die Wahrnehmung ist ein Zusammenstoß, ein Schock oder ein Unfall. Eine Überschneidung von Verkehren.

 

Das wahrnehmende Subjekt ist ein Objekt der Welt, eingetaucht in objektive Fließbewegungen. Rezeptor an seiner Stelle, Sender in alle Richtungen. Die Seele ist ein materieller Körper, der Körper ein Ding, das Subjekt nur Objekt.

 

Die Physiologie oder Psychologie – ist nur eine Physik. Die Sinne sind folglich getreu. Sie können nur lügen, wenn ein Ding ein anderes verraten könnte.

Der Naturpakt verbindet die Dinge miteinander. Dadurch ist das Phänomen gut begründet. Der Atomist, Freund der Venus, empfindet nicht den Hass eines Subjektes oder die Verabscheuung des Körpers, die ihn fremd macht. Das sind Laster des Mars und der martialischen Philosophen. Die Sinne sind ebenso treu wie alle anderen Rezeptoren. Sie stehen unter Vertrag mit Venus – wie alle anderen Objekte miteinander. Dieser Naturpakt ist ein Äquivalent der Harmonie und funktioniert wie sie. Etabliert von der immanenten Venus. Das Fließgleichgewicht ist in sich stabil. (Siehe 60ff.)

 


Walter Seitter


[1] Chreode ist ein neuerer Neologismus, angelehnt an Methode, welche die Frage nach dem richtigen Weg auf die Metaebene hebt, während die Chreode, wörtlich „notwendiger Weg“, sie suggestiv beantwortet. Der Begriff geht auf den englischen Entwicklungsbiologen Conrad Hal Waddington (1905-1975) zurück und meint so etwas wie „epigenetische Assimilation“, die sich in der Ontogenese durchsetzt.

[2] Meine Andeutung von einem Spritzbrunnengarten ist inspiriert durch Hellbrunn bei Salzburg, dem jüngst ein Prachtband aus Bildern und Texten gewidmet worden ist: Christopher Kreutchen: Hellbrunn. Bewegt im Antlitz der Götter (Berlin 2022)

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