τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 12. Mai 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 1 – 13)

Die passiven Partizipien „gedacht“, „begehrt“, „erstrebt“ und so weiter bezeichnen Objekte von aktiven und transitiven Verben bzw. von bestimmten psychischen Tätigkeiten und sind daher gute Beispiele dafür, wie Aristoteles mithilfe grammatischer Strukturen Realitätsverhältnisse zur Darstellung bringt.

 

Dazu kann angemerkt werden, dass im Griechischen nicht nur Substantive (mitsamt Artikeln, Adjektiven, Partizipien) jeweils einem von drei Geschlechtern zugeteilt sind. Auch bei den Verben werden morphologisch und bedeutungsmäßig „Genera“ unterschieden – und zwar Aktiv, Medium und Passiv; beim Medium unterscheidet man zwischen reflexivem und dynamischem Medium, das sind Bedeutungsnuancen, die sich auch in der deutschen Sprache nachvollziehen lassen und auf die mich das Aristoteles-Lesen neulich auch schon gebracht hat. Die Schulgrammatik, auf die ich mich da stütze, unterscheidet in diesem Zusammenhang auch zwischen transitivem und intransitivem Gebrauch von Verben – was dann auch zu den Grammatik-Begriffen „Subjekt“ und „Objekt“ weiterführt.[1]

 

Bleibt die Frage, ob die Rede von „Genera“ bei Verben eher Gattungen meint oder Geschlechter. Ich vermute eher so etwas wie Geschlechter im Sinne von Verhaltensvarianten. Michel Foucault hat einen Grundzug der antiken Ethiken darin gesehen, dass sie die Aufrechterhaltung von Aktivität und Souveränität jedes einzelnen als Ideal betrachtet haben, als eine Leistung, die vor allem den Männern aber nicht nur ihnen zuzumuten sei. Der Mut wurde ja als Mannesmut bezeichnet – aber wer sich durch ihn ausgezeichnet hat, galt als Freier – im Gegensatz zum Sklaven. Die Genera der Verben differenzieren abstrakte Verhaltensformen – aber nicht sexuelle Eigenschaften.[2]

 

Mit dem „worumwillen“ stoßen wir wiederum auf einen sehr unnormalen Begriff, der nicht einmal von einer üblichen Wörtersorte aus gebildet ist, sondern eine Komposition aus Präposition und Relativpronomen darstellt, also selber bereits „syntaktisch“ gebildet ist. 

Die Semantik des Begriffs zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie keine Ebene bildet, auf der sich eine Bedeutung ausbreitet; sie gleicht vielmehr einem ein bisschen bergigen Stein, der den Tritt, den man auf ihn setzt, automatisch in zwei Richtungen abgleiten lässt, und diese beiden Richtungen werden von Aristoteles ihrerseits wieder syntaktisch charakterisiert, so nämlich dass dieser Begriff, der dann doch wie ein Substantiv dasteht, wie ein Verb zweierlei Kasus- oder Fallrichtungen und damit zweierlei Objekttypen „regiert“ – einen dativischen und einen genitivischen. Im Deutschen sagt man das mit den Präpositionen „für“ und „von“ – Worumwillen für etwas oder von etwas. Und an diese beiden sozusagen Handlungsrichtungen (oder Diathesen) knüpft Aristoteles den Unterschied, den er bereits besprochen hat: den kinesiologischen Unterschied zwischen einem Worumwillen für etwas, das (nämlich das Worumwillen) bewegt und selber in Bewegung ist, und einem Worumwillen von etwas, das bewegt und selber unbewegt bleibt:

„Es bewegt wie ein erotisch Geliebtes – die anderen bewegen als selber in Bewegung befindliche.“ (1072b 3)

Nicht in eine Fußnote verbannen will ich die Bemerkung, dass die dynamische Amivalenz dieses „Worumwillen“ (zusammen mit dieser besten Übersetzung) im schon öfter genannten von Otfried Höffe herausgegebenen Aristoteles-Lexikon von Friedo Ricken auf hervorragende Weise anhand von fünf Textstellen aus verschiedenen Büchern dargelegt wird (siehe op. cit.: 268ff.). 

Das unbewegte Worumwillen wird von Aristoteles hier nicht genauer identifiziert, auch nicht lokalisiert, weder im Endlichen noch im Unendlichen. Es wird nur, wenngleich mit einem „gleichsam“ relativiert, als Objekt in einem freudolacanischen Sinn, als Liebesobjekt, charakterisiert. 

 

Wenn ich die Namen Aristoteles, Freud, Lacan derart zusammen-schreibe, dann liegt die Begründung dafür in den sprachlichen und sachlichen Korrespondenzen, die näher aufgewiesen  werden müssten, aber sie bilden die entscheidende Begründung. Darüber hinaus ließen sich auch ihre persönlichen oder literarischen Kontakte präzisieren, wobei da die Person Platon auch noch dazugenommen werden muß. Denn einige der hiesigen aristotelischen Hauptbegriffe, der Eros und das Schöne, sind platonisches Erbe – aber hier eingebaut in die aristotelische Kinesiologie. 

 

Von Freud ist bekannt, dass er zum einen in guter jahrhundertealter speziell österreichischer Tradition der Philosophie gegenüber eher Geringschätzung um nicht zu sagen Verachtung kundgetan hat, welche Einstellung er auch noch entgegen seinem intellektuell gebotenen Interesse für manche Philosophen deklariert hat, wohl um die Größe seiner eigenen (und unbestreitbaren theoretischen Erfindung) in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Wobei ihn dann der poetische Platon mehr angezogen hat als der nüchterne Aristoteles (obwohl er als Student in der Vorlesung des Aristoteles- und Ontologie-Spezialisten Franz Brentano gesessen war). Ganz anders Lacan, der zwar Freud nur lesend gesehen hat aber zweifellos gesehen hat und der neben den neuesten Philosophen, die er persönlich gekannt und geschätzt hat, auch neuere wie Hegel studiert und ältere wie Platon und Aristoteles sehr wohl gekannt hat. Er ist also in dieser ad hoc-Gesellschaft die zentrale Kontaktinstanz und sein vom Begehren aus formulierter Doppel-oder Dreifach-Begriff „Objekt/Ursache des Begehrens“ figuriert als Spiegelung gegenüber dem aristotelischen Neologismus „worumwillen“, der im Deutschen noch deutlicher klingt, wenn man das Deutsche sprechen lässt. Die Sprachen sind nämlich dazu da, dass sie einander stützen und stärken (dazu bedarf es aber Sprachfähiger). 

 

Die zwei Sinnrichtungen des Worumwillen werden nun von Aristoteles für das größtmögliche, für das Format des gesamten Kosmos erläutert. Auf der Seite der beweglichen Dinge, wo grundsätzlich verschiedene Verhalten möglich sind, steht die erste Ortsbewegung als dasjenige, was von der unbewegten Ursache zuerst angestoßen wird und was auch den Bereich der ersten Veränderungen ausmacht. Dieser Bereich ist durch Kreisbewegung gekennzeichnet; und er wird erster oder äußerster Himmel genannt; es handelt sich dabei um die Sphäre der Fixsterne. In seiner früheren Schrift Über den Himmel hat Aristoteles sie als kugelförmigen göttlichen Körper mit ewigem Leben bezeichnet – sie war das Einzige, dem Göttlichkeit in striktem Sinn zugeschrieben worden ist. 

 

Im Moment jedoch hält sich Aristoteles mit einer solchen Qualifizierung, die wohl ohnehin nur eine Benennung sein könnte, zurück. Und er tut das auch gegenüber dem Unbewegten, das diese Sphäre in Bewegung versetzt hat und versetzt. Von dem sagt er, dass es wirklich existiert und sich nicht anders verhalten kann als so wie es sich verhält. Und wie verhält es sich? Es existiert mit Notwendigkeit, auf schöne, das heißt auf richtige und gute Weise und so auch als Prinzip, nämlich bewegungsauslösendes. 

 

Das ist ein ziemlich kurzer Katalog von Eigenschaften, die zwar irgendwie ins Extreme oder sagen wir ins Superlativische gehen, aber schlicht unverständlich sind sie nicht. Sie gehören der Ebene des Deskriptiven an – mit Ausnahme des „schön“, das adverbial eingesetzt wird. Seine Bewegungsleistung hängt damit zusammen, dass es von denen, die von ihm bewegt werden, geliebt wird, gleichsam geliebt. Das heißt diese Entitäten, zuvörderst sind es die Fixsterne, werden von ihm bewegt, indem sie es „gleichsam“ lieben. Ihnen wird gleichsam Liebestätigkeit zugeschrieben, Lebendigkeit ohnehin. 

 

Das sieht natürlich nach Animismus auf höchster Ebene aus; zunächst einmal auf zweithöchster Ebene. Was zwar als Wirkungszusammenhang uns nicht ganz unverständlich erscheint, aber als reales Geschehen in den Fernen des Universums für uns kaum Plausibilität gewinnt. 

 

Walter Seitter




[1] Curtius-Hartel-Gaar: Griechische Schulgrammatik (Wien 1954): 127ff. 

[2] Siehe Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste (Frankfurt 1986): 104ff.

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