τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 22. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075a 25 – 38)

 20. Oktober 2021

 

Vor längerer Zeit wurde hier erwähnt, daß mir erst vor kurzem die Existenz des Hermann von Kärnten bekannt geworden ist - und zwar durch eine im Vorjahr in Klagenfurt erschienene Biographie (geschrieben als fiktionale Autobiographie): 

Mario Rausch: Hermann de Carinthia. Eine Biographie (Klagenfurt 2021)

 

Jener mittelalterliche Wander- und Übersetzergelehrte hat im 12. Jahrhundert nach Christus gelebt, seine ungefähr fünf erhaltenen Bücher sind bisher nur von nicht-deutschen Verlagen ediert worden und jetzt hat Karl Bruckschwaiger sich daran gemacht, dasjenige Werk, das am ehesten der Philosophie zugerechnet werden kann, aus dem Lateinischen/Englischen ins Deutsche zu übersetzen: De essentiis

Am Mittwoch hat er nun angefangen, uns aus dem ersten Abschnitt seiner Übersetzung vorzulesen: Definitionen. Es könnte die erste Hermann-Lektüre in Wien gewesen sein. Die Dinge finden ja nicht nur in der Historie sondern auch in der Geographie statt – wofür gerade dieser Autor exemplarisch ist.

Der Text erinnert irgendwie an den der aristotelischen Metaphysik und wenn man ihn mit Sekundärbegriffen, die in der Aristoteles-Lektüre üblich sind, zudeckt, kann man sich leicht den Eindruck verschaffen, alles zu verstehen. Doch der Sprachduktus ist ein ganz anderer, die Begriffe scheinen anders verwendet zu werden, es werden auch ganz andere, orientalische Autoritäten herangezogen. Daher versuche ich jetzt keine Zusammenfassung - das nächste Hermann-Lesen hier wird am 10. November stattfinden. 

 

*

 

Zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, daß die im Buch XII auf wenigen Seiten ausgeführte „Theologie“ ihren Platz innerhalb einer theoretischen Wissenschaft neben Physik und Mathematik hat. In den beiden genannten Wissenschaften werden neutrale Tatsachen festgestellt oder demonstriert. Die Behauptungen der Theologie operieren indessen von Anfang an mit der Steigerungsskala von irgendwie Gutem (ausgedrückt mit dem winzigen eu) zu allerhöchst Gutem. Daraus ergibt sich meines Erachtens, daß die aristotelische Theologie einen Begriff des Theoretischen voraussetzt, der „Betrachtung“ in einem empathischen und emphatischen Sinn impliziert.

 

Übrigens hat Francis Ponge in seinem Sonnen-Buch religiöse Anwandlungen zwar vermeiden wollen, aber der eher neuzeitliche als antike Begriff „Gegenstand“ scheint ihm dennoch unangemessen für den Gegenstand „Sonne“ – weshalb er ihn mit Zusatzbegriffen wie „Gegenspiel“, „Gegenfreude“ suppl(ement)iert. Begriffsschöpfungen eines angeblich begriffslosen Dichters.

 

 

Auf der anderen Seite werfe ich die Frage auf, ob die theoretische Theologie des Aristoteles mit den poietischen Leistungen, als welche in der Antike alle möglichen Künste von der Kochkunst bis zur Baukunst galten, vielleicht mehr zu tun hat, als ihrer hohen Würde zu entsprechen scheint. Diese poietischen Leistungen setzen nämlich bei ganz banalen und oftmals minimalen Eingriffen in die materielle Umwelt an – etwa mit schwarzen Buchstabenzusammenstellungen auf weißem Papier. Aber die müssen gekonnt sein. 

 

Zur Verdeutlichung stelle ich eine etwas hinterhältige Frage, die einen Nebenschauplatz betrifft - nämlich die Heiligen Schriften des Alten wie auch des Neuen Testaments. Wie sind diese Schriften zustandegekommen – und zwar in der maßgeblichen Auffassung der religiösen Tradition? Wolfgang Koch antwortet sofort: durch Offenbarung Gottes.

 

Tatsächlich sind diese Schriften sowohl nach jüdischer wie auch nach christlicher Auffassung von menschlichen Autoren geschrieben worden – aber (doch was heißt: aber ?) mit göttlicher Inspiration. Wer noch nie selber geschrieben hat – aber inspiriert, wird das nicht verstehen. Anders die islamische Auffassung von der Entstehung des Korans. Übrigens ist Hermann der Kärntner seinerzeit vielleicht mit seiner Koran-Übersetzung (ins Lateinische für Petrus Venerabilis) am bekanntesten geworden - denn das war eine religionspolitische Sensation.

 

Auf meinen Einwand antwortet Wolfgang Koch, er gebe eben eine fromme Antwort und es sei doch wohl erlaubt, fromm zu sein. Ja das ist erlaubt, aber auf eine wissenschaftliche Frage sollte man eine wissenschaftliche Antwort geben – und die verstößt in diesem Fall überhaupt nicht gegen die Frömmigkeit, sondern eher gegen ein Kokettieren mit menschlicher Ohnmacht. Eine wissenschaftliche Antwort ist eine, die nicht nur von Freunden oder Anhängern akzeptiert wird, sondern auch von Fremden.

 

Und so bzw. ein bißchen anders ist auch die aristotelische Theologie ein menschliches Machwerk, heideggerisch eine Machenschaft – vielleicht eine gekonnte, eine einigermaßen schlüssige Antwort auf die Frage des Buches I, die im Buch I schon beantwortet worden ist, aber wohl doch zu schnell. Dann hat Aristoteles von Buch II bis zum Buch XI den Aufschub, den Umweg zu einer sehr späten Antwort vorbereitet – Umwege erhöhen die Ortskenntnis! Sein Aufschub, sein Umweg, der nahm die Form der sehr langwierigen und viel später „Ontologie“ genannten Wissenschaft vom Seienden als seienden an. Mit dem Begriffspaar Vermögen-Verwirklichung – mit dem hat er es gemacht und nicht mit dem lateinischen Wort „Prozess“ – das war im 4. Jahrhundert (vor) noch nicht in die Philosophensprache eingedrungen. 

 

Jedenfalls hat Aristoteles seine Theologie so gemacht wie er sie gemacht hat. Es gibt nur menschengemachte Theologien – man kann auch weiterhin welche machen, aber bitte nur, wenn’s unbedingt sein muß, das heißt, wenn man etwas Besseres zu bieten hat. 

 

Aristoteles bleibt bei der allgemeinsten Ursachenfrage und nennt eine ihm bekannte Antwort – mit einer überraschenden Formulierung: „Alle machen aus Gegenteilen alles.“ (1075a 27). Eine extrem lakonische Aussage mit dem einzigen Verbalprädikat „machen“. Mein Übersetzer legt es so auseinander: „Alle nämlich lassen alle Dinge aus Gegenteilen hervorgehen.“ Noch deutlicher: „Alle sagen, daß alle Dinge aus Gegenteilen entstehen.“ Aristoteles „macht“ aus theoretischem Behaupten ein „Machen“. Man kann das als eine Vorwegnahme des modernen Konstruktivismus ansehen. Oder eben als ziemlich brutale Reduzierung theoretischer Wissenschaft aufs Poietische. Und im Fall der zitierten Aussage auf die hegelsche Dialektik, die ja Realitätsverhältnisse wie Sprechverhalten auffasst und all das mit „Dialektik“ identifiziert. 

Oder hält Aristoteles nur unzutreffendes theoretisches Aussagen für ein „Machen“? Eher nicht – er rückt das Poietische ins Innerste der theoretischen Wissenschaften und liefert sie damit der Gefahr aus, mit „Erdichtungen“ verwechselt zu werden. Oder der Chance, in die Höhe der Poesie gerückt zu werden.

 

Wen meint er mit „alle“? Es können nur nähere Kollegen von ihm sein – nämlich Universalursachenforscher. Meint er wirklich, daß die alle behaupten, alle Dinge entstünden aus Gegenteilen? Das wäre dann eine Universaltheorie in einem anderen Sinn, eine konsensuale Theorie, der man zur Not eine minimale Zutreffendheit zugestehen könnte, insofern ein Entstehen von etwas aus etwas impliziert, daß das zweite „etwas“ mit dem ersten nicht identisch ist.

Sachlich wendet Aristoteles gegen solche Theorien ein, daß sie das Gute und das Schlechte als gleichrangige Ursachen ansehen, während in Wahrheit allein das Gute als universales Prinzip in Frage komme. Doch müsse man dann noch klären, ob das Gute als Zweck oder als Bewegendes oder als Form Prinzip sei. Womit wohl auch angedeutet ist, daß es zwar Prinzip aller Dinge aber nicht allzuständiges und folglich auch nicht einziges Prinzip sein kann. Eine Einschränkung, die so etwas wie Allmacht strikt ausschließt – was von christlichen Aristoteles-Anhängern gern ignoriert wird. 

 

Da der schon erwähnte Francis Ponge französisch geschrieben hat, stand er dem Latein näher als unsereiner und da er die Dimension der Ursächlichkeit für entscheidend hielt, war der Begriff „Prinzip“ ein wichtiger Gegenstand für ihn und da er ein Sehender war, hat er gesehen, daß die ersten fünf Buchstaben des Wortes so etwas wie „Fürst“ bedeuten, womit er wie Aristoteles einen politischen Aspekt in die Ursachenforschung einfügte – die Nuancierungen zwischen Allmacht und Übermacht und Gewaltenteilung. 

 

*

 

Gleich nach der Hermann- und Aristoteles-Sitzung am Hohen Markt fand im benachbarten Café Korb die Präsentierung des Buches Was ist Leben? (Wien 2021) von Renée Schroeder statt. Franz Schubert las einige Passagen, sodann machte die Biochemikerin einige Ausführungen zu den stofflichen Voraussetzungen des „Lebens“ und zum dazugehörigen Informationsmechanismus. Diese Dinge klingen ganz anders als sie in Aristoteles Buch stehen – aber sie sind nicht etwas ganz Anderes (jedenfalls nicht mit großem A). 

Zur Freude des Publikums verteilte Renée Schroeder einige Produkte aus ihrem „zweiten“ Berufsleben. Sie hat nämlich jetzt ein Haus im Gebirge und dort pflückt und verarbeitet sie Pflanzen, die von selber wachsen (das tun die „von Natur aus“). Ich bekam ein Sackerl mit Brennesselsamen: das sind winzig kleine dunkelgrüne Punkterl, die nicht luxuriös schmecken, aber interessante aphrodisische Wirkungen haben sollen. Ich selber habe an mir vulkanische Wirkungen festgestellt.

 

 

Walter Seitter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen