Es
gibt in der Philosophiegeschichte eine Theorierichtung oder -gruppe, die unter
dem Namen „Ontologismus“ läuft, sich von Aurelius Augustinus’ Ideenlehre, vom
„ontologischen Gottesbeweis“ und namentlich von Nicolas Malebranche (1638-1715)
herleitet. Als Hauptvertreter gilt Antonio Rosmini-Serbati (1797-1855); alle
Ontologisten verstehen sich explizit als christliche Denker und ihre Hauptthese
besagt, dass die Gotteserkenntnis die einzige ursprüngliche ist und die göttliche
Macht die einzige von sich aus wirksame. Damit identifizieren sie Ontologie mit
Theologie und sprechen dieser den Vorrang zu. In allen Punkten setzen sie sich
eindeutig von Aristoteles ab. (Man spricht übrigens auch von einem
„Kapuziner-Ontologismus“ des 17. und von einem „Tiroler Ontologismus“ des 18.
Jahrhunderts. (Offensichtlich Barockspezialitäten))
*
Aber
im zuletzt gelesenen Absatz hat Aristoteles den Eindruck erweckt, ebenfalls die
„Theologie“ und die „Wissenschaft vom Seienden, insofern es ist“
gleichzusetzen, obwohl jene „ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen“ betrachtet,
während diese eine „allgemeine“ Wissenschaft sein soll.
Was
für einen Begriff von „Theologie“ hat eigentlich Aristoteles und wie kommt er
zu ihm? Er übernimmt das Wort wohl von Platon, der im Zweiten Buch der Politeia (379a) bei der Erörterung der
„Gymnastik“ und der „Musik“, also der Körper- und der Seelenbildung der Kinder,
darauf Wert legt, dass in den Geschichten für die Kinder eine richtige Lehre
von den Gottheiten dargeboten wird, eine andere als die von Homer und Hesiod
erdichtete; nämlich eine, die der Einprägung der Tugenden dient.
Der
aristotelische Begriff von Theologie wird hingegen allein auf die Betrachtung
eines Ersten Wesens ausgerichtet und die Frage ist, ob und wie eine solche
Betrachtung als eine „allgemeine Wissenschaft“ gelten kann: sie kann es nur
indirekt, da sie über „allen“ Entitäten steht. Direkt als allgemeine
Wissenschaft wird die Wissenschaft vom Seienden als solchen durchgeführt, indem
sie den diversesten Seinsmodali†äten nachgeht. Von Aristoteles wird sie, wie
wir gesehen haben, von der Theologie eher ferngehalten (da die Gottheit ohnehin
irgendeine Seinsmodalität aufweist). Aber in seinem Dreierschema kann sie nur
der Theologie zugeordnet werden. Anscheinend ein „Aporie“, die nur gelöst
werden kann, wenn man „Theologie“ und „Ontologie“ begrifflich unterscheidet,
was man nicht immer unmissverständlich getan hat.
Und
siehe da, mit dem Abschnitt 8 springt der Text direkt in die Ontologie hinein,
natürlich nicht in die „ontologistische“, sondern in die aristotelische. Und
zwar in eine Abteilung derselben, die für sie paradigmatisch ist, nämlich in
die Abteilung, die sich mit den Akzidenzien beschäftigt. Als paradigmatisch
kann sie deswegen bezeichnet werden, weil die Akzidenzien, neben den
Privationen, Möglichkeiten, Vernichtungen, Falschheiten zu den „minderen“
Seinsmodalitäten gehören – die sich gerade noch aus dem Nicht-Sein zum Sein
emporarbeiten und die von der Ontologie gerade noch davor bewahrt werden, aus
jedweder Betrachtung und Wissenschaft ins Nicht-Sein verstoßen zu werden. Das
ist wenn schon nicht eine Intention so doch eine Funktion der aristotelischen
Ontologie, wie hier schon öfter festgestellt worden ist.
„Nachdem
das schlechthin Seiende in mehreren Modi ausgesagt wird und ein Modus davon das
Akzidenziell-Sein ist, muß zunächst
einmal nachgeschaut werden, wie es sich mit dieser Bestimmung verhält. Es
stellt sich heraus, dass sich keine der überkommenen Wissenschaften mit dem
Akzidens beschäftigt; die Baukunstlehre interessiert sich nicht dafür, ob die
Bewohner der Häuser traurig oder fröhlich sein werden. Und ähnlich die Web-,
die Schuster-, die Kochkunstlehre. Jede dieser Wissenschaften schaut nur auf
den ihr eigenen Zweck. Und keine der anerkannten Wissenschaften würde sich
damit beschäftigen, wie es sich damit verhält, wenn jemand musisch ist, weil er
sprachkundig geworden ist .... mit Ausnahme der Sophistik. Mit dem Akzidens
befasst sich nämlich allein die Sophistik; weshalb also Platon nicht übel
gesprochen hat, als er sagte, dass der Sophist seine Zeit mit dem
Nicht-Seienden vertreibe.“ (1064b 15ff.)
Hier
werden einige Akzidenzien, nämlich Eigenschaften menschlichen Fühlens sowie
menschlicher Qualifizierung, in die Nähe verschiedener Kunstfertigkeiten
gerückt, gleichzeitig aber von den dazugehörigen Kunstwissenschaften, also
poietischen Wissenschaften ferngehalten, sofern die Kunstfertigkeiten mit dem
Auftreten der Eigenschaf†en nichts zu tun haben. Mit der Polemik gegen die
Sophisten schließt sich Aristoteles für einen Moment an Platon an, der sich mit
seiner Ideenlehre jedweden Zugang zu den Akzidenzien verbaut hat, während
Aristoteles mit seiner Ontologie einen anderen Weg bahnen sollte.
Warum
aber schließt Aristoteles akzidenzielle Eigenschaften von den Wissenschaften
aus? Er argumentiert so: „Daß es aber vom Akzidens gar keine Wissenschaft geben
kann, wird sich klar zeigen, wenn wir zu sehen versuchen, was eigentlich das
Akzidens ist. Alles, sagen wir, sei einerseits immer und notwendigerweise ...,
andererseits zumeist, und wieder andererseits .... so wie es der Zufall gefügt
hat.... Es ist also das Akzidens etwas, was zufällig eintrifft – weder immer
und notwendigerweise noch zumeist. Was nun das Akzidens ist, ist gesagt; und es
ist offenbar, weshalb es von so etwas keine Wissenschaft geben kann. Denn jede
Wissenschaft ist von dem Wissenschaft, was immer ist oder was zumeist ist. Das
Akzidens aber gehört zu keinem von beiden.“ (1064b 30ff.)...
Ausschluß
der Akzidenzien aus allen „überkommenen“ und „anerkannten“ Wissenschaften – und
Begründung dafür mit dem Versuch, zu „sehen“, was das Akzidens ist. Der
Ausschluß wird mit einer Einsicht in das Wesen des typisch Unwesenhaften
begründet. Das ist ein exemplarischer Schritt der gerade erst sich formierenden
Ontologie, die aus einer Aporie einen Ausweg sucht. Und die immer wieder auf
die Problematik der Akzidenzien eingehen wird.
Die
Akzidenzien sind irreguläre Ereignisse, die eintreten, weil in ihren Ursachenkonstellationen
etwas dazu- oder dazwischengekommen ist, was weder zumeist noch immer
eintrifft. Ohne sie wäre die Welt eine andere: es würde alles aus Notwendigkeit
entstehen und bestehen.
„Das
Worumwillen aber findet sich in Dingen, die von der Natur aus oder durch
Überlegung entstehen. Zufall jedoch gibt es dann, wenn etwas hiervon in
akzidenzieller Weise entsteht. Denn wie das Seiende einerseits an sich,
andererseits akzidenziell ist, so ist dies auch bei der Ursache der Fall. Der
Zufall ist eine akzidenzielle Ursache bei dem, das nach Entscheidung des
Worumwillen entsteht. Daher handeln Zufall und Überlegung vom selben. Denn es
gibt keine Entscheidung getrennt von der Überlegung. Die Ursachen dafür, was
durch Zufall entstehen kann, sind unbestimmt; deshalb ist der Zufall für
menschliche Überlegung unerklärbar und eine akzidenzielle Ursache; doch ist er
von nichts eine Ursache schlechthin.“ (1065a 26ff.)
„Gewaltenteilung“
zwischen Notwendigkeit und Zufall.
Sommerferien
bis Ende September 2020
Walter
Seitter
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