τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 16. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen * Wissenschaftsklassifikation

13. Oktober 2021

 

 

Da sich gezeigt hat, daß die im Buch XII vorgeschlagene und formulierte philosophische Theologie, die von Aristoteles als die Spitze der theoretischen Wissenschaften eingeführt wird, mit den „praktischen“ Kriterien der Gutheit und Bestheit operiert, die über das Theoretische im modernen Sinn hinausgehen, möchte ich untersuchen, ob die theoretischen Wissenschaften etwa auch mit dem Poietischen näher zusammenhängen, als die klare Grenzziehung zuzulassen scheint.

 

Dazu muß zuerst geklärt werden, was es mit der Einteilung der Wissenschaften in poietische, praktische, theoretische auf sich hat – denn auch dieses aristotelische Lehrstück ist kaum wirklich bekannt. Um über die drei Wissenschaftsgattungen Klarheit zu gewinnen, empfiehlt es sich sich die drei Leistungstypen vor Augen zu halten, denen die Wissenschaften zugeordnet sind. 

 

Poietische Leistungen sind Eingriffe in die materielle Umwelt, und zwar wunschgemäße – man nennt sie auch „Künste“, wobei in der Antike diese nicht auf „die Kunst“ beschränkt sind. Man kann sie auch „Techniken“ nennen.

 

In den praktischen Leistungen geht es darum, wie man miteinander zurechtkommt. Die ihnen zugeordneten praktischen Wissenschaften sind die Ethik, Ökonomik, Politik. 

 

In den theoretischen Leistungen geht es „nur“ darum, wahrzunehmen, zu überlegen, einzusehen, zu verstehen und zu sagen - was ist. 

 

Die poietischen Wissenschaften sind solche, die klären wollen, wie poietische Leistungen, das heißt Künste, Techniken, Fertigkeiten am besten durchgeführt werden. Solche Künste sind die Dichtkunst, die Heilkunst, die Kochkunst und dergleichen. Sophia Panteliadou erwähnt auch eine relativ neue, nämlich die Ausstellungskunst, die von Kuratoren ausgeübt wird und für die an den Kunsthochschulen jetzt Ausbildungsgänge eingerichtet werden, womit eine neue poietische Wissenschaft in die Welt gesetzt wird.

 

Die berühmteste poietische Wissenschaft ist wohl die „Poetik“, die schon rein sprachlich sehr naheliegt und die von Aristoteles selber in einem eigenen Buch (leider nicht vollständig erhalten) abgehandelt worden ist, welches Buch noch dazu hier von 2007 bis 2010 gelesen worden ist, was wiederum in zwei Merve-Bänden dokumentiert ist. Auch für die anderen eben erwähnten Künste muß es in einer wissenschaftlich orientierten Kultur entsprechende poietische Wissenschaften geben und eine solche Kultur gibt es mit Sicherheit seit Aristoteles. Also gibt es für die Heilkunst, als Hinführung zu ihr, die Heilkunde. Unser modernes Wort „Medizin“ umfaßt beide. Es gibt die Kochkunde, die Gastronomie, die ebenfalls an bestimmten Schulen gelehrt wird. Generell kann man sagen, daß die poietischen Wissenschaften häufig in „Lehren“, also in Ausbildungen bei „Meistern“ praktiziert werden.  

 

Diese Wissenschaftsklassifikation unterscheidet sich gravierend von der neuzeitlichen - aber Kunst- und Technische Hochschulen praktizieren seit langem so etwas wie die poietischen Wissenschaften. Da zeigt sich, daß aristotelische Begrifflichkeit bis heute faktisch funktioniert, auch wenn sie etwa wegen der Kategorie „Wesen“ von eingebildeten Modernen abgelehnt wird.

 

Werfen wir einen Blick in das Leben des Aristoteles, so erfahren wir, daß er mit siebzehn Jahren aus dem weit entfernten Stagira nach Athen gegangen ist, um in der platonischen Akademie zu studieren. Die war so etwas wie eine private Hochschule. Welche Wissenschaften hat man da gelehrt bzw. studiert? Mehr oder weniger solche in statu nascendi und wohl kaum solche, die er später „poietische“ genannt hat. Ein bißchen näher war man wohl an den „praktischen“ Wissenschaften Ethik und Politik, die in Platons Schriften eine große Rolle spielen (wenngleich seine persönlichen Versuche in Sizilien eher unter „Lehrgeld“ fielen). Am ehesten waren es wohl „theoretische“ Wissenschaften, die bei Platon „Dialektik“ hießen oder „Ideenlehre“. Die Geometrie galt als Voraussetzung. 

 

Diese theoretischen Wissenschaften waren seit Sokrates und den Vorsokratikern bereits in einer gewissen Entwicklung begriffen.

 

Aristoteles hat als theoretische Wissenschaften drei namhaft gemacht: Physik als die erste (aber als Philosophie die zweite); dann Mathematik, der er den Titel Philosophie verweigerte (wegen zu schwachen Realitätsbezugs); drittens diejenige, mit deren Titulierung er unsicher war: entweder Erste Philosophie oder Theologie. Sie bekam dann dreihundert Jahre nach seinem Tod mit dem Buchtitel Metaphysik diesen nachträglichen Namen. Der aber die aristotelische Unsicherheit über die Titulierung der dritten theoretischen Wissenschaft nur notdürftig verdeckt. 

 

Die Bezeichnung „Theologie“ für die gesamte dritte theoretische Wissenschaft ist eine krasse Fehlbezeichnung, denn sie trifft nur für höchstens zehn Seiten des Gesamttextes zu. Den überwiegenden Teil nehmen Ausführungen zu einer Wissenschaft vom „Seienden als seienden“ ein, die erst von Aristoteles erfunden worden ist und viel später den Namen „Ontologie“ bekommen hat. 

 

Die Erfindung einer weitgehend neuen Wissenschaft mitsamt dem Einbau einer nicht ganz so neuen „Theologie“, welche direkte Vorläufer bei Vorgängern hat und obendrein sich distant an die Volksreligion anlehnt – das ist eine Erfindung, der man den Titel einer Poesie nicht versagen kann, welcher wiederum nachträglich ein poetisches Können und somit auch eine poietische Lehre zuzusprechen ist. 

 

Insofern alle Wissenschaften von Menschen gemacht sind – Machenschaften, liegt ihnen allesamt Poietisches zugrunde. Denn poietisch heißt „macherisch“ (poetisch = dichterisch). 

Und insofern implizieren sie alle – aristotelisch gedacht – auch poietische Wissenschaften. In denen das aufklärende Sagen, das ordnende Schreiben, das Komponieren eines verständlichen Textes, das schriftstellerische Zusammenbasteln oder -konstruieren eines klaren Schriftgestells gelehrt wird oder worden sein muß. Diese poietischen Wissenschaften hat Aristoteles nicht als solche sondern in seinen diversen und umfangreichen Schriften zur Logik ausgebreitet. 

 

Zur „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ fragt Bernd Schmeikal, der von Molekülen gehört hat, die einander spüren, ob da das Seiende sich selber denkt - ? Aristoteles: nur Menschen denken!  Und doch denkt er in seiner Theologie ein hybrides, ein Superwesen, das denkt und nur denkt und zwar nicht mit ohne sondern mit Leben und Lust. Ein Poem in steifer Prosa, das nur zustandekommt, wenn mehrere Wissenschaften davor und daneben durchgezogen worden sind – eine ausführliche Physik, eine kaum lesbare und langwierige und noch nicht gelesene (siehe Buch XIII und XIV) Ontologie …   

 

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Mag sein, daß Rainer Marten mit seinem Buch Denkkunst. Kritik der Ontologie (Freiburg-München 2018) den hier skizzierten quasi aristoteles-immanenten Denkschritt ebenfalls vollzieht. Doch überhöht er ihn derart mit schönen Begriffserweiterungen, daß er kaum sichtbar wird.

 

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Zur „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ fragt Bernd Schmeikal, der von Molekülen gehört hat, die einander spüren, ob da das Seiende sich selber denkt - ? Aristoteles: nur Menschen denken!
    Bernd Schmeikal hat das nicht gehört, sondern gesagt, und es sagt es seit vielen Jahren. Diese Aussage entspricht einer Abgleichung von innerer und äußerer Erfahrung und stellt eine subjektive Erkenntnis dar, die als verbindlich betrachtet und vermittelt wird. Die Selbstreferenz natürlicher Intelligenz im Bereich der Materie beruht auf der Existenz einer Schnittstelle - den Morphemen der Orientierung – in der ausgedehnte Dinge mit kognitiven Dingen verbunden sind. An dieser ‚Stelle der Erfahrung‘ ist Logik (Denken) mit Geometrie (Materie) verbunden. Dieser morphogenetische Link – dieser selbstreferentielle Punkt der Erfahrung - ist nicht auf Menschen und menschliches Denken beschränkt. Bernd Schmeikal sagte das bereits zu einer Zeit, als Anatol Rappoport Direktor des IHS Wien war (1980-83), und zwar nach einer Reihe von Gesprächen zu diesem Thema. Heute gibt es zahlreiche Publikationen von Schmeikal (kurz ‚bas‘), in denen sich diese Phänomenologie dargestellt findet.

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