τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 19. August 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez III

 17. August 2022

 

 

Der österreichische Jurist und Politiker Manfred Welan pflegt mit dem Spruch „Abstand ist Anstand“, den er Ingeborg Bachmann zuschreibt, einen Hauptbegriff von Serres zu Lukrez von der Physik auf die Ebene der Ethik zu hieven.

 

Wie seinerzeit Francis Ponge – und zwar in seinem Tisch-Buch - betont hat, hat man mit Lukrez es mehr mit Physik als mit Metaphysik zu tun, weshalb diese Lektüre von visuellen Erscheinungen und womöglich auch selbstgemachten, also Graphiken, Zeichnungen, Bildern und Figuren stärker begleitet werden können sollte.

Ponge sagt aber auch, daß mit dem Ethos des Physikers ein ganz anderer Wissensbereich, nämlich die Ethik (die zweifelsfrei erst von Aristoteles formell begründet worden ist) distant korrespondiert.

 

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Serres betont, daß sich die Wissenschaft bereits mit Archimedes auf die Bahn begibt, welche sie von Aristoteles entfernt – eine Bahn gekennzeichnet durch schräge Ebenen, Statik, Hydraulik, Differentialrechnung.

In seiner Sandrechnung hat Archimedes ein System zur Aufschreibung großer Zahlen erfunden, um eine Obergrenze für die Anzahl der Sandkörner schätzen zu können. Dazu verwendete er das heliozentrische Modell des Aristarchos von Samos (310-230), der aus der Schule des Aristoteles hervorgegangen war und die Bewegung der Erde um die Sonne (und die Fixsterne) angenommen hat. Beobachtung wie auch Berechnung stoßen damit zumindest annähernd - in die Extreme sowohl der Mikro- wie auch der Makrophysik vor, ohne daß im Universum Gebiete mit unterschiedlichen Bedingungen angenommen werden müßten.[1]

 

Für Michel Serres sieht es so aus, daß die Erfindung der modernen angewandten Wissenschaften in der Renaissance tatsächlich eine Art Wiedergeburt gewesen ist – eine Wiedergeburt der Welt des Archimedes, die sich bereits in Absetzung von Aristoteles befand. Denn in der Sandrechnung wird der Heliozentrismus des Aristarchos vorausgesetzt. Dazu kommt das Modell der Epikureer mit den Wirbeln und Fluiden, ein Gleichgewicht aus Flüssigkeiten und Meteoren. Es stimmt zwar, daß Leonardo, Galilei und alle bis Descartes die Brücken zur mittelalterlichen Scholastik abgebrochen haben – doch Epikur und Archimedes stehen schon längst für ein nicht-aristotelisches Universum.

 

Die neuzeitliche Physik und Mechanik entstehen in der Renaissance nicht mit einem Schlag aus dem Nichts der zeitgenössischen Probleme – nein sie werden da „wiedergeboren“. Und es dauert einige Zeit, bis die Feinheiten der archimedischen Berechnungen wieder erreicht werden, die von Pascal und Leibniz sehr wohl anerkannt worden sind.

Erst durch Kant ist diese Perspektivierung umgedreht worden und die französischen Wissenschaftshistoriker des 19. Jahrhunderts haben die Umdrehung dann vollends für sakrosankt erklärt, um die pädagogische Autorität der Kirche endgültig außer Kraft zu setzen. Von einer Religion zu einer anderen.

 

Die Physik sucht zu erklären, wie sich die Dinge und die Welt natürlicherweise aus dem Chaos der Atome bilden, wie eine Ordnung, wie mehrere Ordnungen aus der Unordnung emergieren. Den Übergang gewährleistet die Turbulenz.

Die Begriffe, mit denen Lukrez sie beschreibt, gehören zwei Bereichen an: der Topologie und der Mechanik. Intervalle, Wege, Verbindungen einerseits, Gewichte, Bewegungen, Stöße andererseits. (Siehe 36ff.)

 

Wörter mit dem Präfix dis wie Division, Disjunktion, Dissemination bezeichnen im Lehrgedicht des Lukrez den Abfluß und den Niedergang in Richtung zur Unordnung. Alles löst sich in Staub auf und nichts bleibt bestehen - mit Ausnahme des Atoms und des Leeren.

 

Doch über Wasser, Luft, Erde und Feuer führt die Distribution zur Ordnung der Welt. Interessant ist das Wort discludere – auseinander zusammenschließen. Dieses Begrenzen schneidet nicht ab, sondern umgibt einen Bereich mit einer Grenze zum Nachbarn.

 

Gewicht und Komplexität sind Motoren der Trennung. Der Äther trennt sich von der Luft, weil er leichter ist. Distanz zwischen der turba und dem turbo. Die erste ist eine Menge, eine Konfusion, ein Tumult.[2] Im Griechischen hat sie auch die wilden Tänze der Bakchen bezeichnet. Der turbo hingegen steht für den Kreisel, dessen Drehbewegung nicht mehr als Unordnung gelten kann – egal ob es sich um einen Wasser- oder Windwirbel handelt. Der Kreisel kann sich auch lateral verschieben und er kann sich bis zu einem gewissen Grad neigen, ohne seine mobile Stabilität zu gefährden.

 

Der Kreisel, den Platon in seinem Staat als Menschenmodell vor Augen geführt hat, kann als „Zirkumstanz“, ja als Zirkustanz, als Umstand oder Herumstand oder Herumtanz gesehen werden – und deswegen das Menschenwesen in seiner Komplexität veranschaulichen. (Siehe 38ff.)

 

Lukrez beschreibt zwei Chaosse – schreibe ich trotz dem von den Sprachwächtern ausgegebenen Pluralverbot für dieses Wort.[3]

 

Das Wasserfall-Chaos mit dem fasrig-parallelen Sturz einer Masse. Und das Wolken-Chaos mit ungeordnet-brownschen Fluktuationen aus Unähnlichkeiten und Gegensätzlichkeiten. Der Wirbel taucht mit der declinatio auf dem Grund des ersten Chaos auf und wiederum taucht er auf auf dem Grund des zweiten. Folglich ist er die Vor-Ordnung der Dinge: ihre Natur im Sinne von Geburtlichkeit. Stabilitäten gibt es nur in einem Universum, wo alles instabil fließt. Ordnung und Unordnung sind zwei Seiten einer Welt – schon die beiden ersten Buchstaben des harmlosen Wörtchens „und“ führen in jede Ordnung, die kein Terror ist, ein un ein - so schreibe und lese ich auch im Deutschen die Geburt der Dinge, welche auch in der Sprache stattfindet, wie Lukrez und Serres zeigen. Wenn ich nicht selber auch schreiben würde, gäbe es die beiden eben genannten Autoren hier auf dem Hohen Markt gar nicht (und es gäbe sie nicht, wäre ich nicht vor Jahrzehnten in Paris gewesen, wäre nicht das Übersetzen von Michel Foucaults lyrischer Geburt der Klinik mein erstes Schreiberlebnis gewesen, das ich so viel später und so sehr anders fortsetze.) Es schreiben hier nämlich Lukrez und Serres und Seitter. Und jeder von denen hat seine Vorwellen- und seine Nachwellenschläge nicht nur von und bei den beiden anderen. (Siehe 40ff.)

 

„Die Welt, die Gegenstände, die Körper, meine Seele - sie alle sind, im Augenblick ihrer Geburt, schon in der declinatio, in ihrem Niedergang. Das heißt, sie sind bereits sterblich und dem Zerfall anheim gegeben. Das will aber auch sagen, daß sie sich konstituieren und sich formieren. Die Natur ist der Fall  - und das ist ihr Geburtsakt. Und ihre Stabilität. Die Atome treffen auf einander, ihr Zusammentreffen macht ihre Kraft aus – dank dem Fall. Und das bedeutet die Gesamtheit der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Morgenröte des Erscheinens und Tod, hartnäckige Illusionen – sind nur Fälle der Materie. Sie deklinieren und sie deklinieren sich wie die Zeiten eines Verbums – nur eine Zusammensetzung von Buchstaben-Atomen.

 

Die Welt, die Gegenstände, die Körper, meine Seele, sind von ihrer Geburt an auf der Abdrift. Auf der Abdrift, auf der Landebahn. Das heißt, wie üblich zersetzen sie sich und sterben. Das Lehrgedicht Von der Natur der Dinge verweist ständig auf die Sterblichkeit. Ihre Geburt ist ein Fall. Ihre Stabilität, ihre Konsistenz, hängen vom Fließgleichgewicht ab.

 

Die Abdrift ist die ganze Zeit: Morgenröte des Erscheinens, endlich beschränktes Leben, Zersetzung, Explodieren vieler Zeitlichkeiten im unendlichen Raum. Alles verkommt, auch wenn etwas ankommt: Uratome, Tischtuch. Alles leitet sich von elementaren Wurzeln ab: so die Wörter, diese variablen Zusammensetzungen von Buchstaben-Atomen.

 

Sieh da der Ursprung des Sinns. Transversaler Blitz, der auf den Boden, dieses Hintergrundgeräusch, niederfährt. Der Sinn ist nichts anderes als sein Abhang, der Sinn des Abhangs. Immer noch eine Abdrift.

Die Existenz, die Zeit, der Sinn und die Sprache kommen gemeinsam den geneigten Weg hinunter.

 

Langsam, Stufe um Stufe, fällt das Lehrgedicht hinunter, zur Pest von Athen. Durchkreuzt von Blitzen, welche die Sonne zerstäubt. Schräge Schraffuren, die, Schritt für Schritt, eine neue Neigung diktieren. Es läßt die Rhythmik seiner Verse, seiner zirkulären, seine Wirbel aus Wörtern, einen von Katastrophen unterbrochenen Talweg hinunterrollen. Der Text fällt ab, er driftet ab wie die Welt. Er folgt dem Gesetz der abschüssigsten Neigung. Dem Schöpfungsgesetz, sagte man einst.

 

Dieses exakte Modell wird von einem Dutzend Geschichtchen zerredet. Sie raunen vom Pessimismus des Lukrez. Ein platter Euhemerismus tritt an die Stelle der Intention der Dinge.[4] Als hätten die Epikureer nicht deutlich genug erklärt, daß das Gesetz des Blitzes im Blitz liegt – und nicht in der Subjektivität des Jupiter. Das Gesetz des Textes liegt im Text und nicht in der Asche der Toten. Leichenfledderei.

 

Schon in der Antike hielt man Lukrez für einen Wahnsinnigen. Damals war das eine Qualifizierung, manchmal von Intuitionen durchzuckt, die man auf Heilige, auf Genies, auf Narren bezog. Eine Romantik schon bei Plutarch. Komisch aber grandios, wie im Zirkus. Immerhin passend in einer Welt, in der der Blitz durch die Wolke schlägt.

 

Wir haben das auf Mittelmäßigkeit heruntergebracht. Wie traurig und wie mutig ist er – der Dichter! Wie er weint - angesichts des Todes und der Dekadenz, angesichts der Zeit, die davoneilt, und der Dinge, die sich verschlimmern. Es stimmt, die Zeiten waren hart. Es passierten schreckliche Dinge, in Rom. Daher die Krankheit: Lukrez war angstgeplagt, melancholisch, depressiv. Und da er in Epikur einen Meister hatte, war er auf der Suche nach einer Originalität, die ihn von dem großen Schatten absetzen konnte. Wie mußte er leiden!

 

So ist er in einen kleinen neurotischen und narzisstischen Professor verwandelt worden und wir verlieren unsere Zeit.“ (45ff.)

 

 

Walter Seitter

 




[1] Da ich die quasi endlosen Sandstrände von Sylt und Fuerteventura über Jahrzehnte hinweg bei jeder Witterung, in jeder Nähe oder Ferne zum oder vom Wasser, mit jedweder Sorte von Aktivität und Passivität mir erschlossen und genossen, auch erlitten habe, im Mikro- wie im Makroformat erlebt, auch in mein Beschreiben der Erde einfließen besser gesagt einfliegen habe lassen, kann ich die Sandrechnung des Archimedes nachvollziehen. Siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 97-124, sowie Bleibende Steinzeit, in: Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42 – Bleibende Steinzeit (Wien 2018).

 

Schöne Bilder von schönen Sandstränden bewegen mich noch immer (auch wenn sie unbewegt erscheinen).

 

[2] Da das Protokoll von einem Protokollanten geschrieben wird, fügt dieser hier ein, daß er in den späten Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu den Gründern von Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft gehört hat, die bis zum Jahr 2018 existiert haben. Seither haben sie ihren Namen verloren fristen ein namenloses Dasein.

[3] Seit ich im Studienjahr 1969-70 dank einem Paris-Stipendium des österreichischen Unterrichtsministeriums angefangen habe, mich in die französische Sprache hineinzuarbeiten, sind mir manche Eigentümlichkekiten der deutschen Sprache immer auffälliger geworden, so das Pluralverbot für viele Wörter, deren französische Pendants mit größter Selbstverständlichkeit und Deutlichkeit pluralisiert werden. Hängt dem Deutschen da irgendein heimlicher „Mono…ismus“ nach?

[4] „Euhemerismus“ steht für die auf die Antike zurückgehende Auffassung, daß die den Göttern oder der Natur zugeschriebenen Mächte durchgängig auf hervorragende Menschen zurückgehen. (Anmerkung W. S. ) 

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