τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 14. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1073b 1 – 1074a 14)

Wir versuchen, das „Erste Prinzip“ mit eigenen Worten und mit aristotelischen zusammenfassend zu charakterisieren.

Es ist nicht das einzige „Prinzip“, das Aristoteles mit einem Superlativ kennzeichnet. „Erstes“ ist keine Nummerierung sondern eine Rangbezeichnung, eine qualifizierende. Im Buch IV hat er nach der Einführung in die kategoriale Ontologie das Sicherste Prinzip aufgestellt und versucht, es indirekt d. h. elenktisch zu beweisen. Es ist ein Axiom, eine Behauptung, die zweifelsfreie Wahrheit oder Gültigkeit für sich beansprucht. Somit gehört es einer ganz anderen Gattung an als das Erste Prinzip, das als ein Wesen konzipiert ist – etwa wie ein Mensch oder das Wasser. 

Nur daß dieses Wesen unkörperlich und unwahrnehmbar sein soll – als einziges von allen Wesen (!). Das Axiom wird wohl auch als unkörperlich gedacht – aber bei dem ist die Unkörperlichkeit weniger erstaunlich, es ist ja nur eine Behauptung, eine Aussage, die schlechterdings wahr und gültig zu sein beansprucht. Es ist „nur“ ein Denkakt.

Besagtes Erstes Prinzip soll nun auch ein Denkakt sein – noesis. Aber zugleich ist es ein Wesen – etwa wie Wasser und Fließen, welche jedoch bewegt und wahrnehmbar sind. Es hingegen ist unkörperlich und unwahrnehmbar - ein sehr extraordinäres Wesen ist dieses Prinzip.

Seine kosmologische Funktion ist überwältigend im wörtlichen Sinn – von ihm hängt der Himmel ab und die Natur (1072b 13). Das ist seine ursächliche Macht. Trotzdem ist es nicht die Gesamtursache aller Dinge, es ist nur eine Bewegursache, und zwar die „erste“, ihm nachgeordnet sind als Bewegursachen etwa für den Menschen die Sonne (und ihre Ekliptik) und der Vater. 

Alle Ursachen sind daher Mitursachen. Außer den Bewegursachen muß es auch noch die Stoffursachen geben – zum Beispiel Mutterleib und Wasser. 

Vielleicht sind alle Sachen auch irgendwie Ursachen. So wie man zwischen Hauptsachen und Nebensachen unterscheiden kann.

Nun hat aber Aristoteles im Buch XII eine wie es scheint völlig andere Gattung von Ursachen eingeführt - nämlich Bewegursachen, die selber unbewegt sind. Und die definiert er als passive Perfekta: als Begehrtes und Gedachtes, als Gewolltes, als schön Erscheinendes, als Geliebtes (1072a 27ff.) Diese Eigenschaften hängen dem Ersten Prinzip an und damit bewegt es psychische Wesen. Es selber ist auch ein psychisches Wesen dessen superlativische psychische, also kognitive und emotionale Aktivität die anderen Wesen bewegt, d. h. antreibt.

Damit ist in die Bestimmung dieses Prinzips ein Bruch oder ein Übergang vom Kosmischen zum Psychischen eingeführt, der nach Zeile 1072b 13 dann ganz brutal, heute sagt man: disruptiv, formuliert wird, indem es plötzlich direkt mit Befindlichkeiten der Menschen verglichen wird. Indem sein Zustand ununterbrochen der beste ist, was bei uns nur von Zeit zu Zeit der Fall ist. Nämlich der Zustand der Freude oder Lust, den wir mit Erwachen, Wahrnehmung, Denken erleben.

Das Prinzip befindet sich ständig im besten Zustand, weil es diesen Zustand aktiv, agierend aufrechterhält, so intensiv und pausenlos, daß es keine Veränderungen erleidet und auf diese Weise unbeweglich, unbewegt erscheint.

Nicht so wie die Erde, die ganz unten liegt und liegen bleibt. Dem Prinzip wird Lebendigkeit zugesprochen nicht aufgrund von somatischen Bewegungen wie Wachstum und Ernährung sondern mit der definitorischen Zusammenfügung von Denken und Aktualisierung.

Die Pausenlosigkeit des optimalen Zustandes beruht auf Höchstleistung, auf Aufrechterhaltung einer Hochspannung; sogar das Wort „Fanatismus“ ist mir eingefallen, na ja. „Begeisterung“ wäre wohl ein besserer Ausdruck. So ein Behauptungsmaximum kann vielleicht besser als psychisches denn als materielles gedacht werden. Wenngleich sich die Sonne seit jeher als einigermaßen plausibles physisches Erscheinungsparadigma für stabile Höchstleistung anbietet. (Deshalb werde ich Die Sonne von Francis Ponge ein bisschen als Gegenentwurf zur Metaphysik mir anschaun.)

Das permanente Maximum und Optimum des Prinzips wird von Aristoteles „der Gott“ genannt. Eine Benennung, hinter der die begriffliche Konstruktionsarbeit nicht vergessen werden sollte.

Wolfgang Koch: erstaunlicher Anthropomorphismus.

Nicht Menschengestaltigkeit, eher Menschenartigkeit - aufgrund von vergleichbaren Bewußtseinsleistungen.

Der Begriff „Bewußtsein“ kommt da direkt nicht vor, indirekt nämlich zusammengewürfelt kommt er hier sehr wohl zustande, ja er wird hier quasi herbeigebastelt und das basale Wachsein wird extra genannt. Über das hat Aristoteles ein kleines Buch geschrieben.[1]

 

So ein unruhiges Begriffsmosaik aus Kosmos, aphysisch, psychisch, anthropologisch - ist es nicht erhellender als der eine berühmte, unbewegliche und angeblich verständliche Begriff „metaphysisch“?

Hierzu eine sozusagen lokalhistorische Anmerkung zu der schon öfter bemerkten Tatsache, daß am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Faszination der philosophischen Systeme zurückging, sich gerade in Wien, wo die jahrhundertelange anti- und aphilosophische Tradition immer noch dominierte, mit Deutlichkeit ein Dualismus aus „Physik“ und „Psychologie“ hervortrat, nämlich eine Rivalität zwischen zwei wissenschaftlichen Denkrichtungen, die beide für sich in Anspruch nehmen konnten, von erfahrbaren Realitätsbereichen auszugehen. Sowohl die physikalistische wie auch die psychologistische Tendenz wollten mit der „Metaphysik“ die Philosophie ein für alle Mal aus dem Feld schlagen und ihre jeweilige Realitätsdimension – das Physische oder das Psychische - zur einzigen aufwerten. In der Mitte zwischen den beiden Denkrichtungen etablierte sich mit der Phänomenologie eine Schule, die für die Philosophie einen Weg bahnte, der halbwegs an der „Metaphysik“ vorbeiführte – sich aber in Österreich kaum halten konnte, obwohl Franz Brentano hier einen an Aristoteles angelehnten Versuch unternommen hatte, Ontologie und naturwissenschaftliches Denken und Psychologie miteinander zu verbinden. 

Sogar an einem „extremen“ und schwer nachvollziehbaren Punkt des aristotelischen Denkens, nämlich in der Skizzierung einer philosophischen Theologie, zeichnet sich seine Vorgangsweise durch einen „kompositen“ Charakter aus, den man allerdings nur in einer vorsichtig tastenden Lektüre wahrnehmen kann.

Weiterschreibend (1073b 1ff.) hat Aristoteles ausgeführt, daß es außerhalb und nach dem Prinzip zunächst und zwar synchron folgendes gibt: beseelte Wesen, die vom Prinzip bewegt werden, wobei diese Bewegungen Ortsbewegungen sein müssen und die beseelten Wesen ewig und körperlich und wahrnehmbar sein müssen. Seine Konstruktion kippt also sehr schnell wieder ins Physikalische. 

Da diese Körper und ihre Ortsbewegungen mehrere und wahrnehmbar sind, kann gefragt werden, wie viele es sind. Da verhält sich Aristoteles fast wie ein Wiener Gelehrter des frühen 20. Jahrhunderts und er fragt sich, welche Wissenschaft dafür zuständig ist. Er entschließt sich zu einem Kompromiß zwischen Philosophie und antiphilosophischem Positivismus und er entscheidet sich für die Mathematik, in der er jedoch verschiedene Richtungen unterscheidet. Die der Philosophie am nächsten stehende Richtung sei die Astronomie, welche die ewigen und wahrnehmbaren Wesen betrachtet, während Arithmetik und Geometrie überhaupt nicht von einem Wesen handeln. 

Hält er die Astronomie für philosophischer, weil sie dem Himmel nahekommt? Diese Annahme würde ein theologistisches Aristoteles-Verständnis bezeugen. Sie trifft aber nicht zur Gänze zu, denn er hält die Astronomie schon deswegen für philosophischer, weil sie sich überhaupt mit Wesen, das heißt mit Körpern, natürlich mit wahrnehmbaren, beschäftigt. Mit Physik. Aristoteles ist also nicht so meilenweit von einem modernen Wissenschaftsverständnis entfernt wie manche, nein viele, meinen.

Er geht von der Annahme aus, daß die Zahl der Bewegungen, nämlich der Bewegungsbahnen, größer ist als die Zahl der bewegten Körper. Daß also jeweils ein Planet verschiedene Bahnen einschlägt. Wie es da mit den Anzahlen steht, darüber könne nur die Forschung entscheiden, die man selber durchführt oder die von anderen Spezialisten durchgeführt wird.

Steht man verschiedenen Autoren gegenüber, so müsse man sie alle schätzen, aber folgen müsse man denen mit den genauesten Ergebnissen. Entscheidend ist schließlich nicht die persönliche Wertschätzung sondern das sachliche Ergebnis. Auf diese Weise verabschiedet Aristoteles die Personenautorität als Wahrheitskriterium.

Des näheren referiert Aristoteles, wie die Anzahl der Himmelskörper und ihrer Bewegungsbahnen bisher bestimmt und berechnet worden sind. Nämlich von Eudoxos von Knidos (ca. 390-340) und von Kallippos von Kyzikos (ca. 370-300). Deren Berechnungen meint Aristoteles dann noch korrigieren zu können bzw. zu müssen, denn es komme darauf an, den Erscheinungen gerecht zu werden. Die sind das Maß der menschlichen Darstellungen – womit sowohl die aristotelische wie auch die moderne Auffassung von Wissenschaft zum Zug kommen, und das platonische sowie das aristotelische Verständnis von noesis und theoria stehen im Hintergrund.

Erscheinungen als maßgebliche Instanzen: Phänomenologie, Positivismus, Realismus, Szientismus?  Mit Sicherheit kein „kontinentales“ Herumphilosophieren.

Ralf Konersmann führt aus, daß „im Horizont des Aristotelismus“ die Forschung für das Wissenschaftsverständnis nicht ausschlaggebend gewesen sei und er zitiert eine apologetische Schrift des Thomas von Aquin, wonach die Menschen, nachdem sie die Ursachen gefunden hatten, „Ruhe gaben“.[2] Ein gutes Beispiel für den „Aristotelismus“, in dem das aristotelische Denken in den Dienst einer anderweitig fixierten Theologie gestellt worden ist. 

Wieder zeigt sich, daß das Aristoteles-Lesen als eine eigenständige Tätigkeit durchgeführt werden sollte und mit keinem Meinen über Aristoteles verwechselt werden sollte.

Wolfgang Detel und Wolfgang Koch betonen, daß die Annahmen der antiken Astronomen (einschließlich Aristoteles) durch die neuzeitlichen und modernen Forschungen überholt worden sind. Wenn dem so ist, dann haben diese Forschungen ihre Pflicht getan und sich von den Erscheinungen zu neuen Aussagen motivieren lassen, wozu die Erfindung von Wahrnehmungshilfsmitteln ebenso gehört wie die Erweiterung von Theorieannahmen. 

 

 

 Walter Seitter




[1] Und ich ein größeres: Kunst der Wacht.

[2] Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt (Frankfurt 2015): 380f. 

 



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