Während in den ersten Büchern, vor allem in Buch I,
die „gesuchte Wissenschaft“ dahingehend anvisiert wird, dass sie die ersten,
also die höchsten, in unserem Sinn die entferntesten Ursachen und Prinzipien
der Dinge, also der Seienden, und zwar aller, aufsuchen und bestimmen soll,
vollzieht das Buch IV ab 1003a 32 eine Kehrtwendung in Richtung Immanenz,
Identität, beinahe Tautologie.
Betrachtung des Seienden als Seienden – aber doch
gleich mit einer bestimmten Differenzierung bzw. Pluralisierung: es, das
Seiende wird vielfältig ausgesagt. Diese Vielfältigkeit erstreckt sich nun
keineswegs enzyklopädisch auf Arten, Gattungen und dergleichen, etwa Pflanzen,
Menschen, Sterne. Sondern eher formalistisch auf Seinsmodalitäten, von denen
die erste den Bezugspunkt für alle bilden soll, die gemeinsame arche
oder physis. Diese erste heißt ousia, zumeist übersetzt als Wesen
oder Substanz, von dem bereits genannten Joe Sachs entweder als independent
thing oder thinghood.[1]
Diese zweifache – im Englischen wohl revolutionäre – Übersetzung können wir
Deutschsprachige sehr gut nachvollziehen, wir könnten sie sogar direkt
übernehmen und sagen: Ding oder Dingheit (Dinglichkeit). Eine Doppeltheit, die
scholastisch als Erste Substanz bzw. Zweite Substanz wiedergegeben worden ist.
Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden
Übersetzungen und worin ihr Bezug zum Seienden? Die Erste Substanz ist nichts
anderes als eine erhöhende Wiederholung des Seienden: sie nennt das Seiende im
Vollsinn des Wortes: ein selbständig und mit eigentümlicher Wesensform
ausgestattetes Seiendes. Da ist keine Ursache ins Auge gefasst, sondern eine
Sache im vollen Sinn des Wortes, eine Sache mit Sosein und Dasein. Und die
Zweite Substanz – ist eben das Sosein, die Wesensform, die Formursache der
Sache.
Diese eine „Ursache“ wird also in dieser
immanentistischen oder „tautologischen“ Betrachtung sehr wohl in Betracht
gezogen, sogar prominent hervorgehoben. Aber ständig auch in
Quasi-Gleichsetzung, Beinahe-Verwechslung mit dem Verursachten, also der Sache
selbst, der Sache in ihrer Fülle. Übrigens eignet dem aristotelischen
Ursachen-Begriff überhaupt die Neigung zur Immanenz und gleichzeitig eine
starke Vielfältigkeit: Form ist immer ganz immanent; Materie einigermaßen (das
Holz, aus dem der Tisch gemacht ist, liegt ganz und gar in ihm; wenngleich es
solches Holz auch noch außer ihm gibt (er ist ja „aus“ Holz)), Urheber zumeist
außerhalb der Sache; Zweck hingegen eher darin). Daher tendiert die
aristotelische Physik der Ursachen zunächst einmal wenig zum „meta“.
Die Vielfältigkeit des Ausgesagtwerdens des
Seienden fängt also schon mit der Fast-Wiederholung durch die Erste Substanz
an, geht weiter mit der abgeschwächten Wiederholung durch die Zweite Substanz,
setzt sich fort mit der Aufzählung der anderen Kategorien, als da sind die
Akzidenzien, lauter Anhängsel oder vielleicht doch nicht nur Anhängsel der
Substanz, geht über die Akzidenzien noch hinaus zu stärker dramatisierenden
Versionen des Wesens wie Vergehen, Beraubung, Erzeugung und sogar Verneinung.
So weit gestreut ist die Vielfältigkeit des Seienden als solchen, wofür man
auch sagen kann: der Seiendheit. Denn das ist die wörtlichste Übersetzung von ousia.
Und dies alles wohlgemerkt innerhalb jedes Seienden – unabhängig von Art und
Ort seines Vorkommens in der Welt.
Immanentismus und immanente „Explosion“ eines jeden
Dinges, Wesens kennzeichnen also „Ontologie a“. (Beinahe noch immanentistischer
(und anderswie extensiv) verhält sich „Ontologie b“). Allerdings wird sie im
Buch IV nur kurz angerissen bzw. sie wird durch die Aufstellung von „Axiomen“,
fortgesetzt, die für alle Dinge gelten. Diese Axiome sind der Satz vom
ausgeschlossenen Widerspruch, der Satz vom ausgeschlossenenen Dritten, die
Regel von der Unrichtigkeit einseitiger Aussagen über alle Dinge. Auch diese
Axiome gehen in die Richtung von Immanentismus, Identismus: sie besagen alle,
dass jede Aussage Bestimmtes sagen muß.
Diese eher logische Weiterführung der „Ontologie“
wird sehr langwierig vorgetragen und mit beißender nicht enden wollender
Polemik einerseits gegen Sophisten – hauptsächlich Protagoras – und
Naturphilosophen wie Heraklit und Anaxagoras, Demokrit aufgefüllt. Als
gemeinsame Behauptung dieser Philosophen nennt er die sensualistische These,
die aisthesis sei phronesis, als die Wahrnehmung sei Verstand
(1009b 14). Eine These, von der Aristoteles gar nicht weit entfernt ist, besagt
doch unser aristotelisches Hermesgruppen-Motto, das Wahrnehmen sei so etwas
Ähnliches wie das vernünftige Erfassen. Die Sophisten und einige
Naturphilosophen aber kommen zu eher absurden Schlussfolgerungen oder
Selbstwidersprüchen – entweder aus Lust an der Provokation oder vielleicht
aufgrund ihrer Überwältigung durch den Abschied von den Mythen.
Im Zuge dieser Ausführungen gibt es immer wieder
bemerkenswerte Stellen. Etwa wenn Aristoteles meint, gewisse Voraussetzungen
müssen angenommen werden, können nicht bewiesen werden; etwa diejenige; dass
„wir jetzt“ nicht „schlafen“ sondern „wachen“ (1011a 7). Er hat ja selber Über
Wachen und Schlafen eine kleine Schrift verfasst und ich ein zweibändiges
Werk darüber. Wieso kann man das nicht beweisen? Weil unser gesamtes Leben ein
Traum sein könnte. Wir „müssen“ unser Wachsein theoretisch voraussetzen und wir
sollen es praktisch uns einschärfen. Schlafen und Wachen könnte man – in
Anlehnung an energeia und dynamis - als strikt ontologische
Modalitäten unseres Daseins betrachten.
Walter Seitter
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Sitzung vom 15. Oktober 2014
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