τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 20. November 2022

In der Metaphysik lesen (1082b 25 – 1083b 7)

16. November 2022

 

Von den Zahlen geht eine starke Faszination aus. Einerseits auf solche, für die das Geld ein wichtiger Realitätsbereich ist, denn sie scheinen dem Wesen des Geldes sehr nahe zu stehen. Andererseits für solche, die sich für Theorie interessieren, denn man kann mit den Zahlen komplexe Fragestellungen konstruieren, die das Denken herausfordern und überprüfbare Lösungen zulassen.

 

Das war wohl in der Antike auch so und eine Philosophenschule wie die pythagoräische hat ihre gesamte Lehre mit Zahleneigenschaften und -operationen assoziiert, etwa indem sie den Gegensatz zwischen geraden und ungeraden Zahlen zum Grundgerüst der Welt gemacht hat oder die Zahlen von Eins bis Vier, deren Summe Zehn ergibt, zum Wesen des Menschen erklärt hat.

 

Eine mildere Form der engen Verschränkung von Zahlenwissen und Realitätserkenntnis liegt bei Platon vor und mit ihr setzt sich Aristoteles hauptsächlich auseinander – der selber die Physik für realitätshaltiger eingeschätzt hat, welche die selbständig existierenden Körper untersucht. Und doch gibt es auch bei ihm gewisse Inkonsequenzen, wenn er die Musik mit ihren unterschiedlichen Tönen und die Planeten mit ihren Bahnen zu Gegenständen der „angewandten Mathematik“ erklärt. Die neuzeitliche Physik ist auf diesem Weg weiter gegangen, indem sie das Messen zu ihrer privilegierten Beobachtungsmethode gemacht hat. Dies erst recht, als sie die von anderen antiken Physikern spekulativ erdachte Mikrophysik durch mikroskopische Beobachtungen operationalisiert hat, womit dann auch die Beherrschung der Natur, also die Steigerung der Menschenmacht einer angeblich trägen Materie gegenüber verstärkt wurde. Mit erwünschten Erfolgen und schließlich auch mit weniger erwünschten Nebenwirkungen. 

 

Wissenschaft ist nämlich in jedem Fall ein menschliches Agieren, das Zwecke verfolgt und erreichen kann.

 

Welche Zwecke das sein können - diese Frage hat Aristoteles klarer als andere gestellt und mit ihr in seine Tätigkeit und in ihre Gliederung eingebaut.

 

Er hat drei Zwecksetzungen namhaft gemacht und dementsprechend die poietischen (oder technischen), die praktischen und die theoretischen Wissenschaften unterschieden.

Innerhalb der theoretischen Wissenschaften unterschied er die Physik, die Mathematik und die Theologie.

Das später „Metaphysik“ genannte Buch hat er zumeist der Theologie zugerechnet, obwohl diese Thematik nur einen ganz geringen Teil ausmacht. Immerhin führt dieser Teil die in der Physik aufgeworfene Frage nach den Ursachen weiter und angeblich auch zu einem Ende, verläßt jedoch den Bereich der physischen Ursachen und kippt in eine psychisch-noetische Ursachenangabe, die allerdings mit interessanten qualitativen Angaben wie Lustrealisierung, Gutheit und Schönheit, Lebendigkeit angereichert wird

 

Allerdings versäumt es Aristoteles bzw. der auf uns gekommene Texttorso, die Themenverteilung der sogenannten Metaphysik zwischen Ontologie und Theologie explizit anzugeben. Die Ontologie wird zwar mit dem Leitsatz von der vielfachen Bedeutung des Seienden oder des Seins inhaltlich charakterisiert, aber als eigene Untersuchungsrichtung wird sie nicht statuiert. Die weitläufigen Ausführungen über die Seinsmodalitäten Wesen und Akzidenzien, Vermögen und Verwirklichung, Eines und Vieles, wahr und falsch bilden faktisch die Ontologie, die jedoch weder von der Physik noch von der Theologie abgegrenzt wird. Auch nicht von der Logik, aus der sie unmittelbar hervorzugehen scheint – man könnte sie sogar als „objektorientierte Logik“ bezeichnen. 

Ihr pluraler Charakter ist so entscheidend, daß man von einem „ontologischen Pluralismus“ bei Aristoteles sprechen kann - nicht zu verwechseln mit dem Meinungspluralismus, den es in der Philosophie wie auch anderswo gibt.

 

Der ontologische Pluralismus steht in scharfem Kontrast zur Charakterisierung des Unbewegten Bewegenden, auch Denkungsdenkung genannt – die einzige explizite aristotelische „Singularität“. Welche allerdings wesentliche Aspekte aller Seinsmodalitäten und sogar fast aller Realitätsbereiche in sich vereint. Die Seinsmodalitäten sind die diversen gerade genannten Dimensionen der Ontologie. Die Realitätsbereiche werden mit solchen Bezeichnungen wie Natur und Kunst, beseelt und unbeseelt, Tier und Mensch, vielleicht auch Mensch und Gott gefaßt.

Nun aber die hartnäckigen Kritiken an überzogenen Zahlentheorien, die wir im Buch XIII lesen – zu welcher Untersuchungsrichtung gehören sie? Am ehesten wohl doch zur Ontologie, zur Klärung der in den tatsächlichen Gegebenheiten vorliegenden Spannung Einheit-Vielheit.

 

Allerdings betätigt sich hier die ontologische Untersuchung weniger direkt als Betrachtung dieser Spannung bei den Objekten sondern sozusagen intersubjektiv oder intertheoretisch als Kritik an bestimmten Auffassungen von Einheit und Vielheit, als Kritik von Verständnissen der Zahlen, Verständnissen bei bekannten Theoretikern von sogenannten Vorsokratikern bis zum bekanntesten Nach- bzw. Hauptsokratiker Platon, bei dem Aristoteles selber zwanzig Jahre lang als Schüler dann wohl auch als wissenschaftliche Hilfskraft oder gar als jüngerer Kollege dazugehört hat. Sodaß er selber als Platoniker gelten müßte, wäre da nicht der große Dissens über die Ideenlehre, der auch auf das Zahlenverständnis übergreift. 

Es handelt sich also um Darstellung und Kritik bestimmter Lehrmeinungen, wobei die Kritik manchmal ins Polemische gerät.

Läßt sich erahnen, warum Aristoteles bei dieser anscheinend rein abstrakten Thematik ins Polemisieren gerät, obwohl er doch kaum als aggressiver Typ bekannt ist.

 

Warum diese Hartnäckigkeit und dieser scharfe Ton gegen eine Überhöhung und Sakralisierung der Zahlen, die unbestreitbar irgendwie gegeben sind und vielfach wiederholt und gebraucht werden? 

Er wendet sich dagegen, daß man den Zahlen eine höhere oder auch nur gleichwertige Seinsweise zuspricht – als oder wie den Entitäten, die allein (oder fast allein) im vollen Sinn des Wortes „abgetrennt“ existieren, also „existieren“ im strengen Sinn (der im lateinischen Wort sehr gut zu hören ist, wenn man hören kann). Das präzise und deutliche griechische Wort dafür würde am ehesten lauten hyparchein und vielleicht auch noch energein, wenn dieses medial oder intransitiv verstanden werden könnte. Hingegen das Grundwort der Ontologie, das einai, das ist ein eher schwaches sein, gegeben sein - und daher als flexibles Grundwort geeignet, das unterschiedliche Modalitäten, Intensitäten, Versionen oder Wendungen oder Tropen des „seins“, das ich hier lieber klein schreibe, um es richtig anzuschreiben. Richtig in seiner Bescheidenheit, Wendigkeit, Resilienz.

 

Wem aber kommt das starke Sein, das Existieren, das selbständige Vorkommen und Auftreten zu? Das Wirklichsein, das Seiendsein, wie Platon sagen würde, der es aber gerade nicht so zuteilt wie Aristoteles. Der nämlich verleiht den Ehrentitel des starken „Seins“ den – Körpern. Den Pflanzen, den Wassern, den Lüften, den Erden (und zwar allen, nicht nur den sogenannten seltenen, die jetzt in der Zeitung stehen, weil sie knapp werden, sondern allen, es werden nämlich alle knapp, die Sande und die fruchtbaren Böden und so weiter)[1] und so weiter. Und den Tieren und Menschen und Sternen.

 

Nur solchen komplizierten Dingen, die aus Stoff und Form zusammengesetzt sind, aus Wesen und Akzidenzien, aus Einheit und Vielheit, aus Möglichem und Wirklichem und so weiter – spricht er die Leistung des vollen Seins zu. 

 

Den zusammengesetzten Dingen, den physischen oder materiellen Dingen. Das können zur Not auch künstliche Dinge sein – wie Statuen, Häuser, vielleicht sogar Dingen, die hauptsächlich aus Sprache bestehen, wenn sie gut gemacht sind, zum Beispiel Tragödien. Vielleicht sogar Büchern, wenn sie gut komponiert sind – wie etwa die Poetik. Die allerdings ist schwer beschädigt, da das sogenannte Zweite Buch verloren gegangen ist. Aristoteles hat die Beschädigten in sein Begriffslexikon aufgenommen und von den Zerstörten unterschieden, welche nur noch aus Zusammensetzungsteilen bestehen, die auf einer niedrigeren Stufe auch noch existieren, nämlich als Tonscherben, Inschriftreste oder so. Nur mit Nachsicht kann das Buch namens Metaphysik als Gesamtwerk als seiend betrachtet werden. 

 

Wenn wir dem Buch diese Nachsicht nicht schenken durch Nachlesen, Nachschauen, Nachdenken und Nachreden, wenn es nur so herumliegt als unverständliches langweiliges Buchstaben- und Wörterkonglomerat, das trotz Vorlesung der Protokolle immer wieder vergessen wird, oder gar nur als fliegendes Blätterchaos, das nicht mehr geordnet werden kann, dann ist es eben nur so ein Materialienkonglomerat - aber immer noch wirklicher als irgendeine pure Zahl oder eine bloße Form.

 

Das heißt das endlose Herumkritisieren an überzogenen Zahlentheorien wird von zwei Motiven bewegt hervorgerufen und erzeugt: 

 

erstens von einem positiven Motiv nämlich von der Überzeugung, daß die materiellen Dinge realer aktueller und akuter sind als alle rein gedanklichen Dinge mögen die auch noch so rein und erhaben und großartig sein (nur ein einziges Ding stellt Aristoteles über die materiellen Dinge (stattet es jedoch mit fast allen positiven Eigenschaften materieller Dinge aus – was für eines?)).

 

Dieses Motiv könnte man als „Materialismus“ bezeichnen – wäre nicht dieser Ausdruck seit dem 18. oder 19. Jahrhundert nach Christus von modernen das heißt einseitigen und fanatischen Theorien angeeignet und mißbraucht worden. Man sollte es eher als „Materialistik“ bezeichnen – das ist kein weltanschauliches Meinen sondern ein Ensemble von kognitiven Vorgangsweisen (so wie der Zugang zum Deutschen nicht durch einen „Germanismus“ erreicht werden kann sondern eher durch Methoden der „Germanistik“). 

 

Zu den materiellen Dingen gehören allerdings nicht nur armselige, beschädigte oder abfallartige, sondern auch schöne: also schöne Statuen oder schöne Frauen oder schöne Landschaften, Seeschaften.

 

Als negatives Motiv der aristotelischen Zahlentheorie-Kritik vermute ich einen polemischen Widerspruch, eine zornige Ablehnung, ja eine vorausschauende Angst vor einer erkenntnispolitischen Einstellung ja Weichenstellung, welche das menschliche Denken, auch das genialste, gerade das genialste, über alles stellt, was gedacht, erforscht, untersucht und erkannt werden kann, also auch über die möglichen Objekte, insbesondere die real existierenden Objekte. 

 

 

In unserem Text nimmt diese verkehrte und verhängnisvolle Weichenstellung die Form des Zahlenfetischismus oder Mathematismus an. Der mag sich bei Pythagoras und eventuell bei Platon noch relativ harmlos, weil eingebettet in ein grosso modo  richtiges Wirklichkeitsverständnis ausnehmen. Aber wenn die Mathematik – oder jede andere Wissenschaft – ihren speziellen Realitätszugang oder auch nur ihre spezifischen Objekte unverhältnismäßig überwertet, ist die Bahn in schwerwiegende Illusionen, Irrtümer und sogar Leugnungen offen.

 

„Mathematismus“ – dieser Ausdruck ist mir jetzt gerade für die bei Aristoteles auftauchende Problematik eingefallen. Vermutlich in Anlehnung an den Begriff „Szientismus“, der am Anfang des 20. Jahrhunderts für die Option eingeführt worden ist, wonach alle Probleme, die theoretischen, die technischen und die praktischen, von den Wissenschaften, vornehmlich von den Naturwissenschaften, gelöst und zwar endgültig gelöst werden können und weil können auch sollen und womöglich müssen.

 

Damit beziehe ich die aristotelischen Ausführungen des Buches XIII auf eine größere Problemstellung, die sich durch die Mathematisierung der Naturwissenschaften seit der frühen Neuzeit aufgebaut hat und von vielen Naturwissenschaftlern, Wissenschaftstheoretikern, Philosophen zum Thema gemacht wird. So auch von meinem Lehrer Eric Voegelin. Neuerdings von Bruno Latour, der in der Moderne ein großes Reinemachen am Werk gesehen hat. 

 

Die Mathematisierung der Naturwissenschaft ist keineswegs eine rein theoretische oder „akademische“ Angelegenheit. Sie ging Hand in Hand mit einer Abwertung, einer Entmächtigung des Objekts „Natur“. Und mit einer korrelativen Steigerung der Menschenmacht – wie sich zeigt, eine teilweise illusorische Unternehmung.

 

Man muß aber nicht unterschlagen, daß die aristotelische Theorietradition, die seit der Spätantike eine abwechselnd starke Rolle gespielt hat, auch erkenntnisblockierend gewirkt haben dürfte. Im Rahmen einer Gelehrsamkeit, die das Bücherwissen über die Sachkennntnis gestellt hat: „Biblizismus“ auch außerhalb der christlichen Religion und „Logizismus“ als Verabsolutierung der Logik, ein verhängnisvoller Irrweg, dem mathematizistischen nicht unähnlich.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe I. Gurschler, A. L. Hofbauer, A. Klose (Hg.): Erden. Naturphilosophische Brocken (Wien 2022)

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