τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 20. April 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1048b 18 – 1048b 37)



In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1048b 18 – 1048b 37) 


Bisher stand die Polarität zwischen Vermögen und Verwirklichung im Vordergrund – zwei Seinsmodalitäten, die auch in der uns bekannten Realität vorkommen (wie die vielen Beispiele anschaulich machen – etwa Baumeister und Bautätigkeit) und nicht nur aristotelische Konstruktionen sind (aber hier sind sie von Aristoteles formuliert).

Dynamis und energeia. Die Übersetzung von energeia  durch „Verwirklichung“ ist, wie Sophia Panteliadou sagt, sehr problematisch und das zeigt sich gerade nun, da sie selber differenziert wird. Eine Differenzierung, die Aristoteles begrifflich vornimmt, wobei er allerdings in seiner Begriffsverwendung selber schwankt.

Zunächst ist es der Begriff der Handlung, der differenziert wird: es gibt Handlungen, die ich hier in eine linke Kolonne schreibe, und solche, die ich in die rechte schreibe:

sehen                                 abmagern
überlegen                             gesund werden
denken                                lernen
gut leben                             gehen
glücklich sein                        bauen
leben                                 entstehen

Die Wörter auf der rechten Seite bezeichnen Tätigkeiten (und zwar fast ausschließlich typisch menschliche), die ihr Ziel nicht in sich enthalten, wohl aber jeweils auf ein Ziel ausgerichtet sind, ein externes Ziel. Und diese Tätigkeiten sind deswegen auch darauf angelegt, dass sie aufhören, wenn das Ziel erreicht ist. Insofern begrenzte Tätigkeiten.

Links solche Tätigkeiten, die ihr Ziel in sich selbst enthalten: sobald sie angefangen haben, erreichen sie „immer schon“ ihr Ziel – und daher haben sie keinen Grund, irgendwann aufzuhören, denn, indem sie weitergehen, erreichen sie weiterhin ihr Ziel. Tätigkeiten mit internem Ziel und mit einer gewissen Unaufhörlichkeit.

Diese beiden Tätigkeitssorten werden also mittels der Begriffe Ziel und Grenze voneinander unterschieden. Die auf der linken Seite werden von Aristoteles hauptsächlich als Handlungen bezeichnet und zwar als vollkommene. Die auf der rechten Seite als Bewegungen, d. h. Veränderungen zu einem bestimmten Resultat hin. Wolfgang Koch sagt, die ersten stehen für „Sein“, die zweiten für „Werden“. Wobei „Sein“ aber nicht ein ganz stilles Sein meint, etwa ein Steinsein, sondern ein Tätigsein, das einen hohen Aktivitätsgrad vollzieht und durchhält. (Die moderne Physik würde sagen, auch im Stein vollziehen die Atome mit ihren Bestandteilen zyklische Abläufe).

Eine andere Charakterisierung des Unterschieds drückt Aristoteles mit einer Art Sprachspiel so aus. Handlung: man lebt und hat damit schon gelebt. Bewegung: man lernt und hat damit (vielleicht) noch nicht (aus)gelernt. Im ersten Fall eine Koinzidenz von Gegenwart und Vergangenheit: das Jetzt ist eine Weiterführung des Früher. Es gibt keinen Grund zum Aufhören, es geht um Dauer – oder um unbegrenzte Gegenwart. Die aber gar nicht mit dem sogenannten Unbegrenzten von vorhin ineins fällt. Während dieses nach Aristoteles nur im Möglichen verbleibt, sind die unbegrenzten Gegenwarten auf der linken Seite Hochleistungswirklichkeiten.

Man könnte die zwei Kolonnen aus der letzten Stunde mit denen von heute zu einer Viersäulenarchitektur mit folgenden Überschriften ausbauen:

Verwirklichungen          Vermögen          Unbegrenztes  
Handlungen  Bewegungen  

Gerhard Weinberger stellt die Frage, ob nicht die Koinzidenz der Zeitstufen in den Handlungen auch die Zukunft einbeziehen könnte oder müsste. Berechtigte Frage, die meines Erachtens mit Ja zu beantworten ist. Und von Aristoteles wird sie indirekt auch so beantwortet: denn das Nicht-aufhören-müssen macht er zum Kennzeichen des Glücklich-seins (1048b 27). Aber ausdrücklich führt er hier die Zukunft nicht ein (wohl hat er das im Verhältnis Vermögen-Verwirklichung getan). Hier handelt es sich um die Zeitstufen innerhalb der Verwirklichung (Handlung) und da scheint Aristoteles zukunftsscheu zu sein. Eine Einbeziehung der Vergangenheit haben wir schon bei dem to ti en einai festgestellt (einem Synonym des Wesens und der energeia)

Mit der ganz linken Kolonne rekonstruiere ich die Konstruktion des exakten Begriffs der Handlung (praxis), des Grundbegriffs der aristotelischen Ethik und Politik. Diese Konstruktion hat sich hier im Buch IX der Metaphysik zugetragen, sozusagen zusammengetragen, ohne dass von Ethik die Rede war. Es handelt sich um eine Konstruktion aus der Ontologie heraus - nicht mit den Begriffen Substanz und Akzidens sondern mithilfe der Begriffe Vermögen und Verwirklichung, die ebenfalls ontologische Begriffe sind, da auch sie Seinsmodalitäten bezeichnen.

Die linke Kolonne repräsentiert das Maximum an energeia in diesem Kapitel – in größter Absetzung vom sogenannten „Unbegrenzten“ ganz rechts, wo sich die pure Möglichkeit ausbreitet. Von diesem Unbegrenzten haben sich bereits die einzelnen Vermögen abgesetzt, dann die Bewegungen mit ihren externen Zielen, schließlich die Handlungen mit internen Zielen und Dauerhaftigkeit.

Schauen wir uns an, aus welchen Tätigkeiten sich dieser Handlungsbegriff zusammensetzt, so können wir zwei Gruppen feststellen:

sehen                                  leben
überlegen                              gut leben
denken                                 glücklich sein

Die eine Gruppe besteht aus drei „theoretischen“ Tätigkeiten – obwohl auch sie die Praxis konstituieren sollen.

In der zweiten Gruppe fällt auf, dass das Verb leben zweimal vorkommt – einmal leben überhaupt, dann gut leben. Diese beiden Ausdrücke spielen bei Aristoteles auch an anderer Stelle eine wichtige Rolle – und zwar als Polarität. Hier aber werden sie aneinander gereiht und verbunden mit dem glücklich sein. In dieser Gruppe dominiert das Biotische, das Vitale, das Pragmatische, ja das Hedonistische. Ein Gegensatz zur ersten Gruppe? Das mag uns so scheinen, doch der daraus gebildete Begriff der Handlung ist eben so komplex. Dass es sich dabei um den Grundbegriff der aristotelischen praktischen Philosophie handelt, wird in der hier skizzierten Rekonstruktion wohl nicht recht deutlich. Es ist aber so.     

PS.: Heute, am 11. April, war ich bei der Trauerfeier für den Architekturkritiker Friedrich Achleitner (mit einigen schönen Reden und Lesungen, etwa einer von Oswald Wiener (mit äußerst präzisen Küchengedichten)).

Ich nehme das zum Anlass, einige Bemerkungen über Beziehungen zwischen Aristoteles und Architektur zu machen. Solche sind zum ersten Mal im Winter 2000 in mein Leben getreten, als ich die Metaphysik kursorisch durchging, um dort eine Physik des Hauses zu suchen und zu finden. Eine Motivation dazu hatte ich drei Jahre zuvor beim mehrmaligen Sehen eines sehr einfachen Films empfangen: Der Mann, der ein schönes Haus hatte – von Jimmie Durham (1994). Wo er sich im Grünen auf einen Stein setzt, aus seinem Mantel einen in Zeitungspapier gewickelten Ziegelstein herausholt und zu reden anfängt: „Ja, ich habe ein sehr schönes Haus ...“, und dann zeigt er noch ein Stück von einem abgebrochenen Küchenmesser, um uns zu zeigen, wie schön seine Küche ist. Diese minimalistische Hausbetrachtung und –beschreibung hat mich dann angespornt, in dem berühmten Buch des Aristoteles recht bescheidenen Ausführungen nachzugehen, den kurzen Ansätzen zu einer Definition des Hauses: Steine und Hölzer als Materialien; schützender Behälter für Leiber und Gerätschaften als Funktion ... und dann noch diese Physik als Basis für eine praktische Wissenschaft, wie nämlich Mann und Frau und Kinder und Knechte sich regieren müssen. Auf die Entstehung eines Hauses geht Aristoteles öfter ein und seine Rede bleibt immer beim Hausbau, nie suggeriert er Vorstellungen von Heiligtümern, die unser Wissen von antiker Architektur prägen; es geht immer um die prosaische Ebene der Häuser für Männer, Frauen und so weiter. Dieses Sammeln von derartigen Fußnoten trieb meine erste persönliche Aristoteles-Lektüre an und allmählich schärfte sich mein Gespür für seine oftmals lakonische und steinige Sprache, für recht hölzerne Wendungen wie etwa „das Seiende“, an das ich mich nur schlecht gewöhnen kann – doch diese Gewöhnungsschwierigkeit verhilft mir dazu, dann doch die Erkenntnischance wahrzunehmen, die sich auftut, wenn die Betrachtung „des Seienden als Seienden“ zum Programm gemacht wird und das Seiende aus der Nähe betrachtet und sozusagen aufgeschlagen werden soll.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 10. April 2019
Nächste Sitzung am 08. Mai 2019

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