τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 2. Juni 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 24 – 28)


Wir reden nicht über das, was angeblich in 2000 Jahren geschehen soll, sondern von dem, was seit über 2000 Jahren vorliegt (aber sehr oft übersehen oder sonst wie ungesehen worden ist), und zu dem, was jetzt zu tun ist, was wir tun wollen und können, nämlich das Lesen und hoffentlich das damit verbundene Sehen, das wir immer wieder neu einzustellen, zu schärfen, zu flexibilisieren haben.

 

Derjenige Spezialbegriff, der dem Betrachten am nächsten steht, ist das noein, das eine gute Begriffsbestimmung dort erfährt, wo es einerseits dem Wahrnehmen und andererseits dem Nur-Sagen, dem Sagen als Sagen, nahegerückt wird – siehe De anima III, 7, 431a. Es bezeichnet einen Erkenntnisvorgang, in dem Rezeptivität und Aktivität zusammenkommen, was in der Übersetzung mit „denken“ nur schwach zum Ausdruck kommt. Und das Substantiv nous bekommt mit der Übersetzung als „Vernunft“ ebenfalls keine Wiedergabe dieser Doppelaspektivität. Beide Wörter ebnen die Bipolarität ja die Doppelgeschlechtlichkeit (im Sinne der Genera der Verben) des griechischen Wortstammes ein.

 

Um die Humoristin meinerseits in den Dienst der Philologie – auch sie eine Liebe, und zwar eine Liebe zu im Außen produzierten Wörtern - zu stellen, und zwar ernsthaft, stelle ich jetzt einmal die These auf, dass die griechischen Wörter noein und nous etymologisch aus dem Englischen stammen, und zwar von nose. Das bedeutet nicht nur „Nase“, sondern auch riechen, spüren, schnüffeln, vorauseilen.  

 

Die Doppelaspektivität des nous ist von Aristoteles selber mit der Unterscheidung explizit gemacht worden, die in der Scholastik mit intellectus possibilis und intellectus agens benannt worden ist. Die neuzeitlichen Übersetzungen haben dann homogene Begriffe durchgesetzt, die dazu beigetragen haben, das aristotelische Denken statuenhaft zu verfestigen. 

 

Das zwischen Produktivität und Rezeptivität, zwischen Wahrnehmung und Wahrgebung zitternde Betrachtungsverhalten richtet sich auf ein Maximum der Betrachtungsleistung und das heißt, es erschöpft sich nicht in Beobachtung, sondern steigert sich zu emotionaler Bewunderung, wenn es auf ein solches Maximum trifft. Es trifft auf ein solches Maximum, wenn im Gegenüber eine noetische Tätigkeit auftaucht, die das Suchen der eigenen noetischen Tätigkeit erfüllt und übertrifft. Und diese Qualität bezeichnet Aristoteles ziemlich tautologisch als „energeia des nous“ oder „Aktualisierung des Intellekts“ oder „Inswerksetzung des Vernehmens“ (1072b 28). Einen Teilsatz kann man sogar so verstehen, dass das eigene Vernehmen einfach nur auf „Aktualisierung“ trifft (1072b 28). 

 

Da es sich um einen qualifizierten Sachverhalt handelt, kann Aristoteles auch noch andere Begriffe aufbieten, um ihn zu charakterisieren. Einer davon ist „Leben“ – das hier mit der „Aktualisierung des Intellekts“ anders definiert wird als das von dem professionellen Zoologen Aristoteles sonst geschieht. 

 

Die beiden Wörter „göttlich“ und „Gott“ sind hinwiederum noch weitere Begriffe, mit denen das zunächst kosmologisch, dann anthropologisch und epistemologisch bestimmte „Prinzip“ beschrieben, umschrieben, in die Kultur eingeschrieben wird.

 

Karl Bruckschwaiger mutmaßt, dass das Adjektiv „göttlich“ den Griechen eher näherlag, weil es begrifflich eine Reihe oder eine Steigerung von Qualitäten zusammenfasst, die irgendwie überall vorkommen. Während „der Gott“ eine Figur meint, die von einer Kultsprache benannt, vor dem fest gebauten Tempel angerufen und im weniger festen Theater zur Erscheinung gebracht wird. 

 

Aristoteles vollzieht hier den Schritt vom Göttlichen zu dem Gott, der allerdings keinen Namen bekommt. Eine Kürzest-Aussage über ihn lautet: „--- jener aber ist die Aktualisierung.“ (1072b 28). Auch in diesem Satz ist er ein „er“ und als definierendes Prädikat bekommt er einen weiblichen Begriff aus der Ontologie, welcher einen sehr verbalen Charakter hat.

Mancher dieser Sätze sieht aus wie ein Spoiler, das heißt wie eine Schlußpointe, die man nicht verraten soll, weil sie, wenn sie verraten wird, dem Neugierigen die Spannung raubt. Indem Aristoteles mit solchen Sätzen um sich wirft, möchte er wohl die Spannung erhöhen. Leichtgläubige mögen sie für Schlusssätze halten.

 

Es handelt sich hier um einen Sachverhalt, in dem Verhaltensweisen die Hauptrolle spielen. Wenn er mit dem identifiziert wird, was landläufig „Gott“ genannt worden ist, so ist doch nicht auszuschließen, dass dem Adjektiv „göttlich“ seine Priorität gelassen wird, womit auch die Verhalten nennenden Verben ihren Platz behalten.

 

Walter Seitter

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