τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 17. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 23 – 31)

In den letzten Tagen sind mir ungefähr fünf oder sechs Repliken, Kommentare, Publikationen, Manifestationen zugegangen. 

Karl Bruckschwaiger bezieht sich auf meine Erwähnung der Tatsache, dass das griechische Wort für „ursächlich“ aus dem Gerichtswesen stammt und ursprünglich so etwas wie „schuld an etwas“, „verantwortlich für etwas“ bedeutet, woran man die Frage knüpfen kann, ob der aristotelische Ursachenbegriff auf seine physikalische Bedeutung festgeschrieben bleiben muß oder ob er die politisch-ethische Bedeutung zu übernehmen hat. Immerhin setzen neuere französische und amerikanische Metaphysik-Übersetzungen auch „Verantwortlicher“ für Ursache ein.

 

K. B. wendet – nicht auf der Ebene des Aristoteles-Verständnisses, sondern auf derjenigen des eigenen Selbstverständnisses – ein, dass eine solche Bedeutungsverschiebung oder –erweiterung ein Selbstwertgefühl voraussetzt, das er „uns Ohnmächtigen“ eher abspricht. Meine Nachfrage, wieso er sich entgegen dem Anschein den Ohnmächtigen zurechne, beanwortet er damit, dass er seine berufliche Position als Unterordnung und Abhängigkeit erlebt. Dagegen ließe sich eine sinnvolle berufliche Tätigkeit als augenscheinlicher Nachweis für das Gegenteil von Ohnmächtigkeit ins Feld führen. Ich würde sogar die These aufstellen, dass es bei den Menschen Ohnmacht nicht gibt – Allmacht aber auch nicht. Die beiden spielen jedoch in Einbildungen riesige Rollen und gehören damit auch zur Realität - leider.

Der Kommentar, den mir Gerhard Weinberger geschickt hat und der sich auf seine Levinas-Lektüre bezieht, schließt zufällig thematisch an, denn er geht von einer Ethik aus, die die alter-Position unendlich hoch steigert, während ego quasi masochistisch in eine Geisel-Position hinuntergesetzt wird. G. W. übernimmt aus einem Aristoteles-Zitat von Levinas (siehe Protokoll vom 3. März) den „Stopp“ (seit man ihn mit zwei p schreibt, ist das ein deutsches Wort), der Denkbewegungen, die ins Unendliche gehen, sei es ins Radikale, sei es ins Extreme, gehen und entsprechend faszinieren, Einhalt zu gebieten hat, weil sie nicht stimmen. Levinas sucht selber nach Instanzen, um die illusionäre Unendlichkeit zu bannen, - etwa den „jenen“, also die Dritte Person. Wie G. W. schreibt, setzt Levinas einmal sogar „mich selber“ als Stopp gegen den absoluten Vorrang des Anderen...  

 

Des weiteren ist mir ein Buch in die Hände gefallen: Philippe Chevallier: Michel Foucault et le christianisme (Paris 2011), das Foucaults von 1961 bis 1984 dauernde „Lektüre des Abendlandes“ unter besonderer Berücksichtigung des Christentums straff zusammenfasst und gliedert, dabei auch aufs Übersetzen der griechischen und lateinischen Kirchenväter eingeht: Foucault akzentuiere die begrifflichen Knotenpunkte, weniger den diskursiven Fließtext.

 

Wolfgang Koch wiederholt und ergänzt die Ausführungen der letzten Woche, insbesondere zu Bewegung und Zeit bei Aristoteles. Andererseits gibt er mir ein Buch, das dem Namenspatron der Hermesgruppe gewidmet ist und dem vielleicht ein nützlicher Wink entnommen werden kann – nützlich nicht nur für die Psychotherapie, die in diesen Zeiten ohnehin auf den Wellen des Medizin-Booms getragen wird, sondern auch für das Aristoteles-Lesen, das im Moment vor einer wichtigen Etappe steht. Der Wink: eine Dosis Unseriosität könnte vielleicht hilfreich sein, damit man im jetzigen Stadium der aristotelischen Such- und vielleicht Findbewegung die passende Beweglichkeit zum Mitgehen oder Mitspringen aufbringt.

 

 

 

 

Rafael Lopez-Pedraza: Hermes oder die Schule des Schwindelns ein neuer Weg in der Psychotherapie (Zürich 1983)


 

 

Und fünftens ist mir in der Zeitung heute, die nicht als Qualitätszeitung gilt, eine amerikanische Sängerin gezeigt worden, deren Name Doja Cat bereits ihren Wesenszug verrät, welcher sie zu den Tieren zieht. Auf der Feier eines Musikpreises fiel sie nicht durch einen Preis auf, sondern durch eine extrem offene wilde und doch künstliche Zoomorphie, die man im Internet sehen kann. Künstliches Wildtier. Sie ist bereits öfter durch kleine politische Unkorrektheiten aufgefallen, für die sie sich dann brav entschuldigt hat – wie es sich gehört. Eines ihrer wichtigeren Werke ist ein Musikvideo mit dem Titel (übersetzt) muh muh muh - eine dramatische und mimetische Annäherung an die Kühe, die zu den häufig unbedankten Mitursachen des menschlichen Lebens zählen. Auch diese kleine Zoodramatik und –mimetik ist im Internet zu sehen. Und sie hat vielleicht einen engeren Bezug zum Buch XII, wie wir sehen werden, wenn wir zu sehen vermögen.

 

 

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Aristoteles hat drei Sorten von Wesen postuliert: 1. Die wahrnehmbaren und beweglichen und veränderlichen und vergänglichen Wesen, zu denen wir selber gehören und zwischen denen vielerlei Kausalitäten am Werk sind. 2. Wahrnehmbare und bewegliche und unvergängliche Wesen, deren kreisförmige Bewegungen notwendige zusätzliche Bewegursachen für die erstgenannten Wesen sind – Beispiel Sonne und Ekliptik. 3. Unwahrnehmbare, unstoffliche, unkörperliche, unbewegte Wesen, von denen weitere Kausalkräfte im Sinne von Bewegungsstößen ausgehen. 

 

Dem aristotelischen Postulat, unvergängliche Bewegungs- und Zeitabläufe müssten von Wesen getragen sein, die ebenfalls bzw. erst recht unvergänglich sind, wird eigentlich schon durch die zweite Gruppe von Wesen Genüge getan. Wieso bedarf es da noch der dritten Sorte, die sich empirisch kaum bis gar nicht ausweist? Ja die sich sozusagen weigert zu erscheinen und damit dem primären Existenzkriterium in der griechischen – und auch in der heutigen – Kultur nicht entspricht. Trotzdem postuliert Aristoteles diesen gesamten Ursachenkomplex und tut so, als wäre er damit auch schon aufgewiesen.

In der Zeile 23 jedoch unterbricht er sich und sieht eine Aporie, eine Ausweglosigkeit. 

 

Der Gang der Untersuchung ist kein reibungsloser Durchmarsch von einem Anfang zu einem Ziel. Aporien sind sekundäre, unerwünschte Bewegungszwischenfälle, die dazu zwingen, den Fortgang zu bedenken und vielleicht zu modifizieren. Für die Überwindung einer Schwierigkeit und den Weitergang hat Aristoteles den Begriff „Diaporie“ geprägt. Damit sind „Aporie“ und „Diaporie“ zwei Phasen einer Bewegung – dieser Begriff darf auch hier Anwendung finden.  

 

Die Schwierigkeit sieht Aristoteles darin, dass im Gesagten ein Primat des Möglichen vor dem Wirklichen vorausgesetzt sein könnte, der das Nicht-Sein von irgendwelchen beziehungsweise von allen Dingen impliziert und daher direkt an die Leibniz-Frage rührt, die ja diese in der Neuzeit dominant gewordene Priorität voraussetzt. 

 

Aristoteles repliziert mit Distanzierungen von seinerzeit verbreiteten Lehren, welche eine Priorität des Möglichen vor dem Wirklichen im Format des Kosmos suggerieren – ich sage suggerieren, weil ein solcher Ursprung wohl auch schon damals eine gewisse Faszination ausgeübt zu haben scheint. Die Vertreter jener beiden Lehren nennt er „Theologen“ und „Physiker“, womit er sie in seine engste Nähe rückt, denn im gerade jetzt geschrieben werdenden Buch und exakt im aktuellen Kapitel macht er das, was er schon öfter angekündigt hat: Theologie. Und ebenfalls in diesem Buch XII greift er oft auf seine eigene Physik zurück. 

Die älteren Theologen, etwa Hesiod oder Orpheus, lassen aus der Nacht hervorgehen, der Naturphilosoph Anaxagoras behauptet, alle Dinge seien beisammen gewesen. Solche konfusen Ansichten implizieren mehr oder weniger, meint Aristoteles, daß alle Dinge aus dem Stoff, aus der Möglichkeit entstanden seien. Aber wie soll etwas ohne aktualen Urheber in Bewegung geraten? Das Material bewegt sich nicht selber, sondern die Baukunst bewegt: die Bewegung vom Felsen zum Tempel. Oder die Monatsblutung beziehungsweise die Erde bewegen sich nicht, es bewegen die Samen und das Saatkorn.[1]

 

Damit deutet Aristoteles an, dass er neben der Stoffursache auch die Formursache für notwendig erachtet – und er bleibt damit strikt im Rahmen seiner „Physik“. 

 

Ebenso im Rahmen der Physik bzw. der Botanik bleibt die Tatsache, dass sich vom Samen bzw. vom Saatkorn aus Vermögen und Verwirklichung noch einmal spalten und differenzieren. Für Verwirklichung setzt Aristoteles öfter die „Vollendung“ und obwohl darin das Wort „Ende“ steckt, betont Aristoteles, dass das Vollendete das Erste ist und nicht der Same – 1073a 35ff.. Oder um ein vor Jahren ventiliertes Beispiel aufzugreifen: die Eiche existiert vorrangig vor der Eichel. Oder das Huhn vor dem Ei. Oder die Kuh vor der Milch.


Walter Seitter


[1] Den männlichen Samenzellen entsprechende Eizellen spricht unser heutiges Wissen den Frauen zu, die allerdings allein über Monatsblutung und Mutterkuchen verfügen, welche Aristoteles als „Stoff“ ansieht. 

1 Kommentar:

  1. Habe Seitter selbstverständlich zu keiner »Dosis Unseriosität« in der Philosophie geraten. Das wäre auch vollkommen überflüssig, seit er 2018 der US-Pornodarstellerin Tanner Mayes seinen Text »Intimsteintechnik« in ›Tumult‹ 42 gewidmet hat.

    Wolfgang Koch, 3-2021

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