Es
empfiehlt sich zu sehen, dass die aristotelische Ontologie aus mehreren Stücken
besteht. Wenn man das nicht sieht, besteht die Gefahr, daß man die Masse an
Behauptungen für abstrus und chaotisch hält; oder aber dass man ein Stück, etwa
die Achse der Kategorien, für das einzige maßgebliche hält und dann auch noch
den Begriff des Wesens für den einzigen Hauptbegriff.
Neben
den Ontologie-Achsen nimmt das Ontologie-Axiom eine Sonderstellung ein. Von
Aristoteles wird es „Sicherstes Prinzip“ genannt – aber worin besteht seine
Prinzipialität? Vor kurzem habe ich die „durchgängige Bestimmung“ als Kriterium
dafür genannt. Jetzt sehe ich in dem Buch des neulich erwähnten Reiner
Schürmann, dass er ebenfalls dieses Kriterium namhaft macht – und von Kant
übernimmt.[1]
Die
damit verbundene Abschwächung des Begriffs „Prinzip“ liegt auf der Linie von
Schürmanns Buchtitel, der sich ja mit „Prinzip der Prinzipienlosigkeit“
übersetzen lässt. Und Aristoteles selber scheint den
Begriff von einer etwaigen „archaischen“ oder fundamentalen oder gar
fundamentalistischen Aura wegzurücken, indem er ihn einer ähnlichen
„Vervielfältigung“ unterzieht, wie sie bekanntermaßen dem „seiend“ angetan wird.
Wir
haben festgestellt, dass Aristoteles in der Verteidigung dieses Sichersten
Prinzips gegen bestimmte Aussagen, die ihm angeblich widersprechen,
ontologische Positionen bekräftigt, die man schon kennt. Und damit bewährt sich
das Prinzip als ein solches – auf das man sozusagen im Not- oder im
Verteidigungsfall zurückgreifen kann.
Aber
seine rein semantische Bedeutung reduziert sich vielleicht auf:
Wenn
etwas ist, so ist es, wie es ist. Und wenn etwas sich weigert, so zu sein, wie
es ist – dann weigert es sich eben. Und dann ist es eben anders – irgendwie
anders. Also so, wie es ist.
Ich
habe dieses Axiom auch als „Prinzip etwas“ bezeichnet. Ein anderer Name:
„Prinzip irgendwie“.
*
Brüsker
Themenwechsel. Zurück zu den wissenschaftstheoretischen Überlegungen im
Abschnitt 4 bzw. zu den weiter ausholenden von Buch VI – und zwar unter dem
Gesichtspunkt verschiedener Prinzipien für verschiedene Wissenschaften.
1063b
36: Heilkunde und Gymnastik und die übrigen poietischen und mathematischen
Wissenschaften. Die „mathematischen“ sind hier wohl irrtümlich
dazwischengekommen, denn die gehören gewiss zu den theoretischen. Aber die
Heilkunde und die Gymnastiklehre liefern als poietische Wissenschaften eine
dankenswerte Erweiterung des Horizonts – etwa auch in dem Sinn, dass damit die
Frage aufgeworfen werden kann, wieso die Philosophie bzw. Erste Philosophie mit
diesen Wissenschaften nichts zu tun haben soll.
Auch
diese Wissenschaften umschreiben jeweils eine bestimmte Gattung und behandeln
sie als ein Bestehendes und Seiendes – doch nicht als „Seiendes als seiendes“.
(1064a 3)
Was
wird die Gattung dieser beiden Wissenschaften sein? Zum einen wohl die
Gesundheit oder aber die Wiederherstellung der Gesundheit. Zum anderen ein
Teilaspekt davon nämlich die athletische Tüchtigkeit bzw. deren Gewinnung oder
Förderung. Oder wäre der Bereich der Gymnastiklehre noch etwas weiter
abzurücken und mehr im Bereich des Ästhetischen, also der Körperschönheit zu
sehen? Diese ästhetische Nuance ist allerdings im griechischen Denken von der
erstgenannten nicht zu trennen. (Und im modernen vielleicht auch nicht – man
denke an die Fitness.)
Gesundheits-
und Schönheitsgewinnung sind die beiden seienden, also wirklichen Bereiche der
beiden wissenschaftlichen Disziplinen. Sie sind wichtige menschliche
Möglichkeiten oder Anlagen und als solche Aufgaben oder Ziele, die
individuell und kollektiv kultiviert werden. Ist es diese Zielrichtung,
die ihre explizite Betrachtung „als seiend“ ausschließt, die sie aus
der Ersten Philosophie ausschließt und sie in eine andere Wissenschaftsgattung einordnet?
Gehört das Gute, das „worumwillen“ nicht zum Seienden, das als
seiendes betrachtet werden kann?
In
der Ursachenlehre nimmt es immerhin die Position der vierten Ursache ein? Und
die Ursachen – bilden sie nicht eine starke Seinsmodalität? Sind sie nicht
„zuständig“ für Verwirklichung, für Entstehung? Hat die Zielursache keinen
ordentlichen Platz innerhalb der Seinsmodalitäten?
Aristoteles
stellt zwar die Frage nach den Ursachen – aber auf andere Weise.
„Bei
einer Bewirkungswissenschaft, also bei einer poietischen Wissenschaft, befindet
sich das Prinzip der Bewegung im Bewirkenden und nicht im Bewirkten, und dies
ist eine Kunst oder ein anderes Vermögen.“ (1064a 13) Die Ursächlichkeit
liegt da bei Menschen, die mit bestimmten Fähigkeiten bestimmte Resultate
herbeiführen, etwa Kunstwerke oder Gesundheit oder Körperschönheit.
Analog
verhält es sich in den praktischen Disziplinen Ethik, Politik, Ökonomik. „Bei
der Handlungswissenschaft befindet sich das Prinzip der Bewegung nicht im
Gehandelten sondern in den Handelnden.“ (1064a 14) Die Handelnden sind mehr
oder weniger tugendhafte Menschen, die ihr Zusammenleben mehr oder weniger gut
führen.
„Hingegen
bezieht sich die Wissenschaft des Physikers auf die Dinge, die das Prinzip der
Bewegung in sich selber haben – und folglich muß die Naturwissenschaft weder
eine handelnde noch eine bewirkende sondern eine betrachtende Wissenschaft
sein.“ (1064a 15f.)
Betrachtend
wird sie von Aristoteles genannt, weil sie sich auf Gegenstände bezieht, die
von sich aus und ohne menschliches Zutun so sind, wie sie sind. Während die
anderen Wissenschaften menschliches Verhalten empfehlen und beurteilen – das
von den Menschen neben den Wissenschaften durchgeführt wird.
Die
Naturwissenschaft betrachtet ihre Gegenstände, die allesamt stofflicher Natur
sind, entweder unter dem Gesichtspunkt des Stoffes oder unter dem
Gesichtspunkt der Form, mit der der Stoff stets verbunden ist.
Nur
im Anschluß an die Naturwissenschaft kommt Aristoteles auf sein ich würde sagen
spezielles und Lieblingsprojekt zu sprechen und behauptet einfach, dass „es
eine Wissenschaft vom Seienden als seienden und abgetrennten gibt“. (1064a
29)
Womit
er die formelle und sozusagen offizielle Gründung der Ontologie am Anfang von
Buch IV wieder aufgreift – nur der Zusatz „und abgetrennten“ ist hier neu;
abgetrennte das heißt extra existierende Gegenstände hat er bisher nur der
Naturwissenschaft zugesprochen. Dementsprechend folgt auch gleich die Frage, ob
diese jetzt behauptete Wissenschaft mit der Naturwissenschaft identisch sei. Diese
Frage war bei der Ontologiegründung vollkommen abwesend. Wir stellen fest,
dass Aristoteles nun weit voneinander entfernt liegende Fäden seiner
Untersuchung zusammenfügt.
Deswegen
kommt er auch noch einmal auf die Mathematik zu sprechen, die eine betrachtende
Wissenschaft sei und sich mit bleibenden aber nicht abgetrennten Sachen
beschäftige. Und damit entspricht sie nicht seiner Suche nach einer weiteren,
gewissermaßen dritten betrachtenden Wissenschaft, die „vom abgetrennten und
unbewegten Seienden handelt .... sofern es ein solches Wesen gibt, ich meine ein
abgetrenntes und unbewegtes Wesen, was zu zeigen wir noch versuchen werden.“
(1064a 35)
Diese
zusätzliche Wissenschaft wird nun durch einen Gegenstand definiert, dessen
Existenz gleich noch einmal in Frage gestellt wird: „Und wofern es in den
Seienden eine derartige Natur gibt ...“; woran gleich die Vermutung angeschlossen
wird: „... dürfte es da wohl auch das Göttliche geben und dann dürfte sie wohl
das erste und herrschendste (herrlichste) Prinzip sein.“ (1064a 36f.)
Hier
ist die Rede von einem anderen Prinzip, das mit einem ganz anderen Superlativ
bekleidet wird als das "Sicherste Prinzip".
„Es
ist also klar, dass es drei Gattungen von betrachtenden Wissenschaften gibt:
die Naturwissenschaft, die Mathematik und die Theologie. Demnach ist die Gattung
der betrachtenden Wissenschaften die beste, von diesen aber ist die zuletzt
genannte die beste; sie befasst sich nämlich mit dem Ehrwürdigsten.“ (1064b
1ff.)
(Auffällt,
dass auch für die theoretischen Wissenschaften Adjekive und Superlative wie
„best“ und „ehrwürdigst“ eingeführt werden, womit die „Theorie“ wohl von
strikter Neutralität abgerückt wird. Und die Ehrwürdigkeit darf uns an die
„Würde“ erinnern, die vor einigen Monaten hier für den einen der beiden Aspekte
des Wesensbegriffes namhaft gemacht worden ist.)
Damit
ist die schon mehrmals, etwa in 1060a 23ff., aufgetauchte und beunruhigende
Frage nach einem „Ewigen, Abgetrenntem und Bleibenden“ fest beantwortet.
Das
scheint eine klare Aussage zu sein – wiewohl die in Aussicht gestellte Theologie
zwar mit allerhöchsten Qualifizierungen ausgestattet, aber in ihrer
Existenzbasis nur hypothetisch vorgestellt worden ist.
Die
hier aufgestellte Wissenschafts-Trinität mag eindrucksvoll klingen, sie nennt
im Grunde lauter bekannte Wissens-Richtungen. Doch die eigentlich
aristotelische Erfindung, die Wissenschaft vom Seienden als seienden, die im
Buch IV gegründet worden ist und von Buch VII bis Buch X langwierig
entfaltet worden ist, scheint nun plötzlich auszufallen.
Ist
sie irgendwo zwischen Physik, Mathematik, Theologie verschwunden oder in einer
dieser Disziplinen aufgegangen?
Der
Text selber merkt, dass da die eigentlich anstehende Frage unter den Tisch
gefallen ist, und er schiebt sie jemandem zu, der „unschlüssig sein könnte, ob
man die Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, als allgemeine
anzusetzen habe oder nicht.“ (1064b 6). Innerhalb der Mathematik sei zwischen
angewandten Einzeldisziplinen und einer allgemeinen zu unterscheiden, die sich
mit dem beschäftigt, was allen gemeinsam ist. Aber den mathematischen Entitäten
fehlt es an Abgetrenntheit, also an „Extra-Existenz“. Demgegenüber könnte die
Physik die erste der Wissenschaften sein, wenn die natürlichen oder physischen
Wesen die ersten unter den Seienden wären. Diese Hochschätzung der Physik darf
uns durchaus erstaunen, denn sie kommt wenige Zeilen nach der offiziellen
Ernennung der Theologie.
Obwohl
diese Passage direkt (ohne explizite Erwähnung) auf das Buch VI zurückgreift,
können wir feststellen, dass der Text reflektierender, sensibler, flexibler
denn je agiert.
Ja
er agiert, er denkt hin und her, er macht weiter, obwohl alles schon x-mal
gesagt worden ist, er setzt neu an, er geht jetzt von der „Erstheit“ der
physischen Dinge wie auch von derjenigen der physikalischen Wissenschaft aus,
setzt aber in einem Konditionalsatz von diesen Dingen wie auch von dieser
Wissenschaft etwas ab und eben dieses zu ihr dazu.
Distinktiv
und additiv:
„Falls
es aber noch eine davon verschiedene Natur gibt und ein abgetrenntes und
unbewegtes Wesen, muß die Wissenschaft eine von der Naturwissenschaft
verschiedene sein und eher als die Naturwissenschaft, und weil sie eher ist,
auch allgemein.“ (1064b 12f.)
Die
Theologie-Setzung wird quasi anonym, ohne Gott-Nennung, also a-theologisch,
rein physiologisch, aber „epi-physiologisch“, wiederholt, all das nur in
einem Konditionalsatz.
Es
wird eine andere, eine sozusagen zweite Natur gesetzt – und damit die Natur aus
ihrem Singular herausgerissen, tendenziell wird ein Plural der Naturen
eingeführt. Epiphysis, Polyphysismus?
Und
diese Natur soll noch eher sein als die oben genannten und erstmals so
genannten „ersten natürlichen Wesen“. Wie ich vor vielen Monaten aus dem
aristotelischen Text schon herausgelesen habe, ist „erst“ ein Superlativ von
„ehe“ und „eher“ (man kann mit diesem Aristoteles auch Deutsch lernen). Also
ist diese verschiedene und zusätzliche Natur noch eher als die ehesten
natürlichen Dinge, und die entsprechende Wissenschaft noch eher als die erste
Wissenschaft Physik.
„Ultraeher“
würde Dumézil sagen, der Spezialist für die ehemaligen Dinge, der Foucault auch
die banale Feststellung eingegeben hat, Sokrates sei kein Buddhist gewesen.
Und
diese jetzt gerade „gesetzte“ Wissenschft (soll man sie „Ultraphysik“ nennen?)
soll angeblich das Kunststück fertig bringen, einerseits sachlich identisch mit
der sogenannten Theologie zu sein, andererseits aber auch „allgemein“.
Nämlich
so allgemein, wie die Ontologie und nur die Ontologie, konzipiert und in vielen
Büchern der Metaphysik bereits ausgeführt worden ist. Also die Wissenschaft vom
Seienden als seienden – wie ihr oftmals wiederholter Sachtitel lautet. Einen
Namen, eine namentliche Disziplinbezeichnung, hat ihr Aristoteles nie gegeben.
Jetzt
hat er sie immerhin erstmals aus seinem Wissenschaftssystem abgeleitet,
jedenfalls sie in dieses eingeordnet.
Stimmt
es, dass diese allererste Wissenschaft „allgemein“ sein kann oder gar
muß? Es stimmt insofern, als ihr Gegenstand die allererste Natur ist: ein
Wesen, das in irgendeinem Zusammenhang, aber auch in irgendeinem Abstand mit
allem und von allem gesetzt ist.
Doch
erinnern wir uns daran, womit sich die Ontologie beschäftigt hat: nicht mit
irgendwelchen existierenden Wesen, sondern mit vielen unterschiedlichen und
unterschiedlich unterschiedlichen Seinsmodalitäten, von denen keine als solche
extra existiert, wenngleich die Abgetrenntheit, also die Extra-Existenz als
eine Seinsmodalität ebenfalls thematisiert wird.
Sollte
der Text im letzten Satz von Abschnitt 7 die Ontologie mit der Theologie
identifiziert haben, dann hat er ein schwerwiegendes Missverständnis in sich
selber eingeführt, das nicht folgenlos bleiben sollte.
Walter
Seitter
[1] Siehe
Reiner Schürmann: Le principe d’anarchie. Heidegger et la question
d’agir (Paris 1982): 32. Auch ein deutschsprachiges Werk könnte hier
genannt werden – Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen.
Philosophische Studien (Stuttgart 1986).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen