τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Montag, 23. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XX

Montag, 23. Oktober 2023

 

Die Historie braucht keine Metaphysik. Die Geschichte braucht keine Götter, keinen Gott, keinen Geist, keine erste oder letzte Instanz. Die Historie emergiert aus der Physik, ihre Form ist dieselbe. Von der Genese der Dinge zur Genealogie der Lebewesen und zur Zeit der menschlichen Gruppen ist der Formierungsprozess der gleiche, seine Dynamik ist eine stabile Konstante. Zwischen der Physik und der Naturgeschichte und der Historie ist eine Trennung nicht möglich.

 

Die inclinatio, die Instabilität ist ihr gemeinsamer Motor – ohne ersten Beweger. Serres nennt den Namen Aristoteles gar nicht, aber der Bezug, der abweichende ist offenkundig.

 

(Von dieser Stelle aus müßte es möglich sein, zwei große Physik-Unternehmungen der griechischen Antike gegeneinander zu vergleichen:

Die aristotelische, die mit den Schriften zur Zoologie anhebt, mit Werden und Vergehen und De anima und der Vorlesung zur Physik weitergeht und dann in der sogenannten Metaphysik irgendwie einen Abschluß findet – in einem Prozess, der sich vom 4. bis zum 1. Jahrhundert hinzieht und sich mehr durch Ungewißheiten der Textüberlieferung als durch namentlich gekennzeichnete Diskussionen oder Kommentierungen auszeichnet.

 

Die atomistische Physik, die mit Demokrit von Abdera (460-370) im 5. Jahrhundert einsetzt, mit Nausiphanes von Teos (4. Jahrhundert) weitergeht, mit Epikur (341-270) dann einen prominenten Protagonisten vorweisen kann, von dem lateinischen Dichter Lukrez (99-55) ins sozusagen modernere und westeuropäische Latein umgeschrieben wird, schließlich von Michel Serres ins noch besser lesbare Französisch.

 

Natürlich wäre es sinnvoll, in gewissem Sinn sogar notwendig, auch die stoische Physik, die sich ebenfalls in der nachklassischen Zeit ausgebildet und dann sehr stark durchgesetzt hat, in die Vergleichung einzubeziehen. Aber dazu fehlt es uns an personellen Ressourcen. 

 

Die aristotelischen Lehrschriften scheinen um die selbe Zeit erschienen zu sein, wie das Gedicht von Lukrez. Was eine Vergleichung nahelegen würde. Soll man den Lukrez eher mit der aristotelischen Physik konfrontieren oder mit der Metaphysik?)

 

Jede Form, jede Ordnung autoproduziert sich – indem sie Mutationen und Variationen, stabil-instabile Selbstregulierungsstrukturen hervorbringt. Lukrez entdeckt Prozesse zirkulärer oder halbzirkulärer Kausalität. Er entdeckt, daß es zwei Zeiten gibt, die Zeit des Gleichgewichts und die der Degradierung, und daß die Geschichte wie auch die Natur sich die beiden zunutzemachen. Und er entdeckt eine dritte Zeit, mit der die zweite auf die erste einwirkt.

 

Die Geschichte sowie die Natur sind Austauscher zwischen drei Zeiten. Lukrez entdeckt die Wirksamkeit der zufälligen Fluktuation und des Abstands gegenüber dem Gleichgewicht: eine Zeit überholt die andere und wird ihrerseits von ihr wieder überholt. 

 

Lukrez entdeckt das Anwachsen der Komplexität, sofern der Abstand im Laufe der Zyklen der Rückkehr zum Gleichgewicht zunimmt. Er entdeckt dieses Risiko, diesen schwindelerregenden Überhang, diese Flucht nach vorn, auf der das notwendige, natürliche Risiko und das gewagte nicht notwendige Risiko einander zu überholen suchen, aber diese Einholung durch ein noch schwindelerrgenderen Überhang bezahlen müssen. 

Er entdeckt, daß nur das Ungenügen produktiv ist. Aber daß die Produktion das Ungenügen reduziert. Daß die Arbeit, die Landwirtschaft, die Schifffahrt und die Künste die Wirkung der Degradierung kompensieren aber ihre Tragweite akzentuieren. 

 

Daß der Niedergang eine dynamische Anpassung erfordert, diese jedoch den Niedergang verstärkt. 

 

Eine Spirale mit drei Phasen: reversible Isonomie, irreversibler Niedergang, produktive Kompensation. 

 

Eine durch den Abstand in Gang gekommene Spirale. Schneelawine, die den Talweg des Sisyphos hinunter rutscht und dabei anwächst. Eine Geschichte zum Tode, Produktion zum Tod, Todestrieb. Leben vom Tod, sterben am Leben. Lebensarbeit, Todesarbeit. Lebenswunsch, Todeswunsch. 

Handelt es sich um Fortschritt? 

Ja, gewiß. Die Spirale erweitert sich in der Gabelung, der Wirbel erweitert sich in der Umkehr zur Isonomie. Bis zum höchsten Punkt, zum Gipfel Athen, Mutter der Künste, Epikur, Gesetze.

 

Aber nein. Der zyklische Prozess führt die Stadt, zum Tiefpunkt, zu Pest und Zerstörung. 

Wer zum Gipfel der Ehren, des Reichtums und der Macht gelangt ist, wird alsbald vom Blitz, dem clinamen schlechthin, oder vom Neid, diesem Laster des Abstands und der Vergleichung, das nicht wieder gut zu machen ist, in den Tartarus gestürzt. 

 

Jeder Fortschritt bleibt global gesehen ein Verlust. 

 

Die Kräfte, die zur Rückkehr zum Gleichgewicht erfordert werden, nehmen zu. Daher die Flucht nach vorn. Zur Verteidigung und zur Zuflucht braucht es Akropolen, zum Überleben der Gruppe braucht es Könige, Felder und Herden. Für die Einschätzung der Zeiten braucht es immer mehr Superlative: die schönsten, die reichsten, die mächtigsten. Die Vergleichungen greifen immer höher, die Ordnungen brauchen immer mehr Befehle. Die Dynamik geht von der minimalen Neigung zur maximalen Anstrengung über. Die feed-back Spirale steigert sich hinauf zu den höchsten Zitadellen des Königtums, des Reichtums, der Schönheit und sie stürzt ab bis zur Ermordung der Könige.

 

Die Befehlsstruktur steigert sich immer höher hinauf: der Stärkste ist nie stark genug. Die Befehlsbeziehung ist niemals im Gleichgewicht, sie überholt sich ständig selber – wie die Spirale nach oben hin sich auseinander spreizt. 

 

Daher empfiehlt die Moral die Ataraxie: das Gegenteil solcher Überholung. Rückzug vom Markt der Ehrungen. Die epikureische Ethik folgt der Physik, also einer Wissenschaft, weil die Physik dieses geometrische Modell nahelegt, welches den ständig zunehmenden Niedergang vorzeichnet, in dem das Begehren durch die eingeschaltete Kompensation das Begehren steigert. 

 

Tritt man in diese Wachstums- und Fluchtdynamik ein, so verliert man, indem man zunimmt, man verliert an Kräften, indem man Macht gewinnt, man tötet sich selber, indem man die Waffe gegen den andern erhebt. 

Eine Weisheit, die an den Dingen, an der Welt, an der Historie abzulesen ist. Leben gemäß der Natur – im Wortsinn genommen als das, was gerade geboren wird – in statu nascendi.

 

Möglichst nahe beim Öffnungswinkel bleiben, beim clinamen, wo die Natur Natur ist: Geburt. 

 

Das ist quantitativ abschätzbar. Das Wort für dieses Quantum: wenig. 

 

Von wenigem leben, wenig begehren – und dieses „wenig“ fehlt nie. 

 

Gleichgewicht wie bei den ersten Menschen: sponte sua: satis.

 

 

Walter Seitter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen