τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 11. August 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez II

 10. August 2022

 

Als Vorwort für das heutige Protokoll die Erwähnung eines neulich vorgefallenen Ereignisses, das anscheinend bzw. beckmesserisch betrachtet mit dem hier Protokollierten nichts zu tun hat. Tatsächlich aber doch einiges.

 

Meine persönliche intensive Beschäftigung mit antiker Philosophie datiert erst seit dem Jahr 2007. Neulich überreichte mir Brigitte Borchhardt-Birbaumer, die ich seit gut zehn Jahren, nämlich seit der Nacht-Ausstellung im Unteren Belvedere, kenne, ein Hauptwerk ihres verstorbenen Ehemannes, des Archäologen Jürgen Borchhardt (1936-2021) mit dem ziemlich homerischen Titel Der Zorn des Poseidon und die Irrfahrten des Odysseus (Wien 2015). Es handelt sich um eine wissenschaftshistorisch gebündelte sowie poetisch erweiterte Autobiographie, die fast ein ganzes Forscherleben mit Berichten und Bildern, mit Fragen und Antworten punktiert. Die antike griechische Kultur bildet das Hauptthema und sie wird weniger mit ihren historischen Fixierungen illustriert als vielmehr in ihren geographischen Bewegungen und Weiterungen neu formatiert. Wenn eine Vergleichung mit dem hiesigen Leseunternehmen möglich ist, dann die, daß wir die Aristoteles-Lektüre mit dem Hermann von Kärnten historisch und geographisch schon sehr zerdehnen, mit Serres und Lukrez aber noch weiter zerreißen und kontrastieren und „asokratisch“ neu beleuchten.

 

Mit Serres und Lukrez gewinnen wir einen gewissen Abstand von der philosophischen Zentrierung auf Athen, die der andere mit uns zeitgenössische Homer-Fahrer, Friedrich Kittler (1943-2011) sehr skeptisch betrachtet hat.

 

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„Wir existieren, wir sprechen, wir arbeiten, mit unserem Verstand, mit unserer Wissenschaft, mit unseren Händen – nur im Abstand, dank dem Abstand vom Gleichgewicht. Alles ist Abstand gegenüber der Homöostase – alles außer dem Nichts, außer der Identität …

Und da ist er wieder der Ort des ersten Atomismus. Die Natur läuft unaufhörlich im Fluß ihrer schweren Elemente auf ein Gleichgewicht zu. Der Waagebalken hat keinen Fixpunkt. Da oder dort, irgendwann oder morgen tauchen stochastisch die Abstände auf. Oder die differenziellen Neigungswinkel. Da ist es: eher etwas als nichts, da die Existenz, da die Turbulenzen, die Spiralen, die Voluten, die Figuren außer der Homöostase. Sie werden auf Null gebracht werden durch den Verfall, durch die Ruinen, durch den Tod. Aber temporär formieren sie sich. Wenn sie existieren, dann als Abstände gegenüber der Homöostase, und wenn sie sich formieren, dann durch das Abstandsdifferenzial, das inchoative. Nun sind die Atome auch Buchstaben, sie fügen sich zusammen zu Sätzen, sie bauen sich zusammen zu Büchern. Wenn ich sprechen kann, verdanke ich es wiederum diesem Abstand, mit dem das Volumen anhebt. Archimedes führt in unser Vernunftprinzip die Strenge ein, welche im Existieren liegt. Epikur und Lukrez bringen es auf die Welt, führen es in die Natur ein.

Und das ist heute der neue Ort unserer Wissenschaft. Wir haben gelernt, daß die Wiederholung redundiert, wir fangen an, zu fürchten, daß die Allsätze informationslos sind. Das Wissen ist an Knappheit gebunden. Alles, was existiert – Sand, Kiesel, Stier, Wolke, Galaxie, steht dem Unwahrscheinlichen näher als dem Gleichgewicht. Das entfernt uns – von einem Kap zum anderen[1]- vom alten Wissen, für das bekanntlich das Nicht-Existente das Gewisse ist. All das existiert immerhin. All das hat sich gegen die alten Gesetze formiert, wenn es dank ihnen stirbt. Die seinerzeitige Wissenschaft ist eine des Todes. Eine des Mars.

 

Es ist entstanden, es existiert, im Sinn des alten Vernunftprinzips, ‚eher als das redundante Nichts‘, es existiert abständig gegenüber jedweder Homöostase. Wir sind heute Archimedeaner, was die Formen und die Stabilitäten betrifft. Wir sind Epikureer für die Winkel und die Wirbel. Und dank Aphrodite. Alles ist, alles wird gedacht, gesprochen oder gearbeitet, im Abstand vom Gleichgewicht. Da kommt sie wieder die Natur der Dinge : rerum natura. Und der große Pan ist wiedergeboren.

 

Aphrodite taucht aus den Wassern auf.[2] Pardon, sie ist ein flottierender Körper . . .“ (32f.)

 

So fängt die Hydrostatik an: man werfe einen Körper in ein Fluid – wird er geneigt bleiben, wird er sich gerade aufrichten? Es geht immer um denselben Winkel, um denselben Abstand, um dieselbe Neigung. In dem Buch Von den schwimmenden Körpern, wo Archimedes definiert, der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium sei genau so groß wie die Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums, wird die Hydrostatik als ein eigener Bereich der Physik begründet, in dem die alte Lehre von den vier Elementen mit neuen Beobachtungen verbunden wird.

In der Theorie des Schlingerns und des Stampfens eines Schiffs bilden kugelförmige und kegelförmige Körper die Modelle für Turbinationen. Die Statik der schwimmenden Körper besteht darin, einen immer wieder auftauchenden Winkel auszulöschen. Er zittert ständig um den Nullpunkt herum. Unruhe aufgrund starken Seeganges, starker Windstöße. Die Protodynamik des Lukrez besteht in der Frage: was passiert tatsächlich, wenn dieser Winkel auftaucht oder anhält? Die Antwort lautet: alles. Das heißt: die Natur, die Geburt der Dinge. Und das Auftauchen der Sprache.

 

Die Theorie der Homöostase im fluiden Medium verlangt neuerlich nach einem Abstand. Er stellt sich ein, er verschwindet, er kommt wieder – je nach den Zufällen der Turbulenzen, der Zeiten und der wechselnden Orte. er zeigt die Turbulenz an, er ist ihr Inchoativ. Die Fregatte der Venus ist metastabil auf den Wassern.

Nichts fehlt mehr für die Mathematisierung des Modells – die dafür zuständigen Disziplnen konvergieren in eine globale Theorie der Abstände, in ein Vernunftprinzip, das Prinzip der Neigung des Existierenden und des Entstehenden. Der Weg von den reinen Wissenschaften zu den angewandten Wissenschaften und von denen zur Technologie steht offen.

 

Das Unglück oder vielmehr die Kultur, die Geschichte haben gewollt, daß die Durchführung innerhalb der Mauern von Syrakus, vor den römischen Kolonnen, zu geschehen hat. Auf dem Marsfeld. Die höchste und tiefste der antiken Wissenschaften, die der Natur wie auch den menschlichen Aktivitäten am besten angemessen war, vor der martialischen Gewalt zerbarst. Athen wird in Syrakus gestoppt.

 

Wie läßt sich nunmehr das Wissen des Archimedes vor den Imperien des Mars retten? Darin liegt das Problem des Lukrez, darin seine Verzweiflung. Die Aphrodite-Natur vor den Klauen des Krieges retten, ein Venus-Wissen stiften. Archimedes‘ Werk bewahren, den Vertrag wechseln, das foedus.

 

Atom-Körner im unendlich Leeren, minimaler oder differenzialer Winkel im technischen Wirbel – das beginnt bei Demokrit, Archimedes vollendet, krönt das Gebäude. Es gibt also eine mathematische Physik, eine weltnahe und demonstrierte, bei den Griechen, die sie angeblich nicht hatten. Zeugnisse  davon im Überfluß in De rerum natura. Aber Lukrez, ich wiederhole, hat verzweifelt gesucht, wie auch wir dringend tun sollten, eine Vertragsänderung herbeizuführen. (Siehe 33ff.)

Beiläufig werden Götternamen eingestreut, andererseits werden politische Implikationen oder Alternativen der Physik angedeutet, die nach Serres im 20. Jahrhundert nach Christus akuter sind als je zuvor und wahrscheinlich im 21. Jahrhundert es noch immer sind. Dahin gehen jedenfalls Andeutungen in seinem letzten Buch: Das Verbindende. Ein Essay über Religion (Berlin 2021)

 

Walter Seitter

 

 


[1] Michel Serres hat die Kaps, die den Seefahrer ein ums andere Mal von irgendwo entfernen, vielleicht wirklich stärker erlebt als ich, der ehemalige Strandläufer, dem sich immerhin das Kap Malea eingeprägt hat (dank Stella Chrysochoou), welches mich für immer von Kythera fernhält (nur Antikythera habe ich von Kreta aus erblickt))

[2] (Fußnote W. S.)

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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