26. Mai 2024
Protokoll vom 22. Mai 2024
Die ersten bisher gelesenen Seiten von De anima erweisen sich als sehr komplex und dicht. Einerseits fassen sie manches zusammen, was wir schon früher gelesen haben. Sozusagen rein zufällig aber auch das, was ich in den vergangenen Monaten an verschiedenen Orten (VINOE, Café Korb) vorgetragen habe, nämlich die sehr weit auseinander spreizende aristotelische Wissenschaftsklassifikation. Und Aristoteles greift dabei – wie es scheint – zu ziemlich neuen Formulierungen.
Am 22. Mai habe ich mit Ivo Gurschler eine selektive Rekapitulation vorgenommen und dabei folgende Punkte ausgeführt.
Im Abschnitt 1 des Ersten Buches führt Aristoteles gewissermaßen wissenschaftspragmatisch in die Erforschung der Seele beziehungsweise ihrer Affektionen im Zusammenwirken mit dem Körper ein, indem er deren Untersuchung auf mehrere Spezialisten aufteilt.
Zuerst werden genannt der Naturforscher und der Dialektiker (403a 29) – wobei der erste sich für Körperveränderungen wie das Sieden des Blutes und des Warmen rund ums Herz, der andere aber für Streben nach Rache für erlittene Kränkung interessiert. Tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Phänomene – die aber auch für einen heutigen Begriff von „Psychologie" noch relevant sein könnten. Wenn der erste eher mit „Physiologie“ assoziiert wird – und der zweite: womit? Mit seelischer Aufregung ja. Aber woher kommt die und worauf bezieht sie sich? Auf „soziale“ Akte, Verhalten, Aktionswünsche.
Dieses Psychische im engeren Sinn scheint also gar nicht „rein“ psychisch im Innenleben zu beruhen; es bezieht sich auf die Außenwelt und zwar ein bestimmte Facette der Außenwelt, die man auch „Mitwelt“ nennen kann, wobei dieses „Mit“ hier leider die Form von „Gegen“, also Konflikt annimmt.
Ich sage dazu „leider“ und damit wird schon eine Problemrichtung angedeutet.
Ich würde sagen, dieses winzige Beispiel für das Auseinanderdriften der „Psychologie“ zeigt schon die Reichhaltigkeit des aristotelischen Textes. Sie zeigt sich aber nur dann, wenn man an den Text wie einen Fremden herangeht – und ihn nicht als selbstverständlich brav akzeptiert.
Denn die andere Seite der Psychologie, die physiologische, die ihrer Einordnung in die aristotelische „Physik“ (als erste Theoretische Wissenschaft) entspricht, die bezieht sich ebenfalls und wesensmäßig auf die Außenwelt, die Außenwelt der Körper überhaupt.
Die beiden hier „personalisiert“ genannten Wissenschaften werden dann sehr knapp auch rein begrifflich charakterisiert: die eine liefert den Stoff, die andere die Form und den Begriff.
Die Physik den Stoff, die Dialektik Form und Begriff.
Können wir diese Charakterisierung der Dialektik ins bisher Bekannte einordnen?
So ohne weiteres wohl nicht. Wenn die Dialektik über die Physik hinausgeht - wohin geht sie dann? Zu einer anderen Theoretischen Wissenschaft – und zu welcher?
Oder zu irgendeiner ganz anderen Wissenschaft? Welche gibt es noch?
Die Angabe „Form und Begriff“ – hilft die weiter?
Anstatt die Frage direkt, gradlinig oder irgendwie „höher“ weiter zu erörtern, führt Aristoteles auf einen Seitenweg, er führt zu einem Nebenbeispiel, das den Vorteil bietet, etwas noch Bekannteres als den irgendwie aufgeregten Nebenmenschen (bis zum Jahre 1938 sprach man in Österreich, in den gebildeten Kreisen (siehe Sigmund Freud, Erich Voegelin) nicht vom Mitmenschen sondern vom Nebenmenschen), zu irgendeinem Haus, und er ist so freundlich dieses jetzt unter einen ganz bestimmten Begriff zu stellen, der bei Aristoteles keineswegs zu den prominenten Begriffen gehört, etwa den sogenannen metaphysischen. Nämlich unter den Begriff des Dinges (der dann eher bei Heidegger und Seitter) Karriere macht.
Und da teilt Aristoteles den Begriff des Hauses drei verschiedenen Spezialisten zu. Der eine interessiert sich für die Schutzfunktion, der andere für Baumaterialien, ein dritter für deren zweckmäßige Bearbeitung.
Und Aristoteles stellt die Frage:
Wer von ihnen ist nun der Physiker?
Diese Wer-Frage zeigt uns die Stoßrichtung an, die hier eingeschlagen wird, und der aufmerksame Leser zeichnet sich dadurch aus, daß er auf diese Frageform aufmerksam wird, anstatt sie einfach als selbstverständlich abzunicken.
Es könnte ja sein, daß so eine Wer-Frage hier oder anderswo vom Leser damit beantwortet wird, daß der sich sagt – ach so vielleicht ich?
(Oder es könnte sein, daß zum Beispiel der berühmte erste Satz der Metaphysik so ein Fangsatz ist, der beim Leser, natürlich auch bei der Leserin, wenn sie eine interessierte ist, die Frage auslöst: Stimmt das überhaupt, trifft das auf mich zu? (Wenn kein Satz der Metaphysik so eine oder eine ähnliche Reaktion auslöst, dann ist alles vergeblich!))
Hier, in der „Psychologie“, scheint Aristoteles seine Redeweise in diese Richtung zu lenken.
Ist der Physiker derjenige, der nur vom Begriff redet, oder derjenige, der nur vom Stoff redet, oder derjenige, der von beidem ausgeht?
Wie sind die beiden ersten zuzuordnen? Wer ist der Fachmann für die Bauzwecke? Und wer der für die Baustoffe? Oder gibt es einen dritten, der sich für die unabtrennbaren Zustände der Stoffe interessiert? Was sind das für Zustände?
Die Antwort, die jetzt kommt, scheint nicht gerade weiterzuführen: denn Aristoteles schreibt nun dem Physiker die Zuständigkeit für alle Funktionen und Zustände eines so bestimmten Körpers und eines solchen Stoffes zu.
Das mag ja den Physiker freuen, daß er jetzt diese Allzuständigkeit bekommt.
Aber es ist gar keine Allzuständigkeit, denn Aristoteles sagt, daß es auch andere Körperfunktionen und -zustände gibt, nämlich solche, die jetzt noch nicht bestimmt sind.
Und für die nennt er zwei andere Spezialisten, die gerade nicht für die Betrachtung bestimmter Zustände zuständig sind – sondern für was?
Sieht man, welche beiden er meint – er meint den Handwerker und den Arzt, dann sieht man hoffentlich, wodurch sich die beiden vom Physiker unterscheiden, sie sind nicht Betrachter, sondern Bearbeiter und Behandler. Sie verändern vorliegende Körper – in einer gewünschten Richtung. Hier kommt das Wünschen zum Zug und man braucht nicht bei Lacan anfragen, ob man da vom Wünschen sprechen darf.
Der Handwerker bearbeitet Steine im einzelnen und setzt sie zu einem größeren Ganzen zusammen, das erwünscht ist. Und der Arzt schaut sich einen Menschenkörper an, an dem etwas zu verbessern ist – denn der Menschenkörper war schon bei den Griechen etwas Verletzbares und manchmal Reparierbares.
Neben den physikalischen Wissenschaften gibt es die poietischen Wissenschaften, die die poietischen oder technischen Künste wissenschaftlich unterstützen sollen, und diese Unterscheidungen sind wesentlicher als alles metaphysische Gerede.
Auch dieses war Aristoteles bekannt – doch nennt er es „dialektisches“ Gerede (403a 1). Er war in seiner Terminologie nicht immer konsequent.
Dazu gibt es dann noch die praktischen Wissenschaften, die wohl die handlungsmäßige Bearbeitung der oben genannten sogenannten psychischen oder sozialen Probleme unterstützen sollen.
Mit der Dialektik im seriösen Sinn des Wortes waren vielleicht beide nicht-theoretischen Wissenschaften gemeint.
Wen aber meint Aristoteles mit dem hier und nur hier genannten Ersten Philosophen (304b 17)?
Die Singularität der Nennung könnte auf Selbstnennung verweisen.
Ist der Erste Philosoph derselbe wie der Dialektiker
– nur daß er sich auch über die Unterscheidung von „abgetrennt“ und „nicht-abgetrennt“ definiert?
Die Erste Philosophie als Disziplin oder etwa
als persönliche Qualifikation ist uns ja in der Lektüre der Metaphysik begegnet
– ist sie uns wirklich begegnet?
Wenn wir diese Lektüre wirklich betrieben
haben, wenn sie uns wirklich umgetrieben haben würde – müßten wir dann nicht zu
Ersten Philosophen geworden sein? Oder braucht man dazu länger?
Jedenfalls brauchen wir noch ein paar ältere und neuere Protokolle und Kommentare.
Walter Seitter
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