τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 1. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XVI

Mittwoch, 27. September 2023

 

 

Ein kleiner Ausflug zu den Wassern und in Richtung Mythologie.

Was fasziniert uns am fließenden Wasser und was am toten?

 

 



Toter Grund auf der Donauinsel (Wien)

Das  fließende  fällt nach unten und zum Tod.

Die runden Turbulenztaschen hingegen halten den Abfluß auf und bilden Formen aus, die sich auflösen und wieder herstellen. Ein Wegfließen, aber auch eine gewisse Konstanz in der Gesamtform und in kleinen Nischen.

Dieses Gegeneinander ist das Leben selber.

Narziss unterlag einer Faszination, da er sich selber sah. In einem glatten und ruhigen Wasser, das nicht hin und her schwappte, sondern eines war und störungsfrei dahin eilte. Wasserspiegel, masturbatio morosa des Subjekts, Wiederholung und Tod. Narziss ist in seiner Reproduktion untergegangen, in seinem Double und seinem Mimen – als sein Gesicht sein Gesicht-Bild getroffen hat.

Ertrinkung, Erstickung – in der Gleichung.

Wenn das Wasser wirbelt und das Gesicht und der Körper sich nicht mehr in der Spiegelung des Wassers wieder sehen können – dann erkennen sie sich im Wissen.

Aphrodite-Lust erhebt sich nährend, fruchtbar, lebendig aus dem Geschäum. Sie erhebt sich aus dem Schweigen und dem Lärm des Anfangs des Gedichtes, in der ersten Verflechtung des Buchstaben und des Rhythmus, in der Spirale der Wollust. Es ist kein Traum, auch kein Wahrtraum. Das Leben erkennt, wie es ist. Verwirrt, denn es ist Wirrnis. Nicht fasziniert, sondern wirr. Nicht: ich sehe mich, Narziss – denn ich sehe mich nicht mehr. Sondern: das Leben erkennt sich in einer Wendung von einem Element zum anderen. Erste Form der objektiven Erkenntnis: ich bin dieses Objekt, diese Form. Nicht indem man in den Geheimnisse des Ich herumwühlt, werden die Faszination und die Wirrnis geklärt, die ich vor den Wassern empfinde, denn das „ich“ in seiner Singularität ist ausgeschlossen. Und die Psychologie der Vermögen bei Kant und Bachelard verflüchtigt sich angesichts dieses zweiten Narziss-Mythos, der eine Erfahrung ist und ein Wissen. Der individuelle Reflex vergeht, die Optik verschwindet, während die Universalität meines Lebens die Modalität seiner Konstruktion unmittelbar erkennt.

Das Leben in mir, das Leben als lokaler und temporärer Widerstand gegen den Tod reflektiert sich von sich aus in den Turbulenzen des Wassers.

Narziss ist in der Widerspielung desselben ertrunken. Aphrodite erhebt sich in einer anderen Formation – Aphrodite-Vergnügen der anderen. (191f.)

(Diese Venus-Narziss-Vergleichung erinnert an die Venus-Mars-Gegenüberstellung weiter oben. Dort verkörperte sie den Gegenpol zum Krieg – es ging um die Polarität zwischen „zwei Physiken“, eine große erkenntnispolitische Polarität, eine makropolitische.

 

Hier steht die mythische Narziss-Figur für eine eher mikropolitische Verhaltenstendenz , die seit dem 20. Jahrhundert als „psychologische“, eigentlich eine „psychopathologische“ Verhaltensweise gilt, die eventuell psychotherapeutisch, näherhin psychoanalytisch zu behandeln d. h. aufzuheben ist.

Serres läßt diese quasi-medizinische Sichtweise beiseite. Er hält den „Narziss“ zwar für einen bedauerlichen „Fall“, da er in die Falle der Selbstversenkung gefallen sei. Die Gegenwendung, die mit dem Namen der Venus oder der Aphrodite bezeichnet wird – ein Name oder zwei Namen? – würde darin bestehen, daß er das spiegelglatte Selbstbild aufgibt, zerstört, was relativ leicht zu machen sein dürfte, und durch ein fließendes, sprudelndes, schäumendes Gewässer ersetzt, in dem er sich zwar nicht mehr so schön sieht, eigentlich sieht er sich gar nicht mehr darin, er müßte wohl, um etwas zu sehen, sich aufmachen und wohin gehen, wo etwa anderes zu sehen oder zu tun ist, oder wer anderer . . . .

Wo vielleicht Aphrodite zu sehen ist, von der Serres sagt, sie tauche in einer anderen Gegend auf, sie sei die Lust der anderen.

Oder er müßte selber Aphrodite werden?)

Ich muß jetzt wohl im Serres-Lukrez-Buch weitermachen.

Das heißt ich muß jetzt, ich bin auf Seite 195, den ersten großen Schritt zu einem neuen Kapitel machen.

Dieses neue Kapitel heißt: Historie.

Die vielen bisherigen Kapitel handelten alle von verschiedenen Ebenen der – Physik.

 

 

Walter Seitter

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