τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 15. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1064a 35 – 1064b 14)


Es empfiehlt sich zu sehen, dass die aristotelische Ontologie aus mehreren Stücken besteht. Wenn man das nicht sieht, besteht die Gefahr, daß man die Masse an Behauptungen für abstrus und chaotisch hält; oder aber dass man ein Stück, etwa die Achse der Kategorien, für das einzige maßgebliche hält und dann auch noch den Begriff des Wesens für den einzigen Hauptbegriff. 

Neben den Ontologie-Achsen nimmt das Ontologie-Axiom eine Sonderstellung ein. Von Aristoteles wird es „Sicherstes Prinzip“ genannt – aber worin besteht seine Prinzipialität? Vor kurzem habe ich die „durchgängige Bestimmung“ als Kriterium dafür genannt. Jetzt sehe ich in dem Buch des neulich erwähnten Reiner Schürmann, dass er ebenfalls dieses Kriterium namhaft macht – und von Kant übernimmt.[1]

Die damit verbundene Abschwächung des Begriffs „Prinzip“ liegt auf der Linie von Schürmanns Buchtitel, der sich ja mit „Prinzip der Prinzipienlosigkeit“ übersetzen lässt.  Und  Aristoteles selber scheint den Begriff von einer etwaigen „archaischen“ oder fundamentalen oder gar fundamentalistischen Aura wegzurücken, indem er ihn einer ähnlichen „Vervielfältigung“ unterzieht, wie sie bekanntermaßen dem „seiend“ angetan wird. 

Wir haben festgestellt, dass Aristoteles in der Verteidigung dieses Sichersten Prinzips gegen bestimmte Aussagen, die ihm angeblich widersprechen, ontologische Positionen bekräftigt, die man schon kennt. Und damit bewährt sich das Prinzip als ein solches – auf das man sozusagen im Not- oder im Verteidigungsfall zurückgreifen kann. 

Aber seine rein semantische Bedeutung reduziert sich vielleicht auf:

Wenn etwas ist, so ist es, wie es ist. Und wenn etwas sich weigert, so zu sein, wie es ist – dann weigert es sich eben. Und dann ist es eben anders – irgendwie anders. Also so, wie es ist. 

Ich habe dieses Axiom auch als „Prinzip etwas“ bezeichnet. Ein anderer Name: „Prinzip irgendwie“. 


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Brüsker Themenwechsel. Zurück zu den wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Abschnitt 4 bzw. zu den weiter ausholenden von Buch VI – und zwar unter dem Gesichtspunkt verschiedener Prinzipien für verschiedene Wissenschaften. 

1063b 36: Heilkunde und Gymnastik und die übrigen poietischen und mathematischen Wissenschaften. Die „mathematischen“ sind hier wohl irrtümlich dazwischengekommen, denn die gehören gewiss zu den theoretischen. Aber die Heilkunde und die Gymnastiklehre liefern als poietische Wissenschaften eine dankenswerte Erweiterung des Horizonts – etwa auch in dem Sinn, dass damit die Frage aufgeworfen werden kann, wieso die Philosophie bzw. Erste Philosophie mit diesen Wissenschaften nichts zu tun haben soll.

Auch diese Wissenschaften umschreiben jeweils eine bestimmte Gattung und behandeln sie als ein Bestehendes und Seiendes – doch nicht als „Seiendes als seiendes“. (1064a 3)

Was wird die Gattung dieser beiden Wissenschaften sein? Zum einen wohl die Gesundheit oder aber die Wiederherstellung der Gesundheit. Zum anderen ein Teilaspekt davon nämlich die athletische Tüchtigkeit bzw. deren Gewinnung oder Förderung. Oder wäre der Bereich der Gymnastiklehre noch etwas weiter abzurücken und mehr im Bereich des Ästhetischen, also der Körperschönheit zu sehen? Diese ästhetische Nuance ist allerdings im griechischen Denken von der erstgenannten nicht zu trennen. (Und im modernen vielleicht auch nicht – man denke an die Fitness.)

Gesundheits- und Schönheitsgewinnung sind die beiden seienden, also wirklichen Bereiche der beiden wissenschaftlichen Disziplinen. Sie sind wichtige menschliche Möglichkeiten oder Anlagen und als solche Aufgaben oder Ziele, die individuell und kollektiv kultiviert werden. Ist es diese Zielrichtung, die ihre explizite Betrachtung „als seiend“ ausschließt, die sie aus der Ersten Philosophie ausschließt und sie in eine andere Wissenschaftsgattung  einordnet? Gehört das Gute, das „worumwillen“ nicht zum Seienden, das als seiendes betrachtet werden kann?

In der Ursachenlehre nimmt es immerhin die Position der vierten Ursache ein? Und die Ursachen – bilden sie nicht eine starke Seinsmodalität? Sind sie nicht „zuständig“ für Verwirklichung, für Entstehung? Hat die Zielursache keinen ordentlichen Platz innerhalb der Seinsmodalitäten?

Aristoteles stellt zwar die Frage nach den Ursachen – aber auf andere Weise.

„Bei einer Bewirkungswissenschaft, also bei einer poietischen Wissenschaft,  befindet sich das Prinzip der Bewegung im Bewirkenden und nicht im Bewirkten, und dies ist eine Kunst oder ein anderes Vermögen.“ (1064a 13) Die Ursächlichkeit liegt da bei Menschen, die mit bestimmten Fähigkeiten bestimmte Resultate herbeiführen, etwa Kunstwerke oder Gesundheit oder Körperschönheit. 

Analog verhält es sich in den praktischen Disziplinen Ethik, Politik, Ökonomik. „Bei der Handlungswissenschaft befindet sich das Prinzip der Bewegung nicht im Gehandelten sondern in den Handelnden.“ (1064a 14) Die Handelnden sind mehr oder weniger tugendhafte Menschen, die ihr Zusammenleben mehr oder weniger gut führen. 

„Hingegen bezieht sich die Wissenschaft des Physikers auf die Dinge, die das Prinzip der Bewegung in sich selber haben – und folglich muß die Naturwissenschaft weder eine handelnde noch eine bewirkende sondern eine betrachtende Wissenschaft sein.“ (1064a 15f.)

Betrachtend wird sie von Aristoteles genannt, weil sie sich auf Gegenstände bezieht, die von sich aus und ohne menschliches Zutun so sind, wie sie sind. Während die anderen Wissenschaften menschliches Verhalten empfehlen und beurteilen – das von den Menschen neben den Wissenschaften durchgeführt wird. 

Die Naturwissenschaft betrachtet ihre Gegenstände, die allesamt stofflicher Natur sind, entweder unter dem Gesichtspunkt des Stoffes oder unter dem Gesichtspunkt der Form, mit der der Stoff stets verbunden ist.

Nur im Anschluß an die Naturwissenschaft kommt Aristoteles auf sein ich würde sagen spezielles und Lieblingsprojekt zu sprechen und behauptet einfach, dass „es eine Wissenschaft vom Seienden als seienden und abgetrennten gibt“. (1064a 29)

Womit er die formelle und sozusagen offizielle Gründung der Ontologie am Anfang von Buch IV wieder aufgreift – nur der Zusatz „und abgetrennten“ ist hier neu; abgetrennte das heißt extra existierende Gegenstände hat er bisher nur der Naturwissenschaft zugesprochen. Dementsprechend folgt auch gleich die Frage, ob diese jetzt behauptete Wissenschaft mit der Naturwissenschaft identisch sei. Diese Frage war bei der Ontologiegründung vollkommen abwesend. Wir stellen fest, dass Aristoteles nun weit voneinander entfernt liegende Fäden seiner Untersuchung zusammenfügt.

Deswegen kommt er auch noch einmal auf die Mathematik zu sprechen, die eine betrachtende Wissenschaft sei und sich mit bleibenden aber nicht abgetrennten Sachen beschäftige. Und damit entspricht sie nicht seiner Suche nach einer weiteren, gewissermaßen dritten betrachtenden Wissenschaft, die „vom abgetrennten und unbewegten Seienden handelt .... sofern es ein solches Wesen gibt, ich meine ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen, was zu zeigen wir noch versuchen werden.“ (1064a 35)

Diese zusätzliche Wissenschaft wird nun durch einen Gegenstand definiert, dessen Existenz gleich noch einmal in Frage gestellt wird: „Und wofern es in den Seienden eine derartige Natur gibt ...“; woran gleich die Vermutung angeschlossen wird: „... dürfte es da wohl auch das Göttliche geben und dann dürfte sie wohl das erste und herrschendste (herrlichste) Prinzip sein.“ (1064a 36f.) 

Hier ist die Rede von einem anderen Prinzip, das mit einem ganz anderen Superlativ bekleidet wird als das "Sicherste Prinzip". 

„Es ist also klar, dass es drei Gattungen von betrachtenden Wissenschaften gibt: die Naturwissenschaft, die Mathematik und die Theologie. Demnach ist die Gattung der betrachtenden Wissenschaften die beste, von diesen aber ist die zuletzt genannte die beste; sie befasst sich nämlich mit dem Ehrwürdigsten.“ (1064b 1ff.)

(Auffällt, dass auch für die theoretischen Wissenschaften Adjekive und Superlative wie „best“ und „ehrwürdigst“ eingeführt werden, womit die „Theorie“ wohl von strikter Neutralität abgerückt wird. Und die Ehrwürdigkeit darf uns an die „Würde“ erinnern, die vor einigen Monaten hier für den einen der beiden Aspekte des Wesensbegriffes namhaft gemacht worden ist.)

Damit ist die schon mehrmals, etwa in 1060a 23ff., aufgetauchte und beunruhigende Frage nach einem „Ewigen, Abgetrenntem und Bleibenden“ fest beantwortet.

Das scheint eine klare Aussage zu sein – wiewohl die in Aussicht gestellte Theologie zwar mit allerhöchsten Qualifizierungen ausgestattet, aber in ihrer Existenzbasis nur hypothetisch vorgestellt worden ist.

Die hier aufgestellte Wissenschafts-Trinität mag eindrucksvoll klingen, sie nennt im Grunde lauter bekannte Wissens-Richtungen. Doch die eigentlich aristotelische Erfindung, die Wissenschaft vom Seienden als seienden, die im Buch IV gegründet worden ist und von Buch VII bis Buch X langwierig entfaltet worden ist, scheint nun plötzlich auszufallen. 
Ist sie irgendwo zwischen Physik, Mathematik, Theologie verschwunden oder in einer dieser Disziplinen aufgegangen?

Der Text selber merkt, dass da die eigentlich anstehende Frage unter den Tisch gefallen ist, und er schiebt sie jemandem zu, der „unschlüssig sein könnte, ob man die Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, als allgemeine anzusetzen habe oder nicht.“ (1064b 6). Innerhalb der Mathematik sei zwischen angewandten Einzeldisziplinen und einer allgemeinen zu unterscheiden, die sich mit dem beschäftigt, was allen gemeinsam ist. Aber den mathematischen Entitäten fehlt es an Abgetrenntheit, also an „Extra-Existenz“. Demgegenüber könnte die Physik die erste der Wissenschaften sein, wenn die natürlichen oder physischen Wesen die ersten unter den Seienden wären. Diese Hochschätzung der Physik darf uns durchaus erstaunen, denn sie kommt wenige Zeilen nach der offiziellen Ernennung der Theologie.

Obwohl diese Passage direkt (ohne explizite Erwähnung) auf das Buch VI zurückgreift, können wir feststellen, dass der Text reflektierender, sensibler, flexibler denn je agiert.

Ja er agiert, er denkt hin und her, er macht weiter, obwohl alles schon x-mal gesagt worden ist, er setzt neu an, er geht jetzt von der „Erstheit“ der physischen Dinge wie auch von derjenigen der physikalischen Wissenschaft aus, setzt aber in einem Konditionalsatz von diesen Dingen wie auch von dieser Wissenschaft etwas ab und eben dieses zu ihr dazu.

Distinktiv und additiv:

„Falls es aber noch eine davon verschiedene Natur gibt und ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen, muß die Wissenschaft eine von der Naturwissenschaft verschiedene sein und eher als die Naturwissenschaft, und weil sie eher ist, auch allgemein.“ (1064b 12f.)

Die Theologie-Setzung wird quasi anonym, ohne Gott-Nennung, also a-theologisch, rein physiologisch, aber „epi-physiologisch“, wiederholt, all das nur in einem Konditionalsatz. 

Es wird eine andere, eine sozusagen zweite Natur gesetzt – und damit die Natur aus ihrem Singular herausgerissen, tendenziell wird ein Plural der Naturen eingeführt. Epiphysis, Polyphysismus?

Und diese Natur soll noch eher sein als die oben genannten und erstmals so genannten „ersten natürlichen Wesen“. Wie ich vor vielen Monaten aus dem aristotelischen Text schon herausgelesen habe, ist „erst“ ein Superlativ von „ehe“ und „eher“ (man kann mit diesem Aristoteles auch Deutsch lernen). Also ist diese verschiedene und zusätzliche Natur noch eher als die ehesten natürlichen Dinge, und die entsprechende Wissenschaft noch eher als die erste Wissenschaft Physik. 

„Ultraeher“ würde Dumézil sagen, der Spezialist für die ehemaligen Dinge, der Foucault auch die banale Feststellung eingegeben hat, Sokrates sei kein Buddhist gewesen.

Und diese jetzt gerade „gesetzte“ Wissenschft (soll man sie „Ultraphysik“ nennen?) soll angeblich das Kunststück fertig bringen, einerseits sachlich identisch mit der sogenannten Theologie zu sein, andererseits aber auch „allgemein“.

Nämlich so allgemein, wie die Ontologie und nur die Ontologie, konzipiert und in vielen Büchern der Metaphysik bereits ausgeführt worden ist. Also die Wissenschaft vom Seienden als seienden – wie ihr oftmals wiederholter Sachtitel lautet. Einen Namen, eine namentliche Disziplinbezeichnung, hat ihr Aristoteles nie gegeben. 

Jetzt hat er sie immerhin erstmals aus seinem Wissenschaftssystem abgeleitet, jedenfalls sie in dieses eingeordnet. 


Stimmt es, dass diese allererste Wissenschaft „allgemein“ sein kann oder gar muß? Es stimmt insofern, als ihr Gegenstand die allererste Natur ist: ein Wesen, das in irgendeinem Zusammenhang, aber auch in irgendeinem Abstand mit allem und von allem gesetzt ist. 

Doch erinnern wir uns daran, womit sich die Ontologie beschäftigt hat: nicht mit irgendwelchen existierenden Wesen, sondern mit vielen unterschiedlichen und unterschiedlich unterschiedlichen Seinsmodalitäten, von denen keine als solche extra existiert, wenngleich die Abgetrenntheit, also die Extra-Existenz als eine Seinsmodalität ebenfalls thematisiert wird.

Sollte der Text im letzten Satz von Abschnitt 7 die Ontologie mit der Theologie identifiziert haben, dann hat er ein schwerwiegendes Missverständnis in sich selber eingeführt, das nicht folgenlos bleiben sollte.


Walter Seitter


[1] Siehe Reiner Schürmann: Le principe d’anarchie. Heidegger et la question d’agir (Paris 1982): 32. Auch ein deutschsprachiges Werk könnte hier genannt werden – Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien (Stuttgart 1986).

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