τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 12. Juni 2023

In der Metaphysik lesen (1089a 16 – 1089b 27)

 7. Juni 2023

 

Das letzte Protokoll ist nicht besonders klar gewesen; es muß aber jetzt nicht im einzelnen verbessert werden, denn der aristotelische Text bleibt auf seiner inhaltlichen Linie und wird daher vielleicht die Sache nachträglich noch deutlicher machen.

 

Nach der interessanten Unterscheidung zwischen dem Unaufhörlichen und dem Ewigen, die als ein Beitrag zur Charakterisierung des UB – DD-Komplexes gesehen werden kann, wendet sich Aristoteles wieder einmal der Kritik der Lehre seines Lehrers Platon zu.

 

Und zwar geht er jetzt nicht auf die Lehre von den sogenannten Ideen ein, die den in der Welt vorkommenden Wesen und Eigenschaften zugrunde liegen sollen, sondern auf die Prinzipienlehre, welche zur sogenannten Ungeschriebenen Lehre gehört und jenseits der Ideen ein zweifaches Prinzip annimmt: das Eine und die unbestimmte Zweiheit. Aristoteles kritisiert an dieser Auffassung, daß sie wegen ihrer hohen Abstraktheit zusätzliche Elemente einführen müsse: das Ungleiche und das Bezügliche. Außerdem müsse sie das Seiende wie auch das Nicht-Seiende zu Prinzipien erklären.

 

Alle diese Annahmen seien jedoch ungeeignet, die Mannigfaltigkeit zu erklären, die sich durch die gesamte erfahrbare Realität durchzieht: sowohl als Mannigfaltigkeit der Realitätssorten wie auch als Vielheit der Seinsmodalitäten.

 

Vor allem die letztere wird hier immer wieder als Tatbestand festgehalten.

 

Das Eine und die unbestimmte Zweiheit würden eigentlich nur eine einzige Seinsmodaliät, nämlich die Quantität, für das Zustandekommen aller übrigen verantwortlich machen.

 

Damit würden unbestreitbare Erfahrungstatsachen mit eigenem Profil auf andersartige, angeblich höherrangige zurückgeführt.

 

Aristoteles nennt hier so schlichte, banale oder auch erstaunliche Tatsachen, wie die, daß es zweierlei Weiß gibt oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren. „Zweierlei Weiß“ – diese richtige Übersetzung unterschlägt beinahe, daß „Weiß“ hier eigentlich im Plural gemeint ist – aber die deutsche Sprache, läßt eine deutliche Pluralbildung nicht zu.

 

Damit stoßen wir auf eine Eigentümlichkeit des Deutschen, die mir vor Jahrzehnten schon aufgefallen ist, als ich mich in die französische Sprache hineingearbeitet habe. Im Französischen habe ich manche Plurale gesehen, die von den deutschen Übersetzern unterschlagen werden, weil die deutsche Sprache irgendeinen Anti-Plural-Bazillus in sich trägt, der eigene Untersuchungen verdienen würde.

 

Und Aristoteles sieht in gewissen platonischen Lehren eine ähnliche Pluralfeindlichkeit.

Die vielen Farben, Flüssigkeiten und Figuren können aus dem platonischen Doppelprinzip Eines und Zweiheit nicht erklärt werden, denn sie sind ja keine Zahlen und Einsen. Allerdings hat Isaac Newton die Farben in Zahlenwerte verwandelt – was bekanntlich auch irgendwie stimmt, wenn man ein bestimmtes Substrat zugrundelegt, das allerdings selber ein andersartiges ist. Das wurde ungefähr hundert Jahre nach Goethe bemerkt und richtiggestellt.

 

Die drastische Formulierung des Aristoteles, die vielen Farben, Flüssigkeiten und Figuren seien doch keine Zahlen, verdient jedoch noch mehr Aufmerksamkeit. Zumal sie von der Bemerkung eingeleitet wird, es gebe zweierlei Weiß.

 

Was ist das für eine Aussage, wie kommt die zustande? Aus welchem Bereich kommt sie?

 

Wohl doch nicht aus der Kategorienlehre, die ja ein Stützpfeiler des „pollachos legomenon on“ ist. Vor dieser Kategorienlehre beziehungsweise vor der ganzen Lehre von den vielen Seinsmodalitäten muß diese Aussage über die beiden Weiß-Töne ihren Entstehungsort haben.

 

„Weiß“ ist eine der am häufigsten von Aristoteles genannten Eigenschaften – zumeist als Eigenschaft von Menschen, nur selten konfrontiert mit „schwarz“ als anderer Menscheneigenschaft beziehungsweise Hautfarbe.

 

Bei „zweierlei weiß“ kann es vielleicht auch um die menschliche Hautfarbe gehen (obwohl oder weil die kaum je wirklich weiß ist sondern viel mehr Nuancen aufweist als bloß zwei).

 

Von zweierlei Weiß kann nur jemand reden oder schreiben, der Augen hat und dann auch noch den Mut, so eine feine Erscheinungsdifferenz mit so schlichten Wörtern zu benennen.

 

Sagen, was man sieht. Das ist die Leistung oder die Tugend, die so einen Satz möglich macht.

 

Wie nennt man sie – die Leistung oder Tugend?

Auf welcher Ebene liegt sie?

 

Am Ende von Buch XIII (1087a 20f.) hat Aristoteles sozusagen den Gesichtssinn zitiert, der die allgemeine Farbe sieht, da die Farbe, die er jetzt gerade sieht, Farbe überhaupt ist. Da geht es um das Zusammenspiel von Einzelnem und Allgemeinem. Aber den Anlaß bildet ein Sehereignis, wie banal, alltäglich und gewöhnlich es auch sein mag. Und daran angeschlossen hat er den Grammatiker, also den Schriftgelehrten, der, indem er jetzt gerade dieses A sieht, ein A überhaupt sieht.

 

Auch mit diesem immerhin Doppelbeispiel hat Aristoteles in die sogenannte Metaphysik etwas eingeführt, was ihr fremd zu sein scheint, obwohl er es dann doch in sein Lehrgebäude integriert.

 

Jetzt geht es gerade um den Abschnitt des Lehrgebäudes, der dann als „Ontologie“ bezeichnet worden ist. Den er jedoch offensichtlich zu Lebzeiten nur mit Mühe klarmachen konnte.

 

Vielleicht deswegen, weil dieses Lehrstück nicht gut zum Hauptkapitel des Unterrichtsprogramms paßt, wo es doch um die Theologie gehen sollte. Doch diese Ontologie, die schon die Bücher IV, V, VII, VIII, IX, X mit ihren Begriffsunterscheidungen gefüllt hatte, scheint immer noch zusätzliche Ergänzungen, Anregungen, vielleicht sogar Impulse zu brauchen, um mit dem, worum es ihr geht, gegen vorherrschende Denkgewohnheiten oder Theorien anzukommen.

 

Die zuletzt bemerkten Impulse scheinen aus der Konstellation Wahrnehmung-Erscheinung zu stammen, zu der auch der Mut zum Reden gehört, denn wenn man die Wahrnehmungen die man macht, die Erscheinungen, die man hat, verschweigt, dann bleibt alles beim Alten, und die Erscheinungen bekommen keine Chance, das Meinen, das immer schon da ist, bei einem selber und bei den anderen, zu stören, aufzuwecken und zu anderen Ansichten zu bekehren, zu erweitern.

 

Die Konstellation Wahrnehmung-Erscheinung, läßt sich die einem bestimmten Bereich zu zuordnen? Ein moderner Begriff dafür wäre „Ästhetik“. Von der Ästhetik als Wahrnehmungslehre führt ein Weg zur Physik als der Wissenschaft von den naturhaften Erscheinungen, der wechselhaften; und ein Weg zu den Künsten, den visuellen und akustischen.

 

Mit seinen knappen ästhetischen Beispielen möchte Aristoteles die von ihm konzipierte übergroße Wissenschaft davor bewahren, sich in reinen und endlosen Gedankenkonstruktionen zu verlieren.

 

Vielleicht wird man das Einbrechen der Wahrnehmung-Erscheinung in die Metaphysik noch näher betrachten können - falls noch etwas Blitzartiges daher kommt.

 

Das Theologie-Stück produziert eine Gott-Figur, die sich durch endlich viele aber unendlich intensive Tätigkeiten auszeichnet.

 

Die Ontologie insistiert darauf, daß diese eine (und keineswegs allmächtige) Gott-Figur der Welt keine totale Einheitlichkeit aufzwingt.

 

 

 

Aristoteles wirft Platon vor – oder eher den Platonikern, und damit seinen eigenen engsten Mitschülern und Kollegen, daß sie um die Erklärung der Dinge aus dem Seienden und dem Einen zu stützen, zum Bezüglichen und zum Ungleichen greifen, obwohl diese kein Gegenteil und keine Verneinung des Seienden und Einen darstellen sondern bestimmte Naturen der Seienden wie das Was oder das Quale.

 

Mit der Vielheit der Naturen ist hier nicht die Mannigfaltigkeit der Gattungen und Arten gemeint, sondern die der Seinsmodalitäten. Aristoteles ist im Gebrauch der Begriffe nicht immer konsequent. Aber so einen einfachen Trick, wie den, die Erklärung aller Dinge aus „dem“ Seienden dadurch plausibel zu machen, daß er für „das“ Seiende auch „das“ Nicht-Seiende einsetzt, erlaubt er sich nicht.

 

Mit dem großen Trick, einfach die Negation einzusetzen und damit einen Anschein von Mannigfaltigkeit zu erzeugen, den Anschein von Monismus zu vermeiden, hat Hegel im 19. Jahrhundert nach Christus großen Erfolg gehabt. Zunächst nur literarischen Erfolg, dem bald auch andere Erfolge folgen sollten.

 

Aristoteles hält den von ihm kritisierten Theoretikern vor, daß sie die Vielheit der von ihnen herangezogenen Eigenschaften nicht untersuchen. Allerdings wird er jetzt schon wieder vom modernen deutschen Übersetzer bestätigt, der sich nicht in der Lage sieht, das Ungleiche in den Plural zu setzen (ist ja auch schwierig!), beziehungsweise nicht den Mut aufbringt, der pluralfeindlichen deutschen Sprache einige Rucke zu versetzen und ihr einige ungewohnte Plurale aufzuzwingen.

 

Das aristotelische Engagement für den Plural wird von mir aufgegriffen und fortgesetzt.

 

Die Vielheit der Ungleichen wird auch von denen, die sie nicht wahrhaben wollen, schreibend performativ anerkannt und realisiert, weil sie nämlich deren verschiedene Arten oder Dimensionen richtig benennen: diejenigen, die zu den Zahlen, die zur Länge, die zur Fläche, die zu den Volumen führen.

 

Die Frage nach der Ursache dafür, daß die Bezüglichen viele sind, bleibt offen.

 

Eine weitere wichtige Unterscheidung geht dahin, daß für jedes ein Vermögendes anzunehmen ist.

 

Wobei keine Verwechslungen statthaben sollten. Das Bezügliche ist weder das dem Vermögen nach Eine oder Seiende noch die Verneinung des Einen oder Seienden.

 

Damit zwingt man sich allerdings auch dazu, jeden Begriff, den man verwendet, definieren zu können, indem man ihm sein spezifisches Profil zuspricht. Sondern ein Was von den Seienden. Ein bestimmtes Etwas, ein bestimmtes Seiendes neben den anderen Seienden. Und seine Bestimmtheit sollte man formulieren können.

 

„Das Seiende“ ist weit weg von meiner Sprachgewohnheit, von meiner Umgangssprache. Eher: „Entität“.

 

 

Wenn man sie nicht formulieren kann oder will, sollte man darauf verzichten, die Begriffe zu verwenden.  

 

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß man, um etwas zu verstehen, es verständlich machen muß, indem man es in Umgangssprache übersetzt.

 

Man muß es einem anderen, irgendeinem anderen, sagen können.

 

Einen Begriff definieren heißt, mit anderen Wörtern das bezeichnen, was mit dem Begriff bezeichnet wird.

 

Nicht einmal Definitionen, die ja nur in beschränktem Ausmaß ordentliche Aussagen sind, dürfen Tautologien sein.

 

Es gibt also zwei – mindestens zwei -Ausrichtungen zu Anderem, die für Aussagen verbindlich sind.

 

Aussagen haben Allo- oder Heterologien zu sein.

 

Walter Seitter

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