τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 16. April 2023

Nahlesen, Fernlesen, Laterales Lesen, Figuration

Der englische Literaturkritiker und Rhetoriker I. A. Richards (1893-1979) plädierte für eine Leseweise, die sich auf die Wörter eines Textes konzentriert, statt sich auf vorgefaßte Meinungen oder übernommene Vorstellungen zu verlassen. Er empfahl diese Leseweise speziell für die Beschäftigung mit Gedichten.

 

Für die Lektüre der aristotelischen Metaphysik scheint sie weniger geeignet zu sein, da sie ein umfangreicher Text ist, der historisch zwischen der älteren griechischen Philosophie einerseits und einer riesigen Tradition aus Übersetzungen, Kommentaren, Rezeptionen, Umdeutungen und kritischen sowie polemischen Verwerfungen andererseits angesiedelt ist. Daher ist der Text mit einer Überfülle an kontroversen Bedeutungen aufgeladen, die es schwierig macht, überhaupt an ihn heranzukommen (was Lacan besonders deutlich gesehen und gesagt hat).

 

Umso dringlicher der ernsthafte Versuch eines Nahlesens, wie wir ihn hier unternehmen. Ein Versuch, für den es das braucht, was Lacan als hartnäckiges Insistieren auf einem Begehren bezeichnen würde, das heißt auf einer rücksichtslosen Eigensinnigkeit.[1]

Die Begriffe, mit denen Aristoteles sich im 7. Kapitel von Buch XII an die lange anvisierte gewissermaßen supplementäre Bewegursache für alle Dinge heranmacht, zunächst sind es Begriffe der Psychologie, dann der Noologie, verdienen nicht nur, sie brauchen eine eingehende Nahlektüre – die allerdings theoriehistorische Vergleiche (wie mit dem freudschen „Lustprinzip“) nicht ausschließen. 

 

Der Gegenbegriff zum close reading, das distant reading oder „Fernlesen“, wurde vom italienischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti (*1950) erfunden und bezeichnet die Leseweise, mit der große Massen von Texten, auch weit auseinander liegende, mit bestimmten Kriterien geordnet und verglichen werden.

 

Gemeinsam ist beiden Leseweisen das Wissen um die Distanz der Leser gegenüber dem Gelesenen. Ich nenne diese Distanz das „seitliche“, das „laterale“ Verhältnis. Lesen heißt etwas so intensiv anschauen, und zwar durchschauend, weiterschauend, hin und her schauend - bis dieses „etwas“ zu sprechen beginnt.

 

Dazu gehört das Wissen um die Materialität der Texte, die sich von keiner Idealisierung auflösen läßt. Mir ist diese Materialistik durch französische Autoren wie Foucault, Deleuze, Derrida und Lacan beigebracht worden und sie hat mich im übrigen dazu geführt, innerhalb der Philosophie eine Art „Physik“ zu versuchen – weniger eine „Metaphysik“. Die beiden Lektüresorten könnten der Mikrophysik sowie der Makrophysik zugeordnet werden. Und sofern das Gelesene mit bestimmten Menschen assoziiert wird, handelt es sich um Kollegen oder „Nebenmenschen“, wie man in Österreich bis 1938 gesagt hat.  

 

Das Laterale Lesen vermeidet zwei „Identifizierungen“ mit dem Text: die unterwürfige des Anhängers sowie die besserwisserische des Alleswissers. 

 

Mit seinen beiden „Listen-Büchern“ (III, V) hat Aristoteles selber punktuelle Nahlektüren seines Projekts in sein Werk eingebaut. Die Bücher VI und XII sind eingebaute Übersichten oder Fernlektüren. 

 

Daß die beiden genannten Lesespezialisten professionelle Literaturwissenschaftler sind, ist wohl kaum ein Zufall. Denn das Lesen sogenannter literarischer oder belletristischer Werke hat zur Materialität des Textes zumeist ein besseres Verhältnis als das Lesen philosophischer Texte. Beide machen Vorschläge für „bessere“ Lektüren und insofern sind beide nicht theoretische Literaturwissenschaftler sondern „poietische“ im aristotelischen Sinn. Solche, denen es um die Verbesserung oder Erlernung einer Leistung geht, nämlich der Leseleistung.

 

 

Jetzt noch einmal zurück zur kleinen zoologischen besser wohl zoographischen Liste „Mensch, Pferd, Gott“ (Listen haben es mehr mit Graphien als mit Theorien zu tun).

 

Es handelt sich um die Spezifizierung der Gattung „Lebewesen“ – allerdings um eine sehr selektive. Denn zu dieser Gattung gehören – für Aristoteles – beinahe unzählige Arten, eben die Tierarten, über die er einige ganze Bücher geschrieben hat.

 

Die drei genannten Arten müssen für diese Zusammenstellung bewußt ausgewählt worden sein, sodaß mit der Auswahl eben doch irgendeine theoretische Aussage gemacht worden sein wird. Eine mit drei sehr bekannten Begriffen angedeutete, aber eben doch nur angedeutete Aussage. Eine Aufforderung zum Interpretieren, wie sie ähnlich in wortkargen Gedichten vorliegt – und wo jedes Wort Gewicht hat. 

 

Mensch, Pferd, Gott. Jeder Begriff soll für eine Spezies stehen. Die „normalste“ Spezies dürfte wohl auch für Aristoteles das Pferd sein – ein vertrautes Haus- und Nutz- aber auch Prestigetier.

 

Vertraut den Menschen, die in dieser kurzen Liste ebenfalls Platz haben, da sie ebenfalls eine Art innerhalb der Lebewesen sind. Wohl auch für Aristoteles eine herausgehobene Art, da sie die Pferde gebrauchen und schätzen, ja beherrschen. Für uns Heutige bilden die Menschen schon eine auffällige Erweiterung der Zoographie – wir halten uns eben doch für bessere, ja für sehr bessere Tiere. Immerhin sind wir die einzigen Lebewesen, die solche Sachen wie Tierlisten, Tierbeschreibungen überhaupt machen können. Aristoteles nennt den Menschen, das Lebewesen „das den Logos hat“. Die anderen haben den nicht (die Neugriechen haben ausgerechnet für das Pferd das Wort alogo erfunden). 

 

In unserem heutigen Verständnis dehnt also der Begriff „Mensch“ den Gattungsbegriff „Lebewesen“ aus und gewissermaßen hinauf.

 

Noch mehr tut dies der Begriff „Gott“ – obwohl der bei Aristoteles doch als ein Artbegriff gilt. Aber er bezeichnet eine Art, die sich in den animalischen Gattungsbegriff nur schwerlich einordnet, und außerdem eine Art, die vielleicht nur ein einziges Individuum enthält. Das ist nicht ganz sicher, zumal Aristoteles, wenn er guter Laune ist, auch die Götter der Volksreligion gelten läßt. 

 

Daß er den Begriff „Gott“ in seine kleine zoographische Liste aufnimmt, setzt diese in den Rang eines wichtigen kosmographischen Resümés. Und es zeigt auch, daß Aristoteles seine Begriffe elastisch weitet und dehnt. 

 

Ich spreche von „Liste“ auch deswegen, um an das umfangreiche Begriffsverzeichnis zu erinnern, welches das ganze Buch V ausmacht und 30 Begriffe enthält und erklärt.

 

Die drei Lebewesen-Nennungen bilden bestimmt sehr „wichtige“ Begriffe. Welche von ihnen finden einen Platz im großen Begriffsverzeichnis?  

 

Genau: kein einziges. 

 

Eine hervorragende Gelegenheit, um die Architektonik des aristotelischen Denkens zu begreifen. Jetzt die seit Jahren von mir durchgeführte und betonte und von manchen belächelte Unterscheidung zwischen Realitätssorten und Seinsmodalitäten.

 

Die drei Lebewesen stehen für eine oder für drei - je nachdem – Realitätsorten. Die 30 Begriffe von Buch V hingegen für Seinsmodalitäten, wobei die Zahl 30 nicht in Stein gemeißelt ist. 

 

Diese Nachbemerkung soll deutlich machen, daß das Lesen und Deuten der Metaphysik sich als Fremddeuten zu qualifizieren hat. Man muß dem Buch Begriffe und Aussagen zuwerfen, die man – mehr oder weniger - selber erfunden hat. Und die es – im Glücksfall – treffen. Ganz egal in welcher Sprache. 

 

Das griechische Wort für „treffen“: tynchanein

 

Und sowas kann man nur, wenn man, wie oben angedeutet, im Lesen und Deuten, auf Biegen und Brechen seinem Begehren treu bleibt, das ein ferngesteuertes ist. 

 

Zum griechischen Begriff zoon „Lebewesen“ kommt noch eine weitere Dehnung. Die von Aristoteles überhaupt nicht erwähnt wird, aber in der griechischen Sprache seiner Zeit ganz selbstverständlich „dabei“ ist: zoon bedeutet auch Bild, Zeichnung, Gemälde (so bei Platon). Also bestimmte Artefakte aus Steinen und Farben, Erzen oder Edelsteinen, die gemacht sind, um andere Dinge, zum Beispiel Tiere, Menschen oder Götter zu zeigen.[2] Also genau oder jedenfalls ungefähr solche Wesen, die in der Dreier-Liste genannt werden.  

 

Das heißt: alle Wesen noch einmal. Oder vielleicht noch zweimal. Naturwesen, Kunstwesen, Götterbilder oder Bildgötter.

 

Und hier gewinnt das gelehrte Sammelsurium des Hermann von Kärnten, wie wir es in der letzten oder vorletzten Stunde gelesen haben: die Nymphen und Faune, die Halbgötter und die Heroen, die Gottwerdungen und Menschwerdungen, die Inspirierung der Bildwerke durch Dämoneneingebung. All das gewinnt den Charakter von chaotischen Fremddeutungen zu den oftmals kühlen und wortkargen Andeutungen des Aristoteles. 

 

Immerhin hat er sich im 7. Kapitel des Buches XIII zu einer Art von zaghafter Beschreibung, zu einer verschämten Bewunderung für das UB hinreißen lassen oder für das DD. So daß das UB oder DD sich zu einer Figur kristallisiert oder rundet oder färbt. Für die sogar ein lebendiges Bildwerk erfunden werden könnte, für welches sich eine dämonische Beseelung herbeibitten läßt.

 

Zum Beispiel dieses Bild, das eine Statue darstellt, welche von der amerikanischen Schauspielerin Tanner Mayes gespielt wird.[3]

 

 


 

Walter Seitter


[1] Georg Gröller hat diese Verhaltensweise am Beispiel von Lacan selber anschaulich geschildert. Siehe ders.: Gott ist unbewußt. Entwurf einer atheistischen Mystik (Wien-Berlin 2022): 54-63. Zwar behaupte ich nicht, daß die von mir hier erfundene und durchgeführte Metaphysik-Lektüre und Lektüre-Diskussion und -Protokollierung so intensiv ist, wie sie sein sollte; aber dreizehn Jahre Seminar sowie die Parallellektüren von Ponge, Serres (Lukrez) und Hermann zeugen von einer vermutlich raren Bemühung. 

[2] Diese zusätzliche Bedeutung ist in die Sprache so tief eingedrungen, daß sie zusammengesetzte Wörter gebildet hat, die bis heute in der neugriechischen Sprache gang und gäbe sind. 

[3] Literatur zu Tanner Mayes: Walter Seitter: Intimsteintechnik, in: Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42 Bleibende Steinzeit (Wien 2018); Die Kardinal, in: Vierundzwanzigste Etappe (Bonn 2018/2019). Das theoretische Umfeld ist von Pierre Klossowski entdeckt bzw. erfunden worden. Siehe ders: Kultische und mythische Ursprünge gewisser Sitten der Römischen Damen (Berlin); Die Ähnlichkeit (Bern-Berlin 1986); Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018); H. Ebner, I. Gurschler, W. Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen