Die
in der Metaphysik langwierig gegründet werdende „Erste
Philosophie“ wird hier mit den beiden schon existierenden Wissenschaften
Mathematik und Physik konstelliert, indem ihr die Betrachtung dessen zugemutet
wird, was den Spezialaspekten der beiden anderen Wissenschaften gemeinsam ist –
die entweder die Quanta und die Kontinua oder die Bewegungsformen des
Seienden untersuchen. Sie soll gerade das Seiende als seiendes betrachten und
sich mit diesem zentralen Formalobjekt als „erste Wissenschaft“ qualifizieren.
(1061b 31). Mathematik und Physik werden aber damit nicht weit unter
der Philosophie rangiert – im Gegenteil werden sie ausdrücklich zu „Teilen der
Weisheit“ ernannt. (1061b 33)
Ein
typisches Beispiel dafür, wie Aristoteles seine Terminologie und
Begriffsordnung immer wieder neu arrangiert und mit geringfügigen Umstellungen
neue Nuancen artikuliert.
Sein
variatives und gleichzeitig additives Vorgehen macht das Weiterlesen
sinnvoll.
In
der Erwähnung der Mathematik hatte Aristoteles auf ein einschlägiges Axiom
angespielt, welches auch dem Euklid zugeschrieben wird. Für die Erste
Philosophie (oder Wissenschaft) rekapituliert er nun aus Buch IV das dortige
„Sicherste Prinzip“ folgendermaßen:
„Es
ist in den Seienden ein Prinzip, worüber eine Täuschung nicht möglich ist, da
man ihr immer entgegen handeln muß, also: die Wahrheit sagen; nämlich, dass
dasselbe zu ein und derselben Zeit nicht sein und nicht sein kann
...“.(1061b 34ff.)
Dabei
handelte es sich um die zweite Phase in der Gründung der Ontologie, welche auf
die erste und hier immer wieder rekapitulierte Phase folgt (in der die
Kategorien aufgestellt worden sind).
Das
Typische für diese zweite Phase ist, dass sie mit Entschiedenheit den Begriff
„Prinzip“ für sich in Anspruch nimmt; dass dieses Prinzip das Festhalten
an einer gerade gesagten Bestimmtheit (an welcher auch immer) vorschreibt; dass
es mit einem gewissen psychischen Zwang verbunden ist; dass es nicht direkt
sondern nur durch Widerlegung der Leugnung bewiesen oder sagen wir aufgewiesen
werden kann.
In
meinem Aristoteles-Kommentar habe ich diese beiden Phasen als die assertorische
und die elenktische Ontologie-Gründung bezeichnet.[1] Etwas
volksnäher hätte ich sie auch als deskriptiv und demonstrativ bezeichnen
können. Die assertorische Dimension der Ontologie ist durch unsere Lektüre
inzwischen zu einem Gerüst aus mehreren „Ontologie-Achsen“ ausgebaut worden –
ob es nun vier und fünf sind, ist nicht so wichtig.
Hingegen
hat das Sicherste Prinzip die Form eines Axioms und kann daher als das
„Ontologie-Axiom“ bezeichnet werden.
Darin
spielen die bisher aufgefundenen ontologischen Hauptbegriffe wie Wesen,
Möglichkeit, Wirklichkeit und so weiter zunächst keine große Rolle. Wieso wird
das Axiom dann doch der Ontologie zugerechnet? Weil es sich um eine Bestimmung,
eine Regel, eine Notwendigkeit und um ein Gebot handelt, welches
durchgängig Platz greift. Die Durchgängigkeit (und nicht die Fundierungskraft)
ist das formale Merkmal der ontologischen Aussagen. Noch eines hat das Axiom
mit den übrigen ontologischen Bestimmungen gemeinsam: der Begriff „Gott“ spielt
da kaum eine Rolle.
Es
wird zumeist „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ oder gar „Satz vom
Widerspruch“ genannt – so als würde Aristoteles die Gegenrede verbieten oder
ausschalten wollen. Es geht aber um die Vermeidung des Selbstwiderspruchs, der
Inkonsistenz.
Man
könnte vom Prinzip der Konsistenz sprechen oder noch lapidarer vom „Prinzip
etwas“.[2]
Damit
ist nicht gemeint, dass sich die Dinge allesamt oder auch nur die Aussagen
konsistent verhalten. Wenn sie das nicht tun, wenn Inkonsistenzen der Fall sind
und wenn man darüber etwas sagen will (was man nicht unbedingt tun muß), dann
soll man die Inkonsistenzen Inkonsistenzen nennen und sie womöglich genauer
beschreiben – und so sein eigenes Sprechen konsistent halten. Warum? Damit man
sich und nicht nur sich, solange es erwünscht und möglich ist, im Gespräch
hält. Das menschliche Dasein fortsetzt.
„Es
ist allerdings notwendig, dass diejenigen, die miteinander ins Gespräch kommen
wollen, sich in irgendeiner Hinsicht verstehen; denn sollte es dazu nicht
kommen, wie könnte es da wohl eine Gemeinsamkeit des Gespräches untereinander
geben? Es muß daher jeder Ausdruck bekannt sein und ein Etwas bezeichnen, und
zwar nicht vieles, sondern Eines; wenn es aber über mehrere Bedeutungen
verfügt, muß man klären, in welcher von diesen man den Ausdruck verwendet. Wer
nun sagt, dass dies sei und nicht sei, der behauptet nicht das, was er
behauptet, so dass er also verneint, dass der Ausdruck das bezeichnet, was er
bezeichnet. Das ist aber nicht möglich.“ (1062a 11ff.)
Man
sieht, dass Aristoteles im Aufweis des Ontologie-Axioms auf seine
assertorische Ontologie anspielt, in der die diversen Verzweigungen des
Seienden ausgebreitet worden waren – und nun zeigt er, dass damit keine
schlechthinnigen Auflösungen programmiert waren.
Im
Buch IV hatte Aristoteles die Widerlegung des Gegners viel drastischer und
polemischer vorgeführt, indem er ihn auf die Sprachlosigkeit einer Pflanze
reduziert und so lächerlich gemacht hat – siehe 1006a 15 und 1008b 12.
Mit
diesem Prinzip wirft Aristoteles nun seinem Kollegen Heraklit vorsichtig
einen Fehdehandschuh hin. Falls dieser mit seinem berühmt gewordenen „Alles
fließt.“ gemeint haben sollte, dass man im Hinblick auf dasselbe durchaus
entgegengesetzte Behauptungen aufstellen könne, dann wäre er wohl ohne präzises
Bewusstsein zu einer solchen Ansicht gelangt und wenn man bei ihm nachgefragt
hätte, hätte man ihn zwingen können einzuräumen, dass besagte Ansicht nicht zu
halten ist. (1062a 31ff.)
Ich
stelle jetzt einmal die Vermutung auf, dass man von diesem vagen
Heraklit-Beispiel einen Vergleichsfaden zu einem ebenso vagen Heisenberg-
oder Zeilinger-Fall ziehen könnte. Es handelt sich um Denker oder Forscher, die
im Zuge intensiver Arbeiten zu Aussagen oder experimentellen Ergebnissen
kommen, welche herkömmliche Denkgewohnheiten in Frage stellen und dabei
bestimmte Einsichten oder Hypothesen formulieren und die Wissenschaft so oder
so weiterbringen. Ihre Formulierungen verbreiten sich im Publikum und Leute,
die von den Sachen wenig Ahnung haben, machen daraus Schlagzeilen, die
skandalös oder aber faszinierend wirken und den Eindruck erwecken, dass damit
alle bisherigen Annahmen über die Wirklichkeit hinfällig seien.
Aristoteles
hat das Sicherste Prinzip gefunden oder erfunden, um den Einbruch des
Unendlichen aufzuhalten.
Walter
Seitter
[1] Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen
(Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 107-129.
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