24. April 2024
Von der Frage nach der korrekten Deklination von nous stolpern wir über dessen aktiv-passive Zwitternatur zu möglichen Übersetzungen des dazugehörigen Verbs noein: von „denken“ bzw. „verstehen“ über „wahrnehmen“ und „erfassen“ zu „vernehmen“ – was einerseits einfach „hören“ bedeutet, andererseits an polizeiliche Einvernahme erinnert. Vermutlich weil dieser letztens seinen 300. Geburtstag gefeiert hätte, landen wir damit endlich bei Kant, dessen theoriegeschichtliche Bedeutung mitunter daran festgemacht werden kann, dass seit ihm als modern gilt, den (Untersuchungs)Gegenstand als etwas aufzufassen, das sich nach dem Erkennen richtet, anstatt der (antiken) Auffassung zu sein, das Erkennen richte sich nach dem Gegenstand. Letztere Vorstellung liegt auch wörtlich näher am herkömmlichen Theoriebegriff, der sich ja vom Zuschauen ableitet. Mit seiner selbst so genannten „kopernikanischen Wende“ hat Kant das Denken oder die Theorie dem polizeilichem Vernehmen angenähert: die Polizei (= Wissenschaftler, Subjekt) bestimmt, was sie wissen will, der Verdächtige (= Objekt), antwortet im Sinn der Frage bzw. „sagt“ was diese hören will (und idealerweise damit auch die Wahrheit). Um dem Vorwurf des Idealismus auszuweichen hat Kant in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft dann unterschieden zwischen empirischem und transzendentalem Idealismus und seine Wende auf letzteren beschränkt.
Die
beste Übersetzung für nous/noien bleibt aber, wenn man Buchheim folgen
mag, „Verstehen/verstehen“. Nicht nur weil auch hier für den nominativen und
prädikativen Gebrauch dasselbe Wort verwendet werden kann, sondern vor allem
deshalb, weil das Verstehen sozusagen Wahrheits-inklusiv ist. Für ein Erkennen,
Wahrnehmen, Erfassen oder auch Vernehmen, das in dieser Hinsicht unbestimmt ist
und auch falsch sein kann, verwendet Aristoteles dagegen den Ausdruck diainoia
(bzw. dianoeisthai).
Weiter im Text:
Aristoteles reflektiert die Frage nach dem Verhältnis des Seelischen zum Körperlichen. Besonderes Augenmerk liegt darauf, ob es etwas „eigentümlich“ Seelisches gäbe. Nur wenn dies der Fall sei, könne es auch abgetrennt vom Körperlichen existieren. Wer hier eine klare Ansage erwartet, wird enttäuscht. Wie ein Fluss, der definitiv weiß wo es lang gehen soll, aber seine Breite und Tiefe gemächlich ‚ausbadet‘, mäandert Aristoteles zwischen den hierbei möglichen Positionen und steckt diese gleichzeitig ab.
Um seine Auffassung bzw. die wirklichen Verhältnisse besser verständlich zu machen, bedient sich Aristoteles einer geometrischen Analogie, die uns nicht richtig einleuchten will (ab 403a 10). Buchheim ergänzt in seinem Kommentar Metaph. B2, 997b 32ff.:
Was Protagoras sagte, kann ich leider nicht rekonstruieren, aber vielleicht entspricht es doch meiner Vermutung, dass eine ‚echte‘ Linie (wie z. B. eine Messlatte) einen ‚echten‘ Gegenstand nicht nur an einem Punkt, sondern, wenn auch minimal, ‚flächiger‘ berührt? Aristoteles möchte damit jedenfalls deutlich machen, dass seelische Aspekte nicht wie mathematische Konstrukte als abstrahiert (abgezogen) vom Körperlichen denkbar sind, sondern nur als enhylo logoi: „in Materie befindliche Begriffe“.
Als Beispiele für Leidenschaften, die „sämtlich im Verein mit einem Körper“ (Buchheim) existieren, zählt Aristoteles auf: Eifer, Milde, Furcht, Erbarmen, Zuversicht, Freude und das Lieben und das Hassen. Wir bemerken dazu, dass im Originaltext an der Stelle von „Liebe“ philia geschrieben steht. Nicht agape, wie im zweiten Satz der Metaphysik.[1]
Bei alledem fragt sich Aristoteles, wer für die Untersuchung des Seelischen zuständig sei und spielt durch, inwiefern das davon abhängt, was man darunter versteht bzw. was vom Seelischen man jeweils zu fassen versucht. Obgleich Seelisches nicht unabhängig von Körperlichem sein kann, so bleibt deren gesonderte Untersuchung „als abgetrennt [von Materie]“, dennoch die Aufgabe des „ersten Philosophen“ (protos philosophos – ein Ausdruck der sich, in dieser personalisierten Form ausschließlich hier, sonst nirgends bei Aristoteles finden lässt).[2]
Zu den vordringlichen Aufgaben dieses unmöglich scheinenden Jobs wird zählen, diese Konstellation widerspruchsfrei zu denken. Das Seelische ist Gegenstand vieler anderer Disziplinen; je nach Herangehensweise/Definition ändert sich seine Erscheinungsform, was Aristoteles an den Beispielen „Zorn“ und „Haus“ illustriert. Auffällig ist schließlich noch die Festellung, dass der Naturwissenschaftler „von überhaupt allem handelt.“ – Buchheim erklärt dies so, dass dieser „auch vom göttlichen nous handelt, sofern dieser nämlich nötig ist, um die Verstehensleistung körperlich existierender Lebewesen zu erklären.“ Zudem sind selbst die reinen Leistungen des Verstandes nur unter der Bedingung gewisser, körperlich bedingter Kognitionen möglich (vgl. III 4–8).
Ivo Gurschler
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