τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 30. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075b 1 – 24)

27. Oktober 2021

 

Manfred Hulverscheidt (Berlin) hat mich auf den Philosophen Rainer Marten aufmerksam gemacht, von dem ein Buch den Titel Denkkunst. Kritik der Ontologie trägt.

 

Dieser Titel hat mich neugierig gemacht und Neugierde ist ja eine bessere philosophische Tugend als „eh schon alles wissen“. Ich habe schon öfter die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaft, die in der sog. Metaphysik ausgebreitet wird, tatsächlich so eine rein „theoretische“ sein kann, wie behauptet wird. Die beiden anderen Wissenschaftsgattungen bei Aristoteles sind ja die „poietische“ und die „praktische“. Die eine zielt auf poietische Leistungen, also wunschgeleitete Eingriffe in die Umwelt – etwa die Dichtkunst, die Heilkunst, die Kochkunst. Der anderen geht es um die Tugenden, um das Zurechtkommen miteinander. In dem Abschnitt, in dem „der Gott“ plötzlich gefunden wird und begrifflich bestimmt wird, nennt Aristoteles einige soziale Felder, in denen es gut oder vielleicht besser zugeht und zieht daraus Schlüsse für das „Gott“ Genannte. Das ist also ein praktischer Aspekt der sog. Metaphysik (der dann bei Kant viel bestimmender sein wird). Vor der thematischen Einbeziehung des Politischen in die Metaphysik ist für sie wie für alle Wissenschaften, auch die theoretischen, ihre Fundierung durch eine Entscheidung anzusetzen: Entscheidung zu Wissenschaft überhaupt und speziell zu so einer Wissenschaft mitsamt bestimmten Weichenstellungen auch für andere Bereiche.

 

Als den poietischen Aspekt der Metaphysik betrachte ich die Tatsache, daß sie von jemandem, in diesem Falle von Aristoteles, aber auch von einer nachfolgenden weit sich verzweigenden „Arbeiterschaft“ (Aristoteles hat sich selber als Arbeiter verstanden) gemacht worden ist. Jenes Machen impliziert handwerkliches Können auf verschiedenen Ebenen von Stoffsammeln und -organisieren, Lektüre wichtiger Vorläufer, Organisieren eines Schulbetriebes und einer Diskussionsgemeinschaft, Schreiben, später dann Abschreiben, Interpretieren, Übersetzen … eine Masse von Leistungen, die ich unter dem Titel des Schreibens oder der Schriftstellerei zusammenfasse – griechisch vielleicht als „Graphik“ oder als „Grammatik“ bezeichenbar. Wobei das Denken inkludiert sein soll, welches aristotelisch als Zusammenführung und Aufwölbung von Sehen und Sagen zu verstehen ist.

 

Ganz anders der Ansatz von Rainer Marten, der als direkter Heidegger-Schüler seinen Blick auf die Philosophiegeschichte mit Begriffen wie „Seinsfrage“ oder „Seinsdenken“ fokussiert, welche er dann auch noch mit dem Wort „Ontologie“ verquickt. Die drei Autoren, die er zusammenführt, um ihnen sein Thema zu entnehmen, sind Platon, Aristoteles, Heidegger. Er zieht sie sachlich auf einen gemeinsamen Nenner zusammen: Denken als elitäres Insistieren auf einer „Wesentlichkeit“ (etwas viel Erhabeneres als die aristotelische Kategorie des Wesens), von der aus die Niederungen des faktischen Lebens be- bzw. verurteilt werden. Er sieht in seinen drei Kronzeugen einerseits Protagonisten des philosophischen Denkens überhaupt, andererseits aber auch tendenzielle Verkenner und Verfälscher dieses Denkens, das sie entweder mit der Wissenschaft verwechseln oder in Mystizismus entgleisen lassen. 

Aus seiner Analyse, besser gesagt seiner einsichtsreichen Erzählung der europäischen Denkgeschichte kommt Marten zum Schluß, die Philosophie könne die ihr eigene Sendung, dem Denken in der Welt Raum und Zeit zu verschaffen, besser dann erfüllen, wenn sie es als eine mögliche Kunst erfindet und realisiert. Eine Kunst neben den anderen, die es schon gibt. Diese Kunst, er nennt sie „Noetik“, habe ihre eigenen Kriterien, Gebundenheiten und Entschiedenheiten. Zu ihren speziellen Aufgaben gehöre die Intelligibilisierung wie auch die Poetisierung des zu Denkenden. Sie habe wahrheitsliebend, ernst, bejahend zu sein. Sie habe nicht „a solo“ zu denken, sondern „in compagnia“. Im „Einander“.(Ich sage dazu: nicht in der Vergötzung irgendeines „Anderen“)

 

Martens Vorschlag, die Philosophie von Wissenschaft auf Kunst umzupolen, klingt tatsächlich  umstürzend. Die Frage ist, ob es sich um eine rein verbale Umdeutung handelt, ob er den Anspruch auf Erkenntnis und Wissen damit aufgibt oder wie dieser tatsächlich eingelöst werden kann und womöglich besser als bisher.

 

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Wenn ich neulich auf die Brennesselsamen zu sprechen gekommen bin, dann nicht, weil ich hier meine „Innerlichkeit“ ausbreiten will (sowas Dekadentes kenne ich zwar auch, denn auch ich stamme aus dem 20. Jahrhundert nach Christus), sondern weil auch sie sich hervorragend dazu eignen, die beiden Dimensionen der Multikausalität zu veranschaulichen. Erstens sind die Brennesselsamen sozusagen hauptberuflich dazu da, im Sinne der genetischen Information (die von der Wissenschaft nicht abgeschafft worden ist!) als Ursachen für das Entstehen von Brennesseln zu wirken, sie können das aber nur, wenn, wie Bernd Schmeikal bemerkt, viele ganz andere Ursachen und Bedingungen, etwa Erde und Wasser, als Mitursachen dazukommen, die Stoffliches beitragen, und dazu noch das Sonnenlicht usw.. Zweitens können sie etwa in einem menschlichen Organismus zwar nicht Brennesseln hervorbringen, wohl aber andere Wirkungen zeitigen, die mit grünen Brennesselpflanzen anscheinend gar nichts zu tun haben, vielmehr in diesem Organismus akzidenzielle, möglicherweise erwünschte etwa heilsame Folgen haben. 

 

Im Sinne der erstgenannten Multikausalität hätte ich in bezug auf die Verursachung der Heiligen Schriften des Christentums die Aussage von Wolfgang Koch als Hinweis auf eine bestimmte Ursachensorte annehmen können. Denn die Erfahrung von Inspiration zeigt, daß einen ein interessanter Einfall, eine gedankliche Eingebung, erst zum Griff nach Papier und Bleistift, zum Hinschreiben von Wörtern, Sätzen, Absätzen und so weiter antreibt – eine noetische Bewegursachenkette, die materielle, technische (poietische) Ursachenketten in Gang setzt. 

 

Das Zusammenwirken verschiedener Ursachensorten ist der springende Punkt in dem Text, den wir jetzt lesen, auch wenn er ziemlich herrisch das „Gute“ und nicht das „Schlechte“ zum Prinzip erklärt. Diese Option ist es gerade, welche die aristotelischen Ausführungen über das „Theoretische“ im modernen Sinn hinaustreiben, das im Deskriptiven, Neutralen verbleibt, während das Optative und Normative als sogenannte „Werte“ etikettiert werden.

 

Seine Kritik an Empedokles formuliert Aristoteles wiederum als Kritik an einer „poiesis“, denn Empedokles „mache“ die Freundschaft zum Guten; sie ist aber Bewegprinzip und Stoffprinzip. Wenn ein und dasselbe Ding akzidenziellerweise Stoffprinzip und Bewegprinzip ist, ist dennoch das Sein (des Stoffes und des Bewegenden) nicht dasselbe. Wie also ist die Freundschaft Prinzip? Aristoteles insistiert auf einer Unterscheidung, scheint sich aber nicht sicher zu sein, ob sie hier auch in der Realität greift. Er wendet sich gegen die Ansicht, daß der Streit unvergänglich sein soll; da er mit der Natur des Schlechten eins sei, könne er nicht unvergänglich sein. Zwischen dem Guten und dem Schlechten bestehe auch keine theoretische Symmetrie, sie seien von Grund auf asymmetrisch. Andernfalls müßte wohl dem im Buch XII aufgefundenen und bestimmten Gott ein schlechter Gegen-Gott gegenüberstehen oder ein gleichrangiger Teufel. 

 

An die eigene Gotteslehre knüpft Aristoteles mit Anaxagoras an, der das Gute für ein Bewegprinzip hält: die Vernunft bewegt und sie bewegt um etwas willen, also um etwas Verschiedenen willen: also Differenz zwischen Vermögen bzw. Tätigkeit und Zweck oder Ziel, neudeutsch Objektorientierung. Diese Ansicht hält Aristoteles für die allgemein anerkannte. Eine andere Ansicht ist die von ihm selber entwickelte, die er mit dem Vorbehalt des „irgendwie“ formuliert: irgendwie ist die Heilkunst die Gesundheit. Das will nicht sagen, daß der Arzt selber gesund zu sein hat, sondern daß die Heilkunst, aber auch schon die Heilkunde irgendwie die Gesundheit, die Heilung, das Heil der Form nach enthält. Im Buch VII sagt er, die Form des Hauses sei in der Seele des Architekten. Die allgemeinste Formulierung dafür lautet: die Seele ist irgendwie alle die Dinge. 

Ferner hält Aristoteles dem Anaxagoras vor, zum Guten und zur Vernunft kein Gegenteil zu „machen“, d. h. anzunehmen. Diejenigen aber, die so etwas annehmen, kommen damit nicht zurecht. Es scheint also, daß die Annahme des Gegenteils notwendig ist, daß sie aber gleichzeitig ein Risiko darstellt, die Gefahr einer Entgleisung. Eine andere Fehlmeinung lasse die Dinge aus dem Nichtseienden entstehen; um nicht zu dieser Fehlaussage gezwungen zu sein, machen einige alle Dinge zu einem. 

 

Viele theoretische Aussagen, die Aristoteles für falsch hält, stellt er als „machen“ hin: ein A fälschlich zu einem B machen. Wenn Rainer Marten sagt, daß in der Noetik die Sujets denkerisch gestaltet werden – meint er damit nicht eine Verfälschung sondern, daß etwas so poetisiert und intelligibilisiert wird, daß es sozusagen zum ersten Mal in seine Fassung tritt. 

 

Der Aspekt, den Aristoteles hier in den Vordergrund rückt, ist der von Symmetrie oder Asymmetrie, also ein formaler Systemaspekt. 

 

Können zwei Prinzipien das Ganze beherrschen, regulieren, sich aufteilen? Oder bedarf es eines übergeordneten einen, dem kein anderes gegenübersteht?

Auf der Ebene der menschlichen Erkenntnismachenschaft: muß es zur Weisheit und zur würdigsten Wissenschaft ein Gegenteil geben? (1075b 21) 

 

Mit dem Begriff der Weisheit berührt Aristoteles einen Geistescharakter, der nicht an Wissenschaft gebunden ist und insofern der „Noetik“ entgegenkommt, jedoch nicht so strikt an ein Vermögen gebunden ist. Für Aristoteles schließen Weisheit und Wissenschaft einander ohnehin nicht aus; nur daß die Weisheit als höchstes Wissen auch den Göttern bzw. dem Göttlichen zukommt. Die „würdigste Wissenschaft“ kann nur Menschensache sein.

Für Aristoteles kann es für beide Superlative kein Gegenteil geben, weil ein Superlativ im Negativen nur als zufällige Feststellung auftreten könnte, es kommt ihm keine ebenbürtige Würde und folglich auch nicht eine ebenbürtige Wirklichkeit zu. Viele Möglichkeiten aber sehr wohl. 

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung am 10. November 2021

2 Kommentare:

  1. Mit allem vollständig einverstanden! Angefangen von Neugierde versus Alles Wissen.... Fußnote des Theaterkünstlers: Ich halte Kunst und Philosophie nicht für Antagonisten. Kunst sehe ich als Werkzeug auf dem Weg zur Erkenntnis und Selbstreflexion über die philosophischen, also existenziellen und metaphysischen, Fragen - also als Hilfsmittel - und daher als Alternativ(-angebot) zur Religion.
    Insbesondere die Bühnenkunst, die ja aus kultischen, also religiösen Handlungen entwickelt hat (Tragos - der Bock).

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  2. sorry - ein "sich" hat "sich" verirrt und nicht den Weg ins Schreibfeld gefunden.
    Eine physische Aberratio.....

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