τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 1. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1061b 17 – 1062b 10)




Die in der Metaphysik langwierig gegründet werdende „Erste Philosophie“ wird hier mit den beiden schon existierenden Wissenschaften Mathematik und Physik konstelliert, indem ihr die Betrachtung dessen zugemutet wird, was den Spezialaspekten der beiden anderen Wissenschaften gemeinsam ist – die entweder die Quanta und die Kontinua oder die Bewegungsformen des Seienden untersuchen. Sie soll gerade das Seiende als seiendes betrachten und sich mit diesem zentralen Formalobjekt als „erste Wissenschaft“ qualifizieren. (1061b 31).  Mathematik und Physik werden aber damit nicht weit unter der Philosophie rangiert – im Gegenteil werden sie ausdrücklich zu „Teilen der Weisheit“ ernannt. (1061b 33)

Ein typisches Beispiel dafür, wie Aristoteles seine Terminologie und Begriffsordnung immer wieder neu arrangiert und mit geringfügigen Umstellungen neue Nuancen artikuliert. 

Sein variatives und gleichzeitig additives Vorgehen macht das Weiterlesen sinnvoll. 

In der Erwähnung der Mathematik hatte Aristoteles auf ein einschlägiges Axiom angespielt, welches auch dem Euklid zugeschrieben wird. Für die Erste Philosophie (oder Wissenschaft) rekapituliert er nun aus Buch IV das dortige „Sicherste Prinzip“ folgendermaßen: 

„Es ist in den Seienden ein Prinzip, worüber eine Täuschung nicht möglich ist, da man ihr immer entgegen handeln muß, also: die Wahrheit sagen; nämlich, dass dasselbe zu ein und derselben Zeit nicht sein und nicht sein kann ...“.(1061b 34ff.)

Dabei handelte es sich um die zweite Phase in der Gründung der Ontologie, welche auf die erste und hier immer wieder rekapitulierte Phase folgt (in der die Kategorien aufgestellt worden sind). 

Das Typische für diese zweite Phase ist, dass sie mit Entschiedenheit den Begriff „Prinzip“ für sich in Anspruch nimmt; dass dieses Prinzip das Festhalten an einer gerade gesagten Bestimmtheit (an welcher auch immer) vorschreibt; dass es mit einem gewissen psychischen Zwang verbunden ist; dass es nicht direkt sondern nur durch Widerlegung der Leugnung bewiesen oder sagen wir aufgewiesen werden kann. 

In meinem Aristoteles-Kommentar habe ich diese beiden Phasen als die assertorische und die elenktische Ontologie-Gründung bezeichnet.[1] Etwas volksnäher hätte ich sie auch als deskriptiv und demonstrativ bezeichnen können. Die assertorische Dimension der Ontologie ist durch unsere Lektüre inzwischen zu einem Gerüst aus mehreren „Ontologie-Achsen“ ausgebaut worden – ob es nun vier und fünf sind, ist nicht so wichtig. 

Hingegen hat das Sicherste Prinzip die Form eines Axioms und kann daher als das „Ontologie-Axiom“ bezeichnet werden. 

Darin spielen die bisher aufgefundenen ontologischen Hauptbegriffe wie Wesen, Möglichkeit, Wirklichkeit und so weiter zunächst keine große Rolle. Wieso wird das Axiom dann doch der Ontologie zugerechnet? Weil es sich um eine Bestimmung, eine Regel, eine Notwendigkeit und um ein Gebot handelt, welches durchgängig Platz greift. Die Durchgängigkeit (und nicht die Fundierungskraft) ist das formale Merkmal der ontologischen Aussagen. Noch eines hat das Axiom mit den übrigen ontologischen Bestimmungen gemeinsam: der Begriff „Gott“ spielt da kaum eine Rolle. 

Es wird zumeist „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ oder gar „Satz vom Widerspruch“ genannt – so als würde Aristoteles die Gegenrede verbieten oder ausschalten wollen. Es geht aber um die Vermeidung des Selbstwiderspruchs, der Inkonsistenz. 

Man könnte vom Prinzip der Konsistenz sprechen oder noch lapidarer vom „Prinzip etwas“.[2]

Damit ist nicht gemeint, dass sich die Dinge allesamt oder auch nur die Aussagen konsistent verhalten. Wenn sie das nicht tun, wenn Inkonsistenzen der Fall sind und wenn man darüber etwas sagen will (was man nicht unbedingt tun muß), dann soll man die Inkonsistenzen Inkonsistenzen nennen und sie womöglich genauer beschreiben – und so sein eigenes Sprechen konsistent halten. Warum? Damit man sich und nicht nur sich, solange es erwünscht und möglich ist, im Gespräch hält. Das menschliche Dasein fortsetzt. 

„Es ist allerdings notwendig, dass diejenigen, die miteinander ins Gespräch kommen wollen, sich in irgendeiner Hinsicht verstehen; denn sollte es dazu nicht kommen, wie könnte es da wohl eine Gemeinsamkeit des Gespräches untereinander geben? Es muß daher jeder Ausdruck bekannt sein und ein Etwas bezeichnen, und zwar nicht vieles, sondern Eines; wenn es aber über mehrere Bedeutungen verfügt, muß man klären, in welcher von diesen man den Ausdruck verwendet. Wer nun sagt, dass dies sei und nicht sei, der behauptet nicht das, was er behauptet, so dass er also verneint, dass der Ausdruck das bezeichnet, was er bezeichnet. Das ist aber nicht möglich.“ (1062a 11ff.)

Man sieht, dass Aristoteles im  Aufweis des Ontologie-Axioms auf seine assertorische Ontologie anspielt, in der die diversen Verzweigungen des Seienden ausgebreitet worden waren – und nun zeigt er, dass damit keine schlechthinnigen Auflösungen programmiert waren. 


Im Buch IV hatte Aristoteles die Widerlegung des Gegners viel drastischer und polemischer vorgeführt, indem er ihn auf die Sprachlosigkeit einer Pflanze reduziert und so lächerlich gemacht hat – siehe 1006a 15 und 1008b 12.

Mit diesem Prinzip wirft Aristoteles nun seinem Kollegen Heraklit vorsichtig einen Fehdehandschuh hin. Falls dieser mit seinem berühmt gewordenen „Alles fließt.“ gemeint haben sollte, dass man im Hinblick auf dasselbe durchaus entgegengesetzte Behauptungen aufstellen könne, dann wäre er wohl ohne präzises Bewusstsein zu einer solchen Ansicht gelangt und wenn man bei ihm nachgefragt hätte, hätte man ihn zwingen können einzuräumen, dass besagte Ansicht nicht zu halten ist. (1062a 31ff.)

Ich stelle jetzt einmal die Vermutung auf, dass man von diesem vagen Heraklit-Beispiel einen Vergleichsfaden zu einem ebenso vagen Heisenberg- oder Zeilinger-Fall ziehen könnte. Es handelt sich um Denker oder Forscher, die im Zuge intensiver Arbeiten zu Aussagen oder experimentellen Ergebnissen kommen, welche herkömmliche Denkgewohnheiten in Frage stellen und dabei bestimmte Einsichten oder Hypothesen formulieren und die Wissenschaft so oder so weiterbringen. Ihre Formulierungen verbreiten sich im Publikum und Leute, die von den Sachen wenig Ahnung haben, machen daraus Schlagzeilen, die skandalös oder aber faszinierend wirken und den Eindruck erwecken, dass damit alle bisherigen Annahmen über die Wirklichkeit hinfällig seien. 

Aristoteles hat das Sicherste Prinzip gefunden oder erfunden, um den Einbruch des Unendlichen aufzuhalten. 

Walter Seitter




[1] Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 107-129.
[2] Walter Seitter: op. cit.: 124.


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