τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 8. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1062b 11 – 1063b 34)


Nachdem ich im Frühling 2020 die Ankunft des berühmt gewordenen Virus mit dem schönen Namen nicht zum Vorwand genommen habe, das Lesen in der Metaphysik zu unterbrechen,  möchte ich dieses sozusagen zum Ausgleich dafür noch ein bisschen in die Sommerferien hinein verlängern. 


Man könnte meinen, das Weiterlesen bringt im Moment wenig, weil das Buch XI nur alte Aussagen wiederhole. Doch Wiederholungen produzieren Neues, wie man an folgender Schematisierung sehen kann. Wenn A nur wiederholt wird, entsteht im Ganzen AA oder A  A oder A ..... A – es entstehen also insgesamt ganz andere Figuren als A. Jedenfalls für solche, die Augen haben zum Sehen.

Und damit komme ich auch schon zum nächsten Abschnitt. Die Meinung, es könne ein und dieselbe Aussage gleichzeiig wahr und falsch sein, entspringt auch einem überzogenen „Subjektivismus“ in Sachen Wahrnehmung, wie er angeblich von Protagoras vertreten worden ist – mit seinem Satz, der Mensch sei das Maß aller Dinge. 

Bereits im Buch X war Protagoras mit diesem Satz zitiert worden. Dort wurde er dahingehend präzisiert, dass damit der wissende und wahrnehmende Mensch gemeint sei – und so sei der Satz durchaus zutreffend. (1053a 36ff.)

In so einem Sinn ist Protagoras von Thomas Buchheim als Avantgardist „normalen Lebens“ oder gemäßigter Anthropozentrik gewürdigt und als einer der großen Anreger für Aristoteles eingestuft worden.[1]

Doch es finden sich bei Protagoras auch radikale Zuspitzungen der Wahrnehmungslehre, die besagen, dass unterschiedliche körperliche Verfassungen der Wahrnehmenden zu unterschiedlichen Ansichten des Wahrgenommenen führen, ja dass über gut und schlecht, schön und hässlich sehr häufig unterschiedliche Ansichten zustande kommen – und dass diese allesamt wahr seien, weil ja die Wahrnehmungen der Einzelnen die einzigen Maßstäbe seien. 

Dazu sagt Aristoteles, dass gewisse Veränderungen aufseiten der Wahrhehmenden als krankhaft einzuschätzen seien.

Aristoteles versucht außerdem, diese Relativität der Wahrnehmungen und Beurteilungen dadurch zu entschärfen, dass er auf solche Gegenstände hinweist, die eher unveränderlicher Art seien. 

Meines Erachtens könnte er nicht nur auf stabile Strukturen in den Veränderungen verweisen, sondern auch der Wahrnehmung der Wechselfälle durch sprachliche Präzisierung und Einbeziehung in Diskussion eine andere epistemologische Rolle zuweisen. Er vertritt ja die Ansicht, dass wir im Erkenntnisstreben von dem ausgehen dürfen, was wir leichter erkennen können – und das ist ja vor allem das, was wir jetzt beobachten, und dann das, was wir später wahrnehmen.

Die Vergleichung unterschiedlicher „subjektiver“ Wahrnehmungen – sowohl intra- wie intersubjektiv – macht es möglich, die in jeder Wahrnehmung erreichte partielle „Objektivtät“ zu einem größeren Ganzen auszubauen.

Das vollzieht sich zumeist übers Sprechen und daher geht Aristoteles auch darauf ein, welche begrifflichen Konsequenzen das Sicherste Prinzip mit sich bringt. 

In bezug auf einen Menschen sagt er, er könne nicht gleichzeitig weiß und schwarz sein - was nur im Hinblick auf eine einzige Körperstelle einigermaßen plausibel klingt, tatsächlich aber wohl für den Gesamteindruck einer sogenannten Hautfarbe gelten soll. Und gegen den Naturphilosophen Anaxagoras besteht er darauf, dass etwas im Mund entweder bitter oder süß schmecke (sofern der Geschmackssinn nicht gestört ist) – und nicht nach beidem.

Gegen diese Festlegungen ließe sich einwenden, dass es sich jedenfalls um akzidenzielle Eigenschaften handelt und die können nach Aristoteles immerzu gemindert oder gesteigert auftreten. Wenn bitter und süß etwa wie weiß und schwarz konträre Eigenschaften wären, dann würde sich in der Mitte tatsächlich eine Art Mischung ergeben können – und kein Einwand wäre möglich.

An diejenigen, die das Ontologe-Axiom philosophisch bestreiten, richtet Aristoteles die Frage, wie sie sich verhalten, wenn ihnen der vertraute Arzt verordnet, Brot zu essen. Halten sie dann daran fest, dass dieses Brot ein Brot ist und essen sie es auch wirklich? Wenn sie es gut mit sich meinen, dann tun sie das. Und damit verraten sie ihre Lieblingstheorie, derzufolge „es in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen keine fest bleibende Natur gibt – da doch immer alles in Bewegung und Fluß ist.“ (1063a 33)

Hier spricht Aristoteles vom Brot – das entgegen allen heute modischen Schwärmereien von Natur und „Bio“ ein Artefakt ist und daher kann mit „Natur“ da nur das kategoriale Wesen gemeint sein (ähnlich wie bei der Natur der Tragödie in der Poetik). 

Das Ontologie-Axiom, das mit den Kategorien direkt nichts zu tun hat – hier macht es so etwas wie „Wesen“ denknotwendig (und würde das natürlich auch für ein formelleres Medikament tun). 

(Daß das Brot ein „Wesen“ ist und hat, ist ein paar Jahrhunderte nach der Abfassung dieses Textes in der christlichen Theologie zu einem wichtigen Gemeinplatz geworden, aus dem dann auch der Begriff „Transsubstantiation“ erwachsen ist. Abgesehen von diesem religiösen Sonderschicksal des Brotes ist dem jeweils konkret vorliegenden Brot in der Regel nur eine kurze Existenzdauer beschieden, da es gegessen zu werden hat und dann eine banale Transsubstantiation erleidet. Darüber ist hier schon am 29. April 2015 gesprochen worden.)[2]

Im Abschnitt 6 von Buch XI wird aus dem Ontologie-Axiom auch noch eine andere Schlussfolgerung gezogen, in der ebenfalls die Kategorienlehre indirekt „bewiesen“ wird. 

Wenn die Bejahung ebenso wahr wäre wie die entsprechende Verneinung, dann würde die Rede von „Nicht-Mensch“ ebenso gültig sein wie die Rede von „Mensch“. Wer aber nun behauptet, ein Mensch sei ein Nicht-Pferd, der würde eine mindestens so wahre Behauptung aufstellen wie diejenige, der Mensch sei ein Nicht-Mensch. Nach der Logik der Axiom-Leugnung könnte man ebenso gut sagen, der Mensch sei ein Pferd. Und damit würde sich diese Leugnung nicht gerade ein gutes Zeugnis ausstellen. 

Es trifft sich, dass es in der gegenwärtigen Diskussion, die gleichzeitig eine philosophische und eine politische ist, Argumentationen vorgebracht werden, die auf eine ähnliche Leugnung hinauslaufen.

Der amerikanische Philosoph Frank B. Wilderson III hat in der Frankfurter Allgemeinen vom 6. Juli 2020 vorgetragen, wie er es fertigbringt, seine eigene Person aus der Menschheit auszuschließen.[3]

Er behauptet, Begriffe verdanken ihre Bedeutung immer nur zwei anderen Zuschreibungen (tatsächlich wird jeder Begriff mithilfe zweier anderer Wörter definiert). Der Begriff „menschlich“ verdanke seine Bedeutung der Identifizierung mit sich „selber“ und der Unterscheidung von „anderen“. Diese Tatsache werde gewöhnlich unterschlagen und durch die Fiktion einer „organischen Beziehung“ zum Gegenstand verdrängt. „Menschlich“ bekomme seine Bedeutung durch die Absetzung von „Schwarzheit“. Und diese Schwarzheit erläutert Wilderson durch die Versklavung schwarzer Afrikaner durch Weiße, die ihre Menschlichkeit (Menschheit) aus der „Anti-Schwarzheit“ beziehen. 


Diese unterscheide sich grundlegend von allen anderen diskriminatorischen Einstellungen, Verfolgungen und so weiter, weil den Schwarzen jede Möglichkeit zu einer Revanche oder Wiedergutmachung genommen sei. „Schwarzes Leben kann keine menschliche Position besetzen, weil es die Subjektposition, die dazu erforderlich wäre, gar nicht einnehmen kann.“ Die anti-schwarze Gewalt und Angst habe keine logische und politische Struktur – sie richte sich gegen das schwarze Fleisch und sei diesem unauslöschlich eingeprägt. 

Damit sei für die Schwarzen der Traum vom Menschsein unterbrochen. 

Wilderson kann die Widersprüche, nämlich Selbstwidersprüche, in die sich seine Rede verstrickt, nicht ganz wegschieben. „Gleichzeitig schreibe ich von einem Begehren aus, von meinem Wunsch, erkannt und in die Gemeinschaft aller Menschen aufgenommen zu werden.“

Dennoch bzw. angeblich will er ausdrücklich den Dialog, den er in den Minuten seines Gesprächs mit Verena Lueken, der FAZ-Korrespondentin, führt, nicht führen. Er zieht es vor, in seinem „Afropessimismus“ sitzen zu  bleiben. Macht aber daraus eine philosophische, literarische, kinematographische, akademische Karriere.

Die beiden Begriffslinien, mit denen Aristoteles im Buch XI das Menschsein analytisch durchzogen hat (die akzidenzielle und die essenzielle), um seinerzeitige „interessante“ Theorien vorzuführen, sie werden von dem amerikanischen Professor mit viel Eloquenz miteinander verflochten, mit großem Pathos und nicht ohne Selbstmitleid ausgestellt.


Walter Seitter







[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 116.
[2] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 163ff. 
[3] Die Antithese zum Menschen. Wie man ohne Hoffnung Kritik denkt. Ein Gespräch mit Frank Widerson III, in: FAZ, 6. Juli 2020.

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