τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 4. September 2023

Sommer-Dichter-Lektüre:Serres-Lukrez XIII

 Mittwoch, 30. August 2023

 

Das revolutionärste Ereignis in der Geschichte der Menschen, vielleicht in der Evolution der Hominiden, war, glaube ich, weniger der Zugang zur Abstraktion oder zum Allgemeinen mit der Sprache. Es war eher eine Art Losreißung von allen Beziehungen, die wir in der Familie, in der Gruppe unterhalten und die nur uns betreffen – und ein Übergang, wie konfus auch immer, plötzlich und spezifisch, zu irgendeiner Sache überhaupt, die gegenüber jenem Beziehungskomplex äußerlich ist. Vor jenem Ereignis gab es nur das Netz der Beziehungen, in das wir unrettbar verstrickt waren. Und plötzlich  ist „etwas“, ist eine Sache erschienen - außerhalb des Netzes. Man sagt nicht mehr: ich, du, er, wir und so weiter – sondern das da, siehe da !. Ecce !. Die Sache selber.

 

Die Tiere, die wir kennen, wiederholen ständig das Netz ihrer Beziehungen. Ein Tier signalisiert dem anderen: ich bin dir überlegen, ich gebe dir, ich bin dir unterlegen, ich empfange von dir – egal was. Du bist unendlich und stark, ich bitte dich!

 

Lukrez sagt das von unserem Verhältnis zu den Göttern.

 

Die Tiere müssen alle ihre Probleme, die ihnen aus diesem Beziehungsnetz erwachsen, innerhalb ihres Netzes regeln. Das ist ihr Schicksal.

 

Menschliche Kommunikation muß zwar ebenfalls das Netz der menschlichen Beziehungen wiederholen und bestätigen, aber manchmal sagt sie etwas zur Sache, über die Sache. Tut sie das nicht, ist sie sofort wieder aufs nur politische Tier zurückgeworfen, einfach aufs Tier.

 

Die Hominisierung besagt nur: das ist Brot – egal, wer ich bin, egal, wer du bist. Hoc est - im Neutrum. Neutrum fürs Genus, neutral für den Krieg.

 

Paradoxerweise gibt es Menschen, gibt es menschliche Gruppen erst nach dem Auftauchen des Objekts als solchen. Das Objekt als Objekt, gewissermaßen unabhängig von uns, invariant gegenüber den Variationen unserer Beziehungen – scheidet den Menschen von den (anderen) Säugern.

 

Ein politisches Animal, welches jegliches Objekt den Beziehungen zwischen den Subjekten unterordnet, ist nur ein Säugetier unter anderen. Zum Beispiel nur ein Wolf unter Wölfen. In purer Politik ist das Wort von Hobbes – homo homini lupus – nicht etwa eine Metapher. Sondern der präzise Hinweis auf eine Regression auf den Zustand vor der Emergenz des – Objekts.

 

Theater, Komödie, Tragödie – wo es nur um menschliche Beziehungen handelt, wo es gar nicht um das Objekt als solches geht: all das verbleibt in der Animalität. Politik und Theater sind nichts als Säugetiere.

 

Die Entdeckung des Objekts als solchen, die Entdeckung der Außenwelt - vielleicht ist sie nicht die erste wissenschaftliche Erfindung, wohl aber bleibt sie die unverzichtbare Voraussetzung für jedwede Suche in dieser Richtung. Andererseits eröffnet sie die Chance, dem Netz unserer Beziehungen zu entkommen und den damit verbundenen Problemen – vor allem dem Problem der Gewalt. Das Objektal ein neutrales Terrain.

 

Vorgeschichte einer Physik und Vorgeschichte der Nicht-Gewalt – zumal? Kann es ein Objekt außerhalb der Kräfteverhältnisse geben?

 

 

Und nun die Lektionen des Epikureismus. Das Netz der Beziehungen auf ein Minimum reduzieren. Auf engem Raum, im Garten, leben, mit einigen Freunden. Womöglich keine Familie, jedenfalls keine Politik.

 

Aber vor allem: siehe da, siehe das da. Siehe das Objekt, die Objekte, die Welt, die Objekte, die Natur, die Physik.

 

Aphrodite Lust wird von der Welt, aus den Wassern geboren. Mars herrscht auf dem Forum, inmitten der Waffen.

 

Wenig Intersubjektives, viel Objektives!

Der Politik den Rücken kehren, die Physik studieren.

 

Ein solches Wissen verschafft Glück, zumindest die Milderung der schlimmsten Leiden.

 

Das Sakrale vergessen, und mit ihm die Gewalt, die ihm zugrunde liegt. Die Religion vergessen, welche die Menschen aneinander bindet.

 

Das Objekt betrachten, die Objekte betrachten, die Natur.

 

Ja, derjenige, der gesagt hat: ecce, hoc est - Memmius ist ein Gott, ein Gott unter den Menschen. Er hat das Menschsein gewandelt. (163ff.)

 

 

Walter Seitter

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