τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 22. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1064b 15 – 1065a 34)

 Es gibt in der Philosophiegeschichte eine Theorierichtung oder -gruppe, die unter dem Namen „Ontologismus“ läuft, sich von Aurelius Augustinus’ Ideenlehre, vom „ontologischen Gottesbeweis“ und namentlich von Nicolas Malebranche (1638-1715) herleitet. Als Hauptvertreter gilt Antonio Rosmini-Serbati (1797-1855); alle Ontologisten verstehen sich explizit als christliche Denker und ihre Hauptthese besagt, dass die Gotteserkenntnis die einzige ursprüngliche ist und die göttliche Macht die einzige von sich aus wirksame. Damit identifizieren sie Ontologie mit Theologie und sprechen dieser den Vorrang zu. In allen Punkten setzen sie sich eindeutig von Aristoteles ab. (Man spricht übrigens auch von einem „Kapuziner-Ontologismus“ des 17. und von einem „Tiroler Ontologismus“ des 18. Jahrhunderts. (Offensichtlich Barockspezialitäten))

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Aber im zuletzt gelesenen Absatz hat Aristoteles den Eindruck erweckt, ebenfalls die „Theologie“ und die „Wissenschaft vom Seienden, insofern es ist“ gleichzusetzen, obwohl jene „ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen“ betrachtet, während diese eine „allgemeine“ Wissenschaft sein soll.

Was für einen Begriff von „Theologie“ hat eigentlich Aristoteles und wie kommt er zu ihm? Er übernimmt das Wort wohl von Platon, der im Zweiten Buch der Politeia (379a) bei der Erörterung der „Gymnastik“ und der „Musik“, also der Körper- und der Seelenbildung der Kinder, darauf Wert legt, dass in den Geschichten für die Kinder eine richtige Lehre von den Gottheiten dargeboten wird, eine andere als die von Homer und Hesiod erdichtete; nämlich eine, die der Einprägung der Tugenden dient.

Der aristotelische Begriff von Theologie wird hingegen allein auf die Betrachtung eines Ersten Wesens ausgerichtet und die Frage ist, ob und wie eine solche Betrachtung als eine „allgemeine Wissenschaft“ gelten kann: sie kann es nur indirekt, da sie über „allen“ Entitäten steht. Direkt als allgemeine Wissenschaft wird die Wissenschaft vom Seienden als solchen durchgeführt, indem sie den diversesten Seinsmodali†äten nachgeht. Von Aristoteles wird sie, wie wir gesehen haben, von der Theologie eher ferngehalten (da die Gottheit ohnehin irgendeine Seinsmodalität aufweist). Aber in seinem Dreierschema kann sie nur der Theologie zugeordnet werden. Anscheinend ein „Aporie“, die nur gelöst werden kann, wenn man „Theologie“ und „Ontologie“ begrifflich unterscheidet, was man nicht immer unmissverständlich getan hat.

Und siehe da, mit dem Abschnitt 8 springt der Text direkt in die Ontologie hinein, natürlich nicht in die „ontologistische“, sondern in die aristotelische. Und zwar in eine Abteilung derselben, die für sie paradigmatisch ist, nämlich in die Abteilung, die sich mit den Akzidenzien beschäftigt. Als paradigmatisch kann sie deswegen bezeichnet werden, weil die Akzidenzien, neben den Privationen, Möglichkeiten, Vernichtungen, Falschheiten zu den „minderen“ Seinsmodalitäten gehören – die sich gerade noch aus dem Nicht-Sein zum Sein emporarbeiten und die von der Ontologie gerade noch davor bewahrt werden, aus jedweder Betrachtung und Wissenschaft ins Nicht-Sein verstoßen zu werden. Das ist wenn schon nicht eine Intention so doch eine Funktion der aristotelischen Ontologie, wie hier schon öfter festgestellt worden ist.
„Nachdem das schlechthin Seiende in mehreren Modi ausgesagt wird und ein Modus davon das Akzidenziell-Sein ist, muß  zunächst einmal nachgeschaut werden, wie es sich mit dieser Bestimmung verhält. Es stellt sich heraus, dass sich keine der überkommenen Wissenschaften mit dem Akzidens beschäftigt; die Baukunstlehre interessiert sich nicht dafür, ob die Bewohner der Häuser traurig oder fröhlich sein werden. Und ähnlich die Web-, die Schuster-, die Kochkunstlehre. Jede dieser Wissenschaften schaut nur auf den ihr eigenen Zweck. Und keine der anerkannten Wissenschaften würde sich damit beschäftigen, wie es sich damit verhält, wenn jemand musisch ist, weil er sprachkundig geworden ist .... mit Ausnahme der Sophistik. Mit dem Akzidens befasst sich nämlich allein die Sophistik; weshalb also Platon nicht übel gesprochen hat, als er sagte, dass der Sophist seine Zeit mit dem Nicht-Seienden vertreibe.“ (1064b 15ff.)

Hier werden einige Akzidenzien, nämlich Eigenschaften menschlichen Fühlens sowie menschlicher Qualifizierung, in die Nähe verschiedener Kunstfertigkeiten gerückt, gleichzeitig aber von den dazugehörigen Kunstwissenschaften, also poietischen Wissenschaften ferngehalten, sofern die Kunstfertigkeiten mit dem Auftreten der Eigenschaf†en nichts zu tun haben. Mit der Polemik gegen die Sophisten schließt sich Aristoteles für einen Moment an Platon an, der sich mit seiner Ideenlehre jedweden Zugang zu den Akzidenzien verbaut hat, während Aristoteles mit seiner Ontologie einen anderen Weg bahnen sollte.

Warum aber schließt Aristoteles akzidenzielle Eigenschaften von den Wissenschaften aus? Er argumentiert so: „Daß es aber vom Akzidens gar keine Wissenschaft geben kann, wird sich klar zeigen, wenn wir zu sehen versuchen, was eigentlich das Akzidens ist. Alles, sagen wir, sei einerseits immer und notwendigerweise ..., andererseits zumeist, und wieder andererseits .... so wie es der Zufall gefügt hat.... Es ist also das Akzidens etwas, was zufällig eintrifft – weder immer und notwendigerweise noch zumeist. Was nun das Akzidens ist, ist gesagt; und es ist offenbar, weshalb es von so etwas keine Wissenschaft geben kann. Denn jede Wissenschaft ist von dem Wissenschaft, was immer ist oder was zumeist ist. Das Akzidens aber gehört zu keinem von beiden.“ (1064b 30ff.)...

Ausschluß der Akzidenzien aus allen „überkommenen“ und „anerkannten“ Wissenschaften – und Begründung dafür mit dem Versuch, zu „sehen“, was das Akzidens ist. Der Ausschluß wird mit einer Einsicht in das Wesen des typisch Unwesenhaften begründet. Das ist ein exemplarischer Schritt der gerade erst sich formierenden Ontologie, die aus einer Aporie einen Ausweg sucht. Und die immer wieder auf die Problematik der Akzidenzien eingehen wird.

Die Akzidenzien sind irreguläre Ereignisse, die eintreten, weil in ihren Ursachenkonstellationen etwas dazu- oder dazwischengekommen ist, was weder zumeist noch immer eintrifft. Ohne sie wäre die Welt eine andere: es würde alles aus Notwendigkeit entstehen und bestehen.

„Das Worumwillen aber findet sich in Dingen, die von der Natur aus oder durch Überlegung entstehen. Zufall jedoch gibt es dann, wenn etwas hiervon in akzidenzieller Weise entsteht. Denn wie das Seiende einerseits an sich, andererseits akzidenziell ist, so ist dies auch bei der Ursache der Fall. Der Zufall ist eine akzidenzielle Ursache bei dem, das nach Entscheidung des Worumwillen entsteht. Daher handeln Zufall und Überlegung vom selben. Denn es gibt keine Entscheidung getrennt von der Überlegung. Die Ursachen dafür, was durch Zufall entstehen kann, sind unbestimmt; deshalb ist der Zufall für menschliche Überlegung unerklärbar und eine akzidenzielle Ursache; doch ist er von nichts eine Ursache schlechthin.“ (1065a 26ff.)

„Gewaltenteilung“ zwischen Notwendigkeit und Zufall.


Sommerferien bis Ende September 2020


Walter Seitter

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