τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 19. Mai 2021

In der Metaphysik lesen. (1072b 14 – 21)

 


Der Weg, den der Text nun geht, indem er ihn sucht und findet, den Weg, wird immer steiler und als Leser muß man sich davor hüten, übermütig oder voreilig zu werden und mit der Aussicht auf irgendetwas Gipfelartiges (neulich bei atlantischem Sonnenschein bestieg ich den Georgenberg bei Mauer bei Wien und das Hybrid aus Bildhauerei und Baukunst machte kein Hehl daraus, dass es kein ordentlicher Gipfel ist) zu einem schnellen Endspurt anzusetzen, um gleich auf dem Höhepunkt zu sein. Stattdessen empfiehlt es sich, langsam weiterzugehen, nach nur kurzen Abschnitten Pausen einzulegen, um sich umzuschauen und sich zu vergewissern, auf welchem Boden, auf welchem Begriffsmaterial man gerade steht, zwischen welchen Abhängen und welchen Felswänden, wohin die Blicke reichen, die nach hinten und die nach vorn.

 

Die Abbildung zeigt etwas, wovon ich einige Sachschichten schon genannt habe. Es überlagern sich da aber auch mehrere Namen, die mit einigen Sachaspekten verbunden sind: Georgenberg, Dreifaltigkeitskirche, Wotruba-Kirche. Zwei der hier vorkommenden Namen gehören in die katholische Theologie oder Hagiographie; einer gehört in die Kunstgeschichte. Noch ein vierter Name ist da sehr präsent: Margarethe Ottilinger, die Mäzenin der Kirche, ist eine Figur der österreichischen Nachkriegsgeschichte. 

 

Für die Bergbesteigung, mit der ich das Lesen der Metaphysik, besonders des Buches XII, analogisiere, spielen jedoch Namen kaum eine Rolle. Da geht es vielmehr um spürbare Qualitäten des Gehens oder Nicht-Gehens, des So- oder Sogehens, des Sehens oder Nicht-Sehens, des So- oder Sosehens. Es geht um Gangarten und Verhaltensweisen beim Lesen. Und damit auch um Gelesenes und Verstandenes und Gemeintes. Für Aristoteles ist hier der wichtigste Name, der seinen Gang leitet und begleitet, derjenige Platons. 

Wenn wir den Satz lesen - „Von einem derartigen Prinzip aber hängt der Himmel ab und die Natur.“ (1072b 14) - dürfen wir daran denken, dass ungefähr 1500 Jahre nach Aristoteles seine Kosmologie in einer Erzählung von einer Weltdurchwanderung nachgebildet worden ist, in der ein solcher Satz fast gleichlautend wiederholt wird: „An diesem Punkte hängt der Himmel und die gesamte Natur.“ (Göttliche Komödie XXVIII).

Es wäre sehr erfreulich, wenn jemand das Lesen der berühmten aber kaum lesbaren Metaphysik mit dem Lesen der ebenso berühmten aber bei uns kaum gelesenen Dante-Dichtung parallelisieren würde, wozu ich mich aber nicht in der Lage sehe. Dante hatte Aristoteles gelesen und dessen Kosmologie bildet für ihn ein Grundgerüst. Die Welt, die er unter der Führung des Vergil sowie der Beatrice durchwandert, hatte durch die christliche Eschatologie eine tief- und hochgreifende Umgestaltung erfahren, die nach der Auffassung mancher Exegeten Elemente der Relativitätstheorie enthält. 

 

Ich selber habe vor, die Metaphysik-Lektüre mit einer poetischen Kosmologie des 20. Jahrhunderts zu ergänzen und zu relativieren – nämlich dem schon erwähnten Sonnenbuch von Francis Ponge.

Jetzt aber zurück zum Aristoteles-Text, der genau an dieser Stelle seinen Gang ganz hart wie es scheint bricht und seine Aussagerichtung ändert, indem er das genannte Prinzip nicht mehr dem gesamten Kosmos überordnet – diesen ihm unterordnend, sondern es wird direkt mit dem verglichen, was bei uns Menschen läuft, nämlich dass wir unser Leben so und so führen. Dem Prinzip also arche oder Anfang oder Herrschaft mit all den erhabenen Eigenschaften wird eine Lebensführung, Lebensweise, Verhaltensweise oder Befindlichkeit unterstellt – allein damit wird sie „uns“ Menschen strukturell schon sehr stark angenähert, was man zunächst gar nicht für möglich gehalten hätte. Das griechische Wort dafür lautet diagoge – das bedeutet eigentlich so etwas wie Führung und in einigen französischen und englischen Wörtern für Verhalten steckt ebenfalls das semantische Element „Führung“ drinnen. Das entspricht dem Diktum von Helmuth Plessner, dass der Mensch lebt, indem er „sein Leben führt“.[1] Eine Definition im Geiste der Philosophischen Anthropologie, die von Aristoteles hier vorweggenommen wird – entsprechend seiner Auffassung von Ethik. Aber dass dieser eher triviale Führungsbegriff hier zunächst dem ersten Bewegungsprinzip des gesamten Kosmos zugeschrieben wird, diesem also eine „Verhaltensweise“ im anthropologischen Sinn unterstellt wird, das widerspricht doch sehr einem monolithischen Klischee „des Stagiriten“. 

Genau genommen liegen die beiden sehr unterschiedlichen Begriffe von Lebensführung und Anfang-Prinzip-Herrschaft semantisch gar nicht so weit auseinander: gemeinsam ist ihnen die Wurzel Ursächlichkeit, Kraft, Durchsetzung. 

Gewiß wird dann gleich an der Lebensführung der große Unterschied zwischen jenem Prinzip und „uns“ Menschen festgeschrieben: denn bei ihm ist die Lebensweise immmerwährend im besten Zustand, bei uns ist das nur für kurze Zeit der Fall. Ob man die kurze Zeit mit einer gewissen Zahl von Jahren oder mit wenigen Momenten bemisst, die zeitliche Begrenztheit des Optimums macht einen großen Unterschied zu unseren Ungunsten, wenn die Lebenswirklichkeit aus Lust, Vergnügen, Freude besteht. So hedonistisch und emotional wird Lebensweise überhaupt charakterisiert – und an die ontologischen Bestimmungen der Verwirklichung und der Bewegung zurückgebunden.

Fundamentaler Hedonismus.

Als weitere Facetten der Lebensweise werden genannt das Wachsein, die Wahrnehmung, die Denktätigkeit. Diese zuletzt genannte Leistung also aufruhend auf sogenannten animalischen Fähigkeiten. Dazu noch Hoffnungen und Erinnerungen. Also lauter Aspekte des Seelenlebens, die doch eindeutig – jedenfalls hier – vom Menschlichen, um nicht zu sagen vom Allzumenschlichen aus jenem Prinzip zugesprochen werden (Hoffnung ist für die Griechen eine zweifelhafte Angelegenheit und Erinnerungen können verhängnisvoll sein). Von jemandem, der derlei nur in begrenztem Ausmaß – Aristoteles wird das vielleicht schon in mittelhohem Alter geschrieben haben – hat und kennt, wird es jemandem oder etwem zugeschrieben, der oder das oder die darüber in überreichem Ausmaß verfügen soll. Allerdings mit der Signatur der Zuschreibung vonseiten eines menschlichen Autors, den es erst seit ein paar Jahrzehnten gibt, der aber von Anfang an als Bester und Vollendeter benannt worden ist (vermutlich von seinen Eltern) und der immerhin seit ein paar Jahrzehnten auch schon durch Denk-, Sprech- und Schreibwerke hervorgetreten ist. Also von einem solchen wird jenem von ihm so benannten Prinzip die Überfülle an Denkleistung zugeschrieben, die seine Lebensführung auch aus der Intransitivität in die Transitivität überführt. Denn die Denktätigkeit bleibt nicht bei sich, sie geht auf ein Objekt, ein Denkbares. Aristoteles inkludiert hier die oben genannten Seelentätigkeiten Erstreben, Begehren, Wollen, Lieben, also die emotionalen oder emotiven, in die Denktätigkeit - das ergibt sich aus der substantivischen Bestimmung der Lust.

 

Daher geht das Denken auf das Beste. Dies aber ist das Denken, das lustvolle, selber. Indem das Denken Denkbares berührt und denkt, kriegt es es mit und kommt in seinen Genuß. Es denkt sich selber, hat sich selber, genießt sich selber. Seine Transitivität bleibt aufrecht, aber sie macht eine große Kurve und führt das Denken hin zum – Denken, Wachen, Wahrnehmen, Wollen. 

 

 

Reflexivität ja – aber nicht punktuelles Immanieren.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe dazu jetzt Plessner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung . Hg. von Joachim Fischer (Stuttgart 2021)

1 Kommentar:

  1. Was bei unsere Vorgängern die Arbeit war, die mit ihren ständigen Anforderungen alle erfasste, ist in unserem heutigen Erfahrungskreis das Geniessen, das aus allen Richtungen her auffordert sich ihm zu unterziehen. Ein »lustvolles Denken, das sich selber geniesst«, will die Früchte des Kopfes in Gefühle (möglicherweise sogar in solche der Erhabenheit) aufgehen lassen.

    Dagegen hat der Stagirit gleich im zweiten Satz der Metaphysik eine absolut sinnvolle Bremse eingebaut, denn was wir – abgesehen von dem Nutzen – an dem Wissen hochschätzen, sind die Sinneswahrnehmungen (um ihrer selbst willen) und gerade nicht die Gefühle.

    Kann es ein Zufall sein, dass diese Woche bei Mondschein auch eine vergnügungswütige Menge den Georgenberg (mit Fahrzeugen) erstiegen hat, im Steinbruch ein illegales Rave ohne Corona-Abstandsregeln veranstaltete und bekiffte Tänzer*innen die Betonklötze der Kirche erklommen, um sich selbst zu geniessen? Die metaphysischen Anziehungskräfte bleiben unergründlich.

    Wolfgang Koch, Mai 2021

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