τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 32 - 1072a 2)

  

Karl Bruckschwaiger bemerkt zu meinem von der (seiner Tochter wohlbekannten) amerikanischen Künstlerin Doja Cat inspirierten Neologismus „Zoodramatik“, er habe ihn an die „Theodramatik“ des katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988) erinnert. Der Zusammenhang ist mir nicht bewusst gewesen und, wenn er besteht, dann überbrückt er einen denkbar weiten Abstand – und doch einen zwischen Theologie und Theologie. Denn ich dachte dabei schon an die im Buch XII endlich ausbrechen werdende aristotelische „Theologie“.

 

Jetzt taucht für mich (wohlgemerkt) die Frage auf, wieso sich Aristoteles, der bei der Frage nach den für die Menschen zuständigen Ursachen bis zu der doppelten Bewegursache Sonne/Ekliptik zurückgegangen ist, diese große Ursache nicht als „erste“ Gesamtbewegursache für alle (anderen) Dinge akzeptiert, sondern über sie hinaus nach einer andersartigen und unwahrnehmbaren Bewegursache sucht, obwohl eine solche jedenfalls für meinen eher positivistischen Verstand kaum plausibel zu sein scheint.[1]

 

Da verweist Karl Bruckschwaiger auf die gegenwärtige Physik, die sich ja auch für eine Wissenschaft hält, und die momentan die Gesamtheit des irgendwie materiellen Universums so quantifiziert, dass 4,6% davon auf die uns „bekannten“ Atome entfallen, 23% auf die sog. Dunkle Materie, 72% auf die sog. Dunkle Energie. Die beiden letzteren „Größen“ entziehen sich unserer Wahrnehmung und überhaupt jeder näheren kognitiven Erfassung, sie werden nur als notwendige Voraussetzungen, also Ursachen, derjenigen Kontraktion oder Expansion des Universums erschlossen oder gar errechnet, die als wirksam angenommen werden. 

 

Der Vergleich bezieht sich nur auf die epistemische Problematik – nicht auf die von Aristoteles gesuchte „Ursache“, welche bei Aristoteles von seiner Wissenschaftskonzeption aus perspektiviert wird.

 

Zuletzt hat Aristoteles ältere Lehren zitiert, die als Urzustand entweder die „Nacht“ oder das „alles beisammen“ angenommen haben. Beide Annahmen lassen sich wohl zu anderen kosmologischen Auffassungen der Antike leichter in Beziehung setzen als zu modernen (obwohl auch solche Bezüge nicht ausgeschlossen werden müssen). Jenen Thesen unterstellt Aristoteles, sie würden die Dinge, die es jetzt gibt, aus der bloßen Möglichkeit oder, was auf dasselbe hinausläuft, aus einer bloßen Stofflichkeit im Sinne der materia prima hervorgehen lassen. Dazu bedürfte es aber zusätzlich einer wirklich bewegenden Ursache, wie sie im Bauwesen von der Kunst (also von Technik und Kunst) oder in der pflanzlichen bzw. animalischen Reproduktion von irgendwelchen Samen (und Samentransporten) geliefert werden. 

 

Da die Welt vorläufig noch ewig weiterbesteht und insofern keine Zeitknappheit diese Lektüre beschleunigen muß, kann man auch einmal ein paar Zeilen zurückspringen (der Text vollzieht selber viele und größere Rücksprünge, weshalb er sich selber so in die Länge zieht – auch eine Weise der Vorwärtsbewegung und des Wachstums), gehe ich ein paar Zeilen zurück zu dem Satz 1071b 20, also zur Suche nach „einem solchen Prinzip, dessen Wesen Verwirklichung ist“. 

 

Ein sehr kurzer Satz, in den drei Hauptbegriffe hineingepackt werden, ein Hauptbegriff der Ätiologie und zwei Hauptbegriffe der Ontologie. Das gesuchte Prinzip wird mit einem Relativsatz charakterisiert (definiert – wäre zu viel gesagt), in dem das Subjekt „Wesen“ mit dem Prädikat „Verwirklichung“ bestimmt, man könnte auch sagen ausgezeichnet wird. Denn es ist ein sehr ungewöhnliches Prädikat. Üblicherweise werden Wesen mit Spezies-Angaben wie Mensch oder Eiche oder Tragödie bestimmt (die ihrerseits bestimmten Gattungen zugeordnet sind). 

 

Hier hingegen prallen Wesen und Verwirklichung aufeinander oder Seiendheit und Wirklichkeit. Ein Zusammenprall von W und V. Oder von S und W. Sind die beiden überhaupt unterscheidbar? Ist so eine Aussagung, in der V von W oder W von S ausgesagt wird, mehr als eine Tautologie - bekanntlich die lächerliche Krone der Ontologie? 

Wenn man darauf verzichtet, sich jetzt über die Ontologie lustig zu machen, so wird man nun gerade hier auf ihre Mehrdimensionalität (über die hier schon ironisiert worden ist) gestoßen, die sich nicht in der berühmten Vielfachaussagung des Seienden erschöpft (welche nur eine ihrer Dimensionen ausmacht). Seiendheit und Wirklichkeit könnten im Deutschen als zwei strikte Synonyme aufgefaßt werden – aber die aristotelischen Wörter unterscheiden sich tiefgreifend: das eine stammt von dem neutral oder gar minimal klingenden „seiend“, während im anderen das Werk und die Tätigkeit und die Erfüllung der Möglichkeit steckt, also das Werden und der Prozeß und all das, was die Modernen entweder bedauernd oder triumphierend bei Arisoteles vermissen.

 

Mit dem zitierten Satz kippt die Ontologie vom Wesen zur Wirklichkeit, sie schlägt eine andere Richtung ein. Bruch oder Knick oder Kurve – diese Frage wird man erst später stellen können, wenn sichtbar geworden sein wird, wohin die Bewegung, die Schreib-, Denk-, Textbewegung, die Schreib-, Denk-, Textproduktion (denn Bewegung ist auch eine Ursächlichkeit) hin gelangt.

 

Die Ontologie wird hier zum Kippen gebracht, um einen Weg zu einem anderen Prinzip zu bahnen, welches aber nicht mit lauter Negativprädikaten „bestimmt“ oder besser gesagt un-bestimmt werden soll. 

 

Wieder zurück zum Gang der Untersuchung im Abschnitt 6. Nach Abweisung der Lehren, die den Anfang aller Dinge in Möglichkeitszuständen sehen, nennt Aristoteles Leukipp und Platon, die eine immerwährende wirkliche Bewegung annehmen – ohne jedoch die Ursache dafür anzugeben, dass die Bewegung einmal so und einmal so verlaufe.

Aristoteles unterscheidet jetzt drei Arten von Bewegungen: solche von Natur aus, solche durch Gewalt und solche durch Vernunft. 

Die gewaltsame Bewegung und die vernunftbedingte kann man dem Menschen zurechnen. Die erste greift störend in den Kreislauf der naturhaften Bewegungen ein, die zweite greift ebenfalls in die Natur ein, versucht aber, sie nicht durch Maßlosigkeit vom Typ „Unendlichkeit“ aus ihren Bahnen zu werfen – und stellenweise gelingt es ihr, Vollkommenheiten hervorzubringen, die die Natur nicht zustande bringt (man denke an Ästhetik und Ethik).  

Hier kann man an die alte Geschichte von der Mutter Erde erinnern, die sich bei Zeus darüber beklagt hat, dass die gewaltsamen Menschen auf ihr herumtrampeln, woraufhin Zeus von langer Hand den trojanischen Krieg einfädelt, der die Erde von allzu vielen kriegerischen Männern befreien sollte. In der Folge haben die Menschen viele Methoden ersonnen, um in ihren Aktionen Vernünftigkeit und Gewaltsamkeit „zweckrational“ zu verbinden und die Erde nicht nur kriegerisch sondern auch friedlich zu beschädigen.

Der berühmte Soziologe Max Weber hat mit seinem wohlklingenden Begriff der „Zweckrationalität“ einen willkommenen Vorschub geleistet – denn eigentlich wollte er damit „Mittelrationalität“ also Angemessenheit von Mitteln für bestimmte Zwecke sagen. Aber in dem Moment hat ihn sein Sprachverstand verlassen oder vielmehr es folgt nun die Sprache einem dominanter werdenden Trend der „Verwechslung“ von Mitteln und Zwecken.[2]

Die Verschmelzung von Gewalt und Vernunft im menschlichen Handeln hat nun zu dem neuen Begriff „Anthropozän“ geführt, der signalisiert, dass die menschliche Ursächlichkeit oder gar Verantwortung solche Ausmaße annehmen sieht, dass sogar eine erdgeschichtliche Epoche nach dem Menschen benannt wird. 

 

Soviel zum derzeitigen Verhältnis zwischen den drei mehr oder weniger bekannten Bewegungssorten – mit dem die vier schon öfter erörterten Verursachungsweisen (Natur, Kunst, Zufall, Automat) umformuliert, auch verständlicher werden. 

 

Aristoteles nimmt noch eine andere Ursächlichkeit an, es ist genau die, die er näher bestimmen will. Im Moment bezeichnet er sie nur als „erste“ Bewegung und meint, sie unterscheide sich sehr von den drei genannten. 

Hier empfiehlt es sich, das Attribut „erst“ ernstzunehmen und dabei auch Deutsch zu lernen (Griechisch lernt man, wenn man Aristoteles liest, ohnehin). Die Ordinalzahl „erst“ wird von Aristoteles öfter etwas leichthändig – und nicht immer konsequent – vergeben. 

„Erst“ ist ein Superlativ, dessen Positiv man auf der Ebene von „ehe“, also vor, früh findet, und dessen Komparativ „eher“ lautet. Die Raffinesse des Superlativs liegt darin, dass er den Komparativ sozusagen mitnimmt – also „eherst“ und daraus eine gewisse Geschmeidigkeit bezieht.

Die „erste“ Bewegung ist nicht nur pauschal die erste und vorrangige vor allen (anderen), sondern jeweils eher als die Bewegung A und die Bewegung B .... (wiederum die Pluralität der „alle“). Sie beansprucht einen Vorrang (nicht nur einen zeitlichen) sowohl vor der naturhaften wie auch vor der gewaltsamen und der vernunftmäßigen, die ja ihrerseits eher nebeneinander, miteinander, gegeneinander koexistieren und dabei auch eine andere Klassifizierung der Bewegungen bilden als die schon öfter besprochene, welche die Bewegungen oder Veränderungen nach vier Kategorien unterscheidet. 

Hier geht es um eine Unterscheidung verschiedener Bewegungen innerhalb des Kosmos im Ganzen und Aristoteles bezieht sich nun auf Platon, der die für die Seele typische Selbstbewegung zur ersten und vorrangigen Bewegung erklärt und sie auf eine Ebene mit dem Himmel stellt.[3] Mit der ersten Behauptung stimmt Aristotels nicht überein, wohl aber mit der zweiten. Die Seele ist für Aristoteles die Fähigkeit zur Selbstbewegung und sie findet sich in den pflanzlichen, tierischen und menschlichen Körpern – doch die postulierte Erstheit kommt den Seelen nicht zu. Ebenso wenig wie dem Himmel – also der peripheren Sphäre des Kosmos. 

Die Suche muß also weitergehen. 

 

Das hier erscheinende Bild kann zeigen, wie nahe der Himmel der Erde erscheinen kann. 

 

 


 

Walter Seitter


[1] Zur Sonnenkausalität hat Francis Ponge sehr vieles gesagt. Hier nur ein Satz von geradezu aristotelischer Schlichtheit: „Die Sonne ist der Gegenstand, dessen Erscheinen und Verschwinden, im Apparat der Welt wie auf jeden der (anderen) Gegenstände, die ihn komponieren, am meisten Wirkung und Eindruck produziert.“ (Francis Ponge: op. cit.: 865)

[2] Man kann sich denken, welche Mittel da in den Vordergrund treten. Siehe dazu Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (München 2021).

[3] Siehe Platon:  Phaidros 245c, Timaios 34b.

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