Nachdem
ich im Frühling 2020 die Ankunft des berühmt gewordenen Virus mit dem schönen
Namen nicht zum Vorwand genommen habe, das Lesen in der Metaphysik zu
unterbrechen, möchte ich dieses sozusagen zum Ausgleich dafür noch
ein bisschen in die Sommerferien hinein verlängern.
Man
könnte meinen, das Weiterlesen bringt im Moment wenig, weil das Buch XI
nur alte Aussagen wiederhole. Doch Wiederholungen produzieren Neues, wie man an
folgender Schematisierung sehen kann. Wenn A nur wiederholt wird, entsteht im
Ganzen AA oder A A oder A ..... A – es entstehen also insgesamt
ganz andere Figuren als A. Jedenfalls für solche, die Augen haben zum Sehen.
Und
damit komme ich auch schon zum nächsten Abschnitt. Die Meinung, es könne ein
und dieselbe Aussage gleichzeiig wahr und falsch sein, entspringt auch einem
überzogenen „Subjektivismus“ in Sachen Wahrnehmung, wie er angeblich von
Protagoras vertreten worden ist – mit seinem Satz, der Mensch sei das Maß aller
Dinge.
Bereits
im Buch X war Protagoras mit diesem Satz zitiert worden. Dort wurde er
dahingehend präzisiert, dass damit der wissende und wahrnehmende Mensch gemeint
sei – und so sei der Satz durchaus zutreffend. (1053a 36ff.)
In
so einem Sinn ist Protagoras von Thomas Buchheim als Avantgardist „normalen
Lebens“ oder gemäßigter Anthropozentrik gewürdigt und als einer der großen
Anreger für Aristoteles eingestuft worden.[1]
Doch
es finden sich bei Protagoras auch radikale Zuspitzungen der Wahrnehmungslehre,
die besagen, dass unterschiedliche körperliche Verfassungen der Wahrnehmenden
zu unterschiedlichen Ansichten des Wahrgenommenen führen, ja dass über gut und
schlecht, schön und hässlich sehr häufig unterschiedliche Ansichten zustande
kommen – und dass diese allesamt wahr seien, weil ja die Wahrnehmungen der
Einzelnen die einzigen Maßstäbe seien.
Dazu
sagt Aristoteles, dass gewisse Veränderungen aufseiten der Wahrhehmenden als
krankhaft einzuschätzen seien.
Aristoteles
versucht außerdem, diese Relativität der Wahrnehmungen und Beurteilungen
dadurch zu entschärfen, dass er auf solche Gegenstände hinweist, die eher
unveränderlicher Art seien.
Meines
Erachtens könnte er nicht nur auf stabile Strukturen in den Veränderungen
verweisen, sondern auch der Wahrnehmung der Wechselfälle durch sprachliche
Präzisierung und Einbeziehung in Diskussion eine andere epistemologische Rolle
zuweisen. Er vertritt ja die Ansicht, dass wir im Erkenntnisstreben von dem
ausgehen dürfen, was wir leichter erkennen können – und das ist ja vor allem
das, was wir jetzt beobachten, und dann das, was wir später wahrnehmen.
Die
Vergleichung unterschiedlicher „subjektiver“ Wahrnehmungen – sowohl intra- wie
intersubjektiv – macht es möglich, die in jeder Wahrnehmung erreichte partielle
„Objektivtät“ zu einem größeren Ganzen auszubauen.
Das
vollzieht sich zumeist übers Sprechen und daher geht Aristoteles auch darauf
ein, welche begrifflichen Konsequenzen das Sicherste Prinzip mit sich
bringt.
In
bezug auf einen Menschen sagt er, er könne nicht gleichzeitig weiß und schwarz
sein - was nur im Hinblick auf eine einzige Körperstelle einigermaßen
plausibel klingt, tatsächlich aber wohl für den Gesamteindruck einer
sogenannten Hautfarbe gelten soll. Und gegen den Naturphilosophen Anaxagoras
besteht er darauf, dass etwas im Mund entweder bitter oder süß schmecke (sofern
der Geschmackssinn nicht gestört ist) – und nicht nach beidem.
Gegen
diese Festlegungen ließe sich einwenden, dass es sich jedenfalls um
akzidenzielle Eigenschaften handelt und die können nach Aristoteles immerzu
gemindert oder gesteigert auftreten. Wenn bitter und süß etwa wie weiß und
schwarz konträre Eigenschaften wären, dann würde sich in der Mitte tatsächlich
eine Art Mischung ergeben können – und kein Einwand wäre möglich.
An
diejenigen, die das Ontologe-Axiom philosophisch bestreiten, richtet
Aristoteles die Frage, wie sie sich verhalten, wenn ihnen der vertraute Arzt verordnet,
Brot zu essen. Halten sie dann daran fest, dass dieses Brot ein Brot ist und
essen sie es auch wirklich? Wenn sie es gut mit sich meinen, dann tun sie das.
Und damit verraten sie ihre Lieblingstheorie, derzufolge „es in den sinnlich
wahrnehmbaren Dingen keine fest bleibende Natur gibt – da doch immer alles in
Bewegung und Fluß ist.“ (1063a 33)
Hier
spricht Aristoteles vom Brot – das entgegen allen heute modischen Schwärmereien
von Natur und „Bio“ ein Artefakt ist und daher kann mit „Natur“ da nur das
kategoriale Wesen gemeint sein (ähnlich wie bei der Natur der Tragödie in der
Poetik).
Das
Ontologie-Axiom, das mit den Kategorien direkt nichts zu tun hat – hier macht
es so etwas wie „Wesen“ denknotwendig (und würde das natürlich auch für
ein formelleres Medikament tun).
(Daß
das Brot ein „Wesen“ ist und hat, ist ein paar Jahrhunderte nach der Abfassung
dieses Textes in der christlichen Theologie zu einem wichtigen Gemeinplatz
geworden, aus dem dann auch der Begriff „Transsubstantiation“ erwachsen ist.
Abgesehen von diesem religiösen Sonderschicksal des Brotes ist dem jeweils
konkret vorliegenden Brot in der Regel nur eine kurze Existenzdauer beschieden,
da es gegessen zu werden hat und dann eine banale Transsubstantiation erleidet.
Darüber ist hier schon am 29. April 2015 gesprochen worden.)[2]
Im
Abschnitt 6 von Buch XI wird aus dem Ontologie-Axiom auch noch eine andere
Schlussfolgerung gezogen, in der ebenfalls die Kategorienlehre indirekt
„bewiesen“ wird.
Wenn
die Bejahung ebenso wahr wäre wie die entsprechende Verneinung, dann würde
die Rede von „Nicht-Mensch“ ebenso gültig sein wie die Rede von „Mensch“. Wer
aber nun behauptet, ein Mensch sei ein Nicht-Pferd, der würde eine mindestens
so wahre Behauptung aufstellen wie diejenige, der Mensch sei ein Nicht-Mensch.
Nach der Logik der Axiom-Leugnung könnte man ebenso gut sagen, der Mensch sei
ein Pferd. Und damit würde sich diese Leugnung nicht gerade ein gutes Zeugnis
ausstellen.
Es
trifft sich, dass es in der gegenwärtigen Diskussion, die gleichzeitig eine
philosophische und eine politische ist, Argumentationen vorgebracht werden, die
auf eine ähnliche Leugnung hinauslaufen.
Der
amerikanische Philosoph Frank B. Wilderson III hat in der Frankfurter
Allgemeinen vom 6. Juli 2020 vorgetragen, wie er es fertigbringt, seine eigene
Person aus der Menschheit auszuschließen.[3]
Er
behauptet, Begriffe verdanken ihre Bedeutung immer nur zwei anderen
Zuschreibungen (tatsächlich wird jeder Begriff mithilfe zweier anderer
Wörter definiert). Der Begriff „menschlich“ verdanke seine Bedeutung der
Identifizierung mit sich „selber“ und der Unterscheidung von „anderen“. Diese
Tatsache werde gewöhnlich unterschlagen und durch die Fiktion einer
„organischen Beziehung“ zum Gegenstand verdrängt. „Menschlich“ bekomme seine
Bedeutung durch die Absetzung von „Schwarzheit“. Und diese Schwarzheit erläutert
Wilderson durch die Versklavung schwarzer Afrikaner durch Weiße, die ihre
Menschlichkeit (Menschheit) aus der „Anti-Schwarzheit“ beziehen.
Diese
unterscheide sich grundlegend von allen anderen diskriminatorischen
Einstellungen, Verfolgungen und so weiter, weil den Schwarzen jede Möglichkeit
zu einer Revanche oder Wiedergutmachung genommen sei. „Schwarzes Leben kann
keine menschliche Position besetzen, weil es die Subjektposition, die dazu
erforderlich wäre, gar nicht einnehmen kann.“ Die anti-schwarze Gewalt und
Angst habe keine logische und politische Struktur – sie richte sich gegen das
schwarze Fleisch und sei diesem unauslöschlich eingeprägt.
Damit
sei für die Schwarzen der Traum vom Menschsein unterbrochen.
Wilderson
kann die Widersprüche, nämlich Selbstwidersprüche, in die sich seine Rede
verstrickt, nicht ganz wegschieben. „Gleichzeitig schreibe ich von einem
Begehren aus, von meinem Wunsch, erkannt und in die Gemeinschaft aller Menschen
aufgenommen zu werden.“
Dennoch
bzw. angeblich will er ausdrücklich den Dialog, den er in den Minuten seines
Gesprächs mit Verena Lueken, der FAZ-Korrespondentin, führt, nicht führen. Er
zieht es vor, in seinem „Afropessimismus“ sitzen zu bleiben. Macht
aber daraus eine philosophische, literarische, kinematographische, akademische
Karriere.
Die
beiden Begriffslinien, mit denen Aristoteles im Buch XI das Menschsein
analytisch durchzogen hat (die akzidenzielle und die essenzielle), um
seinerzeitige „interessante“ Theorien vorzuführen, sie werden von dem
amerikanischen Professor mit viel Eloquenz miteinander verflochten, mit
großem Pathos und nicht ohne Selbstmitleid ausgestellt.
Walter Seitter
[1] Siehe Walter Seitter:
op. cit.: 116.
[2] Siehe Walter
Seitter: op. cit.: 163ff.
[3] Die Antithese zum Menschen. Wie man ohne Hoffnung Kritik denkt. Ein
Gespräch mit Frank Widerson III, in: FAZ, 6. Juli 2020.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen