τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 26. Mai 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 19 – 24)


In der vergangenen Woche wurde in Wien eine Ausstellung eröffnet, die zwar als Kunstausstellung gelten möchte, aber wohl mehr in Richtung Themenausstellung tendiert, da sie den „Flecken“ gewidmet ist, also recht elementaren Entitäten, die in verschiedensten Bereichen wie in der Malerei, im Haushalt, in der Medizin oder in der Religion unterschiedlichste Rollen spielen. Viele Philosophen haben sich dafür entschieden, nicht zur Ausstellungseröffnung zu kommen – vielleicht weil ihnen das Thema zu banal, die Flecken als massenhafte Erscheinungen nicht philosophiewürdig vorkommen. Es zeugt jedoch von einer systematischen Realitätsverkennung, die sogenannten geringen Dinge geringzuschätzen und nur dort, wo Prestige und Geld ihre Leuchtschriften blinken lassen, philosophischen Erkenntnisgewinn zu suchen. Die Ausstellung ist im „Kunstraum am Schauplatz“ in der Praterstraße 42, 1020 Wien, bis zum 12. Juni 2021 zu sehen.

 

Die Ausstellungseröffnung als Ereignis kann natürlich jetzt nicht mehr besichtigt werden (obwohl einige Programmpunkte von Hans Schabus filmisch festgehalten worden sind). Das Hauptereignis war in meinen Augen und nicht nur Augen das Flecksuppen-Essen, das von 16 Uhr bis 20 Uhr währte, ich selber habe mich daran von 19 Uhr bis 20 Uhr beteiligt, habe mir von Peter Pilz die Zusammensetzung und den Kochvorgang erklären lassen und andere Leute haben mich in die Vor- und die Frühgeschichte dieses Essens eingeführt – die Flecksuppe als unvermeidlicher Bestandteil einer bäuerlichen Schlachtung bis in die Nachkriegszeit hinein, die Kutteln als tägliche Abspeisung des Personals in Schweizer Hotels. Bei der Ausstellungseröffnung, die von einem Wiener Philosophen ziemlich despektierlich als „Jahrmarkt“ bezeichnet worden ist, hat sie eine kleine Auferstehung gefeiert, der man wünschen möchte, sie könnte wieder ein bisschen in den Alltag einkehren – als gelegentlicher und nicht zwanghafter Bestandteil.

 

*

 

Kommentar von Wolfgang Koch zum letzten Protokoll:

 

Was bei unseren Vorgängern die Arbeit war, die mit ihren ständigen Anforderungen alle erfasste, ist in unserem heutigen Erfahrungskreis das Geniessen, das aus allen Richtungen her auffordert sich ihm zu unterziehen. Ein »lustvolles Denken, das sich selber geniesst«, will die Früchte des Kopfes in Gefühle (möglicherweise sogar in solche der Erhabenheit) aufgehen lassen. 

Dagegen hat der Stagirit gleich im zweiten Satz der Metaphysik eine absolut sinnvolle Bremse eingebaut, denn was wir – abgesehen von dem Nutzen – an dem Wissen hochschätzen, sind die Sinneswahrnehmungen (um ihrer selbst willen) und gerade nicht die Gefühle.

Kann es ein Zufall sein, dass diese Woche bei Mondschein auch eine vergnügungswütige Menge den Georgenberg (mit Fahrzeugen) erstiegen hat, im Steinbruch ein illegales Rave ohne Corona-Abstandsregeln veranstaltete und bekiffte Tänzer*innen die Betonklötze der Kirche erklommen, um sich selbst zu geniessen? Die metaphysischen Anziehungskräfte bleiben unergründlich.

 

*

 

Wolfgang Koch scheint zwei Epochenhomogenitäten zu konstruieren; einstmals die Nur-Arbeit, heute die Genuß-Wut. So mag der Epochenhistoriker sprechen. Die Philosophie, die wie ihr Name schon sagt, das Kognitive mit dem Emotiven verbindet, setzt nicht auf eine Kultur, die nur aus Philosophie oder nur aus Vergnügen besteht. Eher darauf, dass kein Einzelwesen in einer Totalität aufgeht.

 

Ich habe meinen Ausflug vom 16. Mai als Analogon zum aktuellen Stadium der Metaphysik-Lektüre erwähnt, in dem sich langsames Vorgehen, gelegentliches Stehenbleiben und Umschauen, Verzicht auf blinden Überschwang aber nicht auf sensitives Genießen empfiehlt. Wolfgang Koch schildert aus nächster Nähe einen frevelhaften Ansturm auf den Georgenberg, ich jetzt meinen Anstieg auf ihn - womit jede Epochentotalität im Hinblick auf den Georgenberg schon ad absurdum geführt ist.

 

Aufbruch vom Hohen Markt um 10.45 Uhr, Hinuntergang zum Schwedenplatz, auf Rolltreppen Hinunter- und Hinüberfahrt zur U4, U-Bahn-Fahrt nach Hietzing, dort Umstieg mit einem neuen Aufzug zur Straßenbahn 60. Hinausfahrt zum Maurer Pfarrplatz. Dann langsames Suchen und Gehen hinauf. Ungewissheit über die richtige Richtung – rechts oder links? Die linke Richtung wird mir empfohlen und sie bewährt sich auch. Einbiegen in die steile Maurer Lange Gasse – in der einige wenige Heurige sowie ein prächtiges Gräfliches Landhaus, Florentiner Stil, mir anzeigen, dass ich auf einem guten Weg bin. Schließlich zweigt links die Georgsgasse ab und erst jetzt gibt sich mir der Blick auf die Krönung des Georgenberges mit der vielfelsigen Kirche, die mich auch an das Castel del Monte in Apulien erinnert, wo ich vor über zwanzig Jahren gewesen bin.[1] Ankunft um 12.45 Uhr und große Erfülltheit, die sogar anhielt, als ich an einer versperrten Glastür so komische Informations- und Warnungs-DIN A4 Blätter vorfand, die den Eintritt in die Kirche erst ab 14 Uhr zu gestatten schienen. Schon war ich drauf und dran, den Besuch für dieses Mal sehr kurz zu halten und mir irgendeinen Rückweg nach Wien zu überlegen. Aber mein Erfülltsein ließ keine Panik zu, ich hielt mich an meine alte Regel zur Besuchung von Bauwerken: einmal außen herumgehen und man sieht und spürt es irgendwie vollständig. Da fand sich ein anderer Eingang und ich konnte eintreten. Und auf einmal waren auch andere Leute da, insbesondere Kinder, die im Sonnenlicht hinein und herausrannten. 

 

Es stimmt, dass der Weg der Metaphysik ein langer und langsamer und langwieriger ist und dass das Lesen ihm so nachgehen soll. Aber dass schon der zweite Satz eine Bremse einlegt, das stimmt überhaupt nicht – und eine Bremse gegen Gefühle? Der zweite Satz stützt den ersten, indem er davon spricht, dass auch die Sinneswahrnehmungen, also die Erkenntnisstufen, die wir mit den anderen Lebewesen gemeinsam haben, um ihrer selbst willen geliebt werden. Geliebt.

 

Mit dem Streben und dem Lieben in den beiden ersten Sätzen, greift Aristoteles auf den massiven Einbau des Emotiven ins Kognitive vor, den wir jetzt gerade im Abschnitt 7 von Buch XII vorgefunden haben und im selben Abschnitt die direkte Vergleichung des gesuchten „Prinzips“ mit bekannten anthropologischen Konstanten. 

 

Die „unergründlichen ... metaphysischen“ Anziehungskräfte, von denen Wolfgang Koch spricht, die mag es vielleicht bei „dem Stagiriten“ geben, im aristotelischen Text so wie ich ihn lese kommen sie nicht vor. Dazu ist Aristoteles vielleicht doch den sogenannten Wiener Positivisten zu nahe - ? Hat das Adjektiv „metaphysisch“ eine begriffliche Bedeutung oder ist es nur eine Art Index, der auf was verweist?

 

Man kann Aristoteles auch so lesen, dass man wieder und wieder das längst feststehende Standbild bestätigt findet, und Wolfgang Koch tut gut daran, es nicht mit dem Namen anzusprechen, sondern mit einem Quasi-Begriff und daher auch mit einem Artikel. Liest man Aristoteles anders, so hat man die Chance, in dem Text, der seit Jahrtausenden vorliegt (allerdings als ein „non-finito“), vielleicht etwas anderes zu sehen.[2]

 

 

Die nächsten Zeilen geben gute Gelegenheit dazu. 

 

Die Denktätigkeit an sich geht auf das, was an sich das Beste ist. So denkt das Denk(vermög)en oder der Denksinn sich selber, sofern es oder er am Denkbaren teilnimmt. Er wird selber gedacht, indem er berührt und denkt – indem er Denkbares berührt und denkt, so dass der Denksinn und das Denkbare dasselbe sind. Denn der Denksinn ist das, was für das Denkbare und für das Wesen aufnahmefähig ist und, indem er darüber verfügt, aktualisiert (realisiert) er. Realisiert er intransitiv, transitiv oder reflexiv? Zunächst vielleicht irgendwie intransitiv – er wird vom Denkbaren (und das ist in erster Linie Wesen) in Aktivität versetzt, er wird aktiv – allerdings nicht aus einem Schlafzustand in Aktivität versetzt, sondern immerzu synchron wird er aktiv, ist er ein immerfort aktiv werdender. Und er aktiviert das Denkbare zum Gedachten, zum Gedacht-Werdenden. Und diese gesamte Aktivierung aktiviert und berührt und denkt ihn selber. 

 

Damit ist die Triade von drei Verb-Genera nachformuliert und wenn ich ein besserer Zeichner wäre, könnte ich sie in irgendeiner Triangulierung geometrisch oder topologisch anschaulich machen. So begnüge ich mich halt damit, die aristotelische Formulierung ein bisschen auszuweiten, auszuspreizen, indem ich mich der Sprache der Grammatik bediene, die nicht unter der Würde des Philosophen, des philosophischen Lesers ist. 

 

Seine kürzeste Formulierung besteht in dem Kurz-Satz energei de echon (1072b 23): er wirkt aber habend, er agiert, indem er hat, er aktiviert als verfügender, sein Haben ist sein Wirken, sein Aktivieren, sein Realisieren, er tut gar nichts als haben und er hat nichts als sein Tun – das alles intransitiv und transitiv und reflexiv. In dem Kurz-Satz werden weder Subjekt noch Objekt genannt – hinzugedacht werden müssen sie aber schon – denn punktartig „einfach“ ist das Gesagte denn doch nicht. Wohl aber wird gesagt, dass Subjekt und Objekt eines sind. 

 

Das Verb oder vielmehr die nicht ganz synonymen Verben zwischen ihnen die bilden sozusagen das Dritte in dieser Konfiguration. Im Kurz-Satz sind es zwei Verben, von denen man kaum sagen kann, dass sie dasselbe bedeuten. Sie spannen einen semantischen Raum auf zwischen tun und haben, welcher Raum sozusagen wie eine Ziehharmonika enger und weiter zusammen und auseinander gezogen werden kann. 

 

Immerhin merkwürdig, dass dieser zeitwörtliche oder verbale Pol den totalen Ineinsfall der Konfiguration verhindert und damit überhaupt so etwas wie Konfiguration aufrechterhält.  

 

Lesen wir noch einen einzigen Satz und wir sehen, wie die Verben ihren Vorrang, ihren wörterpolitischen Vorrang, durchsetzen. Dabei geht es um die Durchsetzung eines Vorrangs innerhalb der Formulierung „des Prinzips“ – also der Vorrang-Durchsetzung. 

 

„Also ist der Besitz des Gedachten in höherem Maße göttlich als das, was der Denksinn als Göttliches zu beinhalten scheint.“ (1072b 23f.)

 

Neu ist hier das Adjektiv „göttlich“, das in diesem Buch nur einige Male schon vorgekommen ist und dann immer mit einer gewissen Selbstverständlichkeit eingeführt wird, als ob es bereits bekannt wäre, und irgendein Bekanntsein kann man dem Wort auch heute noch nachsagen, ja sogar ein Berühmtsein oder wie Robert Spaemann gemeint hat, ist „Gott ein unsterbliches Gerücht“. So etwas trifft vielleicht sogar für die „heutige Jugend“ in diesem Europa zu, die sich vom Religionsunterricht abmeldet. Vielleicht sogar für notorisch religonslose asiatische Länder (denen allerdings wiederum andere Länder gegenüberstehen). 

 

„Göttlich“ heißt hier so etwas wie „wichtig“, „großartig“, „herrlich“ und näherhin so beschaffen wie eine oder mehrere allerhöchsten Instanzen. 

 

Was aber sagt der Satz? Er sagt nur, dass die oben genannten Verben wichtiger sind als irgendein Objekt (oder Subjekt).

 

Und dann noch ein Zusatz: „Die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste.“ (1072b 24)

 

Die vielen und irgendwie abstrakten Verben werden jetzt fürs Volk, das heißt für uns übersetzt in betrachten, schauen, sehen und zwar wirklich sehen, intensiv sehen, ohne Stress beim Sehen verweilen, erkennend sehen, denkend sehen, gern sehen, liebend sehen ...

 

Und das prädikative Adjektiv „göttlich“ wird jetzt eingedeutscht mit angenehm und gut, sehr angenehm und sehr gut und angenehmst und best. Im Griechischen steht für „angenehm“ – „hedonisch“ – und das setzt er für „göttlich“ ein, weil er zurecht annimmt, dass das ein Begriff ist, ein verständlicher und nicht bloß ein Hinweis auf irgendwas Hohes. 

 

Und nebenbei wird klar, dass Aristoteles kein Antihedoniker ist. Nur Arisoteles? 

 

Hier breche ich schon wieder ab, damit das Lesen schön langsam und holprig bleibt. 

 

 

 Walter Seitter

 




[1] Kristall, Labyrinth. Die zwei Seiten des Schlosses. Ein Beitrag zur Physik des Kaisers. In: W. Ernst und C. Vismann (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz (München 1998)

 

 

[2] Da ich – malgré tout - ein Augenmensch bin, beziehe ich das mit dem Lesen verbundene Sehen auch auf die „Figur“ des Aristoteles, von dem in Griechenland viele Statuen auf Plätzen stehen  so in Stagira oder in der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, wo er so steif da steht wie es sich für einen „großen Klassiker“ gehört. Hingegen habe ich in der Stadt Thessaloniki unter schattenspendenden Bäumen eine relativ neue also junge Aristoteles-Skulptur gefunden, die bei vielen Thessalonichern unbekannt oder unbeliebt ist. Näheres dazu in meinem Aristoteles betrachten und besprechen op. cit.: 219ff. Über diese Skulptur würde ich jetzt zusätzlich sagen, was der Kunsthistoriker Frank Fehrenbach allgemeiner über bestimmte Bildwerke sagt, dass nämlich ein „Zittern“ hineingelegt ist, das eine Quasi-Lebendigkeit simuliert, die nicht ganz illusionär ist (was allerdings mit der modernen das heißt musealen Bilderpolitik nicht ganz kompatibel sein dürfte.) Siehe Frank Fehrenbach: „Quasi vivo“. Lebendigkeit in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit Berlin 2021)

1 Kommentar:

  1. Keine Reinigungskraft käme auf die Idee, ihr Erfülltsein in einem Sakralraum für Sauberkeit, kein Fleischer käme auf den kuriosen Einfall, sein religiöses Erleben für Fleischerei zu halten. Auf die Idee, das eigene Innenleben für Philosophie zu halten, kann berufstechnisch nur ein Philosoph verfallen. Bei dem Stagiriten ist das göttliche Denken schlicht die logische Konsequenz seiner unter uns breit diskutierten Aporistik. Ich kann der Leserschaft der ›Metaphysik‹ nur zu grosser Geduld raten. Es dauert noch etwa zwei Jahrtausende, bis sich die Nachfolger*innen des Griechen radikal von dem philosophischen Szenario absetzen, in dem sich eine Welt oder ein Ding immer nur für das reflektierende Subjekt offenbart, es dauert philosophiegeschichtlich noch eine Weile, bis sich die Theorie konsequent als Wissen und als theoretische Praxis versteht (und nicht mehr als narzisstische Selbstbespiegelung des denkenden Subjekts), bis das Denken nicht mehr einer Meditation im Sinne der Reflexion auf etwas oder des Bewusstseins hinsichtlich etwas bedarf, bis die Philosophie Gott als Name für das Absolute wieder verwirft und Entitäten in ihrer generischen Immanenz als endlich zu begreifen lernt.

    Wolfang Koch, Mai 2021

    AntwortenLöschen