τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1061b 17 – 20)

Es kommt vor, dass man sich in der Diskussion, zu der das Lesen in der Metaphysik Anlaß gibt, am Begriff des Wesens festbeißt, der zwar ein Hauptbegriff innerhalb der ontologischen Problemstellung ist – aber nur einer neben dem Grundwort „Seiendes“, neben anderen Hauptbegriffen wie Vermögen und Verwirklichung, einheitlich und vielheitlich, wahr und falsch ....  Und die ontologische Problemstellung – eine aristotelische Erfindung - ist auch gar nicht das einzige Thema der sogenannten Metaphysik. Deren Hauptfrage geht vielmehr auf die Prinzipien, die ersten Ursachen dessen, was es gibt. 

Die sorgfältige Ausarbeitung oder gar Beantwortung dieser im Buch I skizzierten Frage (die Aristoteles von diversen Altvorderen übernommen hat) wird nun seit Buch II immer nur peripher angeschnitten, von Buch IV bis Buch X ist sie mit der Aristoteles-Erfindung „Ontologie“ zur Seite geschoben worden. Worauf das jetzt gelesene Buch XI hinausläuft, müssen wir erst sehen – denn um es lateinisch zu sagen: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensibus. (Hoffentlich wird dieser Satz jetzt nicht für „theologisch“ gehalten.)  

Der aristotelischen Ontologie scheint eine katechontische Funktion zuzuwachsen: Hinausschiebung der ersten Frage und ihrer Beantwortung. Sie ist ja selber ein Spätling – hat sie doch ihren Namen und somit ihre offizielle Existenz erst im 17. Jahrhundert nach Christus bekommen. Aristoteles: ein später und immer noch späterer und folglich vielleicht erst jetzt oder gar noch später Kommender.

Die Ontologie und überhaupt der Aristoteles gewissermaßen als Neulinge, als Künftige ... Wer da jetzt schon alles weiß, ist irgendwie zu schnell gewesen.  

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Die Wissenschaft, um deren Gründung es hier geht, wird nun wieder als „Erste Philosophie“ bezeichnet und definiert wird sie durch die Abgrenzung von zwei anderen Wissenschaften, von denen bereits im vorigen Abschnitt die Rede war – nämlich von der Mathematik und der Physik. Aristoteles wirkte nicht in irgendeiner grauen Vorzeit, in der „alles eins“ war, sondern in einer bestimmten Zeit, in der bestimmte verschiedene Wissenschaften schon ausgebildet waren: die Mathematik seit langem bei fremden Völkern und die Physik immerhin schon seit über hundert Jahren bei den Griechen, bei den sogenannten Naturphilosophen und bei Aristoteles selber, dessen Vorlesung über Physik damals bereits vorlag und die er öfter erwähnt. Im vorigen Abschnitt hat er die „Entstehung“ der Mathematik wissenschaftstheoretisch rekonstruiert: als Abstraktionstätigkeit, die von den sinnlichen Dingen gewisse Eigenschaften, nämlich solche, die dann später (im 17. Jahrhundert nach Christus) als „sekundäre Qualitäten“ bezeichnet werden sollten, abzieht und nur mehr die rein quantitativen übriglässt. Damit wird im Grunde genommen der Physik ein sachlicher Vorrang vor der Mathematik eingeräumt und in der aristotelischen Terminologie ist es die Physik, die von Wesen, von existierenden Wesen handelt.

(Eine große Klammer zum „Existieren“. 

Es stimmt, dass Aristoteles dieses Wort nie ausgesprochen oder hingeschrieben hat. Dieses Wort gab es aber wohl schon zu seiner Zeit – und zwar ein paar hundert Kilometer westlich von Griechenland. Wörter existieren innerhalb von Sprachen, in denen sie gesprochen, vielleicht geschrieben werden. Das Wort „existere“ ist ein Mitglied der lateinischen Sprache, die im 4. Jahrhundert vor Christus vielleicht(!) noch nicht weit über Italien hinaus verbreitet war, denn die römische Expansion stand erst bevor. Hingegen war die griechische Sprache damals schon sehr weit herumgekommen und weitum implantiert, auch in Süditalien und Sizilien gab es längst blühende griechische Kolonien, Tyrannen und Philosophen. Platon war schon dreimal in Sizilien gewesen, um einem griechischen Herrscher das Philosophieren und gute Regieren auf Griechisch beizubringen. Erfolg ungewiß. 

Nun wissen wir bekanntlich schon, dass der Text, den wir jetzt lesen, zwar von Aristoteles im 4. Jahrhundert geschrieben worden sein dürfte, aber erst im 1. Jahrhundert seine bis heute erhaltene Fassung bekommen hat – durch Andronikos von Rhodos und vielleicht in Rom. Die Redigierung und die Lektüre und die Kommentierung sowie die Übersetzung der Schriften des Aristoteles spielte sich dann in einem politischen und kulturellen Großraum ab, der im wesentlichen zweisprachig war, wie Paul Veyne betont hat, der von einem „griechisch-römischen Reich“ sprach. 

Ich möchte nun die Frage aufwerfen, ob es bei den Griechen einen Begriff des Existierens gab bzw. welche griechischen Wörter in die Nähe dieses Begriffs angesiedelt sind.

Natürlich fällt einem da der Begriff des Seienden ein, der schon vor den Philosophen, dann bei Parmenides und Platon und vor allem bei Aristoteles eine große Rolle gespielt hat. Und dies wohl auch deshalb, weil es im Griechischen kein exaktes Äquivalent für die modernen Wörter „wirklich“ oder „real“ gab, an die wir denken, wenn wir „seiend“ lesen. 

War das Seiende nur ein Notbehelf für jene noch nicht vorhandenen Wörter? Eine solche Frage setzt zu Recht voraus, dass eine vom Latein ja nicht allzu weit entfernte Sprache wohl doch über Wörter verfügen muß, die dieses Bedeutungsfeld vertreten. Aber andererseits gehört es eben zur Pluralität der Sprachen, dass nicht jedem Wort der einen Sprache ein exaktes Äquivalent in einer anderen Sprache und noch dazu viel späteren Sprache gegenübersteht. 

Das Bedeutungsfeld, das unseren modernen Wörtern real, wirklich, existieren entspricht, war im Altgriechischen nicht nur mit dem „einai“ und dem aktiven Präsenspartizip „on“ vertreten, sondern auch mit mit dem Verb „hyparchein“, das unserem Existieren sehr nahe kommt (und im Neugriechischen direkt dafür steht). Bei Aristoteles kommt dieses Wort öfter vor – so in dem Satz 1048a 31 „Die Verwirklichung ist das Existieren der Sache.“ Dieser Satz ist deswegen so wichtig, weil er noch ein anderes, wenn man will, ein drittes Wort für das gemeinte Bedeutungsfeld namhaft macht, um es zu definieren. Und zwar im Buch IX, das insgesamt den beiden ontologischen Hauptbegriffen des Vermögens und der Verwirklichung gewidmet ist. 

Jetzt haben wir also schon drei lexikalisch weit auseinander liegende Wörter für das eine Begriffsfeld gefunden und wir können uns klar machen, wie sich die drei voneinander unterscheiden. Hyparchein heißt faktisch vorhanden sein, bestehen, existieren – und speziell: jemandem zukommen. Energeia ist kein Verb, hat aber eine spezielle verbale Nuance: nämlich den Übergang aus einem vorausgesetzten Hof der Möglichkeiten zu einer Wirklichkeit.



Die altgriechische Sprache und ihre Schriftsteller (nicht nur Philosophen) haben dem Wort für Sein und seinen Abwandlungen einen gewissen Vorrang eingeräumt. Es ist das einfachste von allen und das nuancenreichste: es bedeutet nicht nur existieren sondern auch dies sein und das sein. Das Präsenspartizip hat die Eigenschaften eines knappen Adjektivs, aus ihm lässt sich das echte Substantiv ousia bilden – so wie aus philos die philia. 

Welches der drei griechischen Wörter steht dem Existieren am nächsten? Die lateinischen Aristoteles-Übersetzungen haben erst spät auf „existere“ zurückgegriffen. Und dies obwohl es im aristotelischen Vokabular noch einen weiteren Begriff gibt, der diese Richtung anzeigt: choriston – gesondert, getrennt, abgetrennt ist ein Adjektiv und besagt, dass etwas nicht nur irgendwo enthalten oder impliziert ist, sondern „extra“ vorhanden ist, ins Außen vorstößt, deutlich sich vom übrigen absetzt. 


Es trifft sich, dass in der heutigen FAZ ausführlich über die 28-bändige Gesamtausgabe von Reiner Schürmann berichtet wird (der mich 1988 an die New School for Social Research in New York eingeladen hat). Schürmann hat im Anschluß an Martin Heidegger Ontologie und Prakische Philosophie viel enger als Aristoteles aufeinander bezogen und hat in dieser Absicht die Geschichte der Philosophie neu aufgerollt, wobei er auch der Unabhängigkeit der Substanzen in der Ontologie des Thomas von Aquin großes Gewicht beimisst.[1] Diese aber ist gerade im „Gesonderten“ des Aristoteles begrifflich vorformuliert worden: das Wesen zeichnet sich durch sein Existieren, sein „Extra-Sein“ aus, auch wenn damit kein platonisches Jenseits anvisiert ist.  

Der eher moderne Begriff des Existierens ist also bei Aristoteles schon ziemlich ausgeprägt – hauptsächlich wird er durch seiend, sein, Wesen repräsentiert (daher denn auch die späte Begriffsbildung „Ontologie“). Gegen den selbstverständlichen Imperativ des Getrenntseins argumentiert in einem ökologischen Sinne Charles Eisenstein.)

Damit schließe ich die große Klammer zum Existieren und die Lektüre im Buch XI wird nächste Woche fortgesetzt. 

Walter Seitter


[1] Siehe Tobias Keiling: Heidegger nach links gekehrt. Zur Werkausgabe des Philosophen Reiner Schürmann, in FAZ 24. Juni 2020.

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