Es
kommt vor, dass man sich in der Diskussion, zu der das Lesen in der Metaphysik Anlaß
gibt, am Begriff des Wesens festbeißt, der zwar ein
Hauptbegriff innerhalb der ontologischen Problemstellung ist – aber nur
einer neben dem Grundwort „Seiendes“, neben anderen Hauptbegriffen wie Vermögen
und Verwirklichung, einheitlich und vielheitlich, wahr und falsch
.... Und die ontologische Problemstellung – eine aristotelische Erfindung
- ist auch gar nicht das einzige Thema der sogenannten Metaphysik. Deren
Hauptfrage geht vielmehr auf die Prinzipien, die ersten Ursachen dessen,
was es gibt.
Die
sorgfältige Ausarbeitung oder gar Beantwortung dieser im Buch I skizzierten
Frage (die Aristoteles von diversen Altvorderen übernommen hat) wird nun
seit Buch II immer nur peripher angeschnitten, von Buch IV bis Buch X ist
sie mit der Aristoteles-Erfindung „Ontologie“ zur Seite geschoben worden.
Worauf das jetzt gelesene Buch XI hinausläuft, müssen wir erst sehen
– denn um es lateinisch zu sagen: Nihil est in intellectu quod non
prius fuerit in sensibus. (Hoffentlich wird dieser Satz jetzt
nicht für „theologisch“ gehalten.)
Der
aristotelischen Ontologie scheint eine katechontische Funktion zuzuwachsen:
Hinausschiebung der ersten Frage und ihrer Beantwortung. Sie ist ja selber
ein Spätling – hat sie doch ihren Namen und somit ihre offizielle Existenz erst
im 17. Jahrhundert nach Christus bekommen. Aristoteles: ein später und immer
noch späterer und folglich vielleicht erst jetzt oder gar noch später
Kommender.
Die
Ontologie und überhaupt der Aristoteles gewissermaßen als Neulinge, als
Künftige ... Wer da jetzt schon alles weiß, ist irgendwie zu schnell
gewesen.
*
Die
Wissenschaft, um deren Gründung es hier geht, wird nun wieder als „Erste
Philosophie“ bezeichnet und definiert wird sie durch die Abgrenzung von zwei
anderen Wissenschaften, von denen bereits im vorigen Abschnitt die Rede war –
nämlich von der Mathematik und der Physik. Aristoteles wirkte nicht in
irgendeiner grauen Vorzeit, in der „alles eins“ war, sondern in einer
bestimmten Zeit, in der bestimmte verschiedene Wissenschaften schon ausgebildet
waren: die Mathematik seit langem bei fremden Völkern und die Physik immerhin
schon seit über hundert Jahren bei den Griechen, bei den sogenannten
Naturphilosophen und bei Aristoteles selber, dessen Vorlesung über Physik
damals bereits vorlag und die er öfter erwähnt. Im vorigen Abschnitt hat er die
„Entstehung“ der Mathematik wissenschaftstheoretisch rekonstruiert: als
Abstraktionstätigkeit, die von den sinnlichen Dingen gewisse Eigenschaften,
nämlich solche, die dann später (im 17. Jahrhundert nach Christus) als
„sekundäre Qualitäten“ bezeichnet werden sollten, abzieht und nur mehr die rein
quantitativen übriglässt. Damit wird im Grunde genommen der Physik ein
sachlicher Vorrang vor der Mathematik eingeräumt und in der aristotelischen
Terminologie ist es die Physik, die von Wesen, von existierenden Wesen handelt.
(Eine
große Klammer zum „Existieren“.
Es
stimmt, dass Aristoteles dieses Wort nie ausgesprochen oder
hingeschrieben hat. Dieses Wort gab es aber wohl schon zu seiner Zeit – und
zwar ein paar hundert Kilometer westlich von Griechenland. Wörter existieren
innerhalb von Sprachen, in denen sie gesprochen, vielleicht geschrieben werden.
Das Wort „existere“ ist ein Mitglied der lateinischen Sprache, die im 4.
Jahrhundert vor Christus vielleicht(!) noch nicht weit über Italien hinaus
verbreitet war, denn die römische Expansion stand erst bevor. Hingegen war
die griechische Sprache damals schon sehr weit herumgekommen und weitum
implantiert, auch in Süditalien und Sizilien gab es längst blühende griechische
Kolonien, Tyrannen und Philosophen. Platon war schon dreimal in Sizilien
gewesen, um einem griechischen Herrscher das Philosophieren und gute Regieren
auf Griechisch beizubringen. Erfolg ungewiß.
Nun
wissen wir bekanntlich schon, dass der Text, den wir jetzt lesen, zwar von
Aristoteles im 4. Jahrhundert geschrieben worden sein dürfte, aber erst im 1.
Jahrhundert seine bis heute erhaltene Fassung bekommen hat – durch Andronikos
von Rhodos und vielleicht in Rom. Die Redigierung und die Lektüre und die
Kommentierung sowie die Übersetzung der Schriften des Aristoteles spielte sich
dann in einem politischen und kulturellen Großraum ab, der im wesentlichen
zweisprachig war, wie Paul Veyne betont hat, der von einem
„griechisch-römischen Reich“ sprach.
Ich
möchte nun die Frage aufwerfen, ob es bei den Griechen einen Begriff des
Existierens gab bzw. welche griechischen Wörter in die Nähe dieses Begriffs
angesiedelt sind.
Natürlich
fällt einem da der Begriff des Seienden ein, der schon vor den Philosophen,
dann bei Parmenides und Platon und vor allem bei Aristoteles eine große Rolle
gespielt hat. Und dies wohl auch deshalb, weil es im Griechischen kein exaktes
Äquivalent für die modernen Wörter „wirklich“ oder „real“ gab, an die wir
denken, wenn wir „seiend“ lesen.
War
das Seiende nur ein Notbehelf für jene noch nicht vorhandenen Wörter? Eine
solche Frage setzt zu Recht voraus, dass eine vom Latein ja nicht allzu weit
entfernte Sprache wohl doch über Wörter verfügen muß, die dieses Bedeutungsfeld
vertreten. Aber andererseits gehört es eben zur Pluralität der Sprachen, dass
nicht jedem Wort der einen Sprache ein exaktes Äquivalent in einer anderen
Sprache und noch dazu viel späteren Sprache gegenübersteht.
Das
Bedeutungsfeld, das unseren modernen Wörtern real, wirklich, existieren
entspricht, war im Altgriechischen nicht nur mit dem „einai“ und dem aktiven
Präsenspartizip „on“ vertreten, sondern auch mit mit dem Verb „hyparchein“, das
unserem Existieren sehr nahe kommt (und im Neugriechischen direkt dafür steht).
Bei Aristoteles kommt dieses Wort öfter vor – so in dem Satz 1048a 31 „Die
Verwirklichung ist das Existieren der Sache.“ Dieser Satz ist deswegen so
wichtig, weil er noch ein anderes, wenn man will, ein drittes Wort für das
gemeinte Bedeutungsfeld namhaft macht, um es zu definieren. Und zwar im Buch IX,
das insgesamt den beiden ontologischen Hauptbegriffen des Vermögens und der
Verwirklichung gewidmet ist.
Jetzt
haben wir also schon drei lexikalisch weit auseinander liegende Wörter für das
eine Begriffsfeld gefunden und wir können uns klar machen, wie sich die drei
voneinander unterscheiden. Hyparchein heißt faktisch vorhanden sein, bestehen,
existieren – und speziell: jemandem zukommen. Energeia ist kein Verb, hat aber
eine spezielle verbale Nuance: nämlich den Übergang aus einem vorausgesetzten
Hof der Möglichkeiten zu einer Wirklichkeit.
Die
altgriechische Sprache und ihre Schriftsteller (nicht nur Philosophen) haben
dem Wort für Sein und seinen Abwandlungen einen gewissen Vorrang eingeräumt. Es
ist das einfachste von allen und das nuancenreichste: es bedeutet nicht nur
existieren sondern auch dies sein und das sein. Das Präsenspartizip hat die
Eigenschaften eines knappen Adjektivs, aus ihm lässt sich das echte Substantiv
ousia bilden – so wie aus philos die philia.
Welches
der drei griechischen Wörter steht dem Existieren am nächsten? Die lateinischen
Aristoteles-Übersetzungen haben erst spät auf „existere“ zurückgegriffen.
Und dies obwohl es im aristotelischen Vokabular noch einen weiteren Begriff
gibt, der diese Richtung anzeigt: choriston – gesondert, getrennt,
abgetrennt ist ein Adjektiv und besagt, dass etwas nicht nur irgendwo enthalten
oder impliziert ist, sondern „extra“ vorhanden ist, ins Außen vorstößt,
deutlich sich vom übrigen absetzt.
Es
trifft sich, dass in der heutigen FAZ ausführlich über die 28-bändige
Gesamtausgabe von Reiner Schürmann berichtet wird (der mich 1988 an die New
School for Social Research in New York eingeladen hat). Schürmann hat im
Anschluß an Martin Heidegger Ontologie und Prakische Philosophie viel enger als
Aristoteles aufeinander bezogen und hat in dieser Absicht die Geschichte der
Philosophie neu aufgerollt, wobei er auch der Unabhängigkeit der Substanzen in
der Ontologie des Thomas von Aquin großes Gewicht beimisst.[1] Diese
aber ist gerade im „Gesonderten“ des Aristoteles begrifflich vorformuliert
worden: das Wesen zeichnet sich durch sein Existieren, sein „Extra-Sein“
aus, auch wenn damit kein platonisches Jenseits anvisiert
ist.
Der
eher moderne Begriff des Existierens ist also bei Aristoteles schon ziemlich
ausgeprägt – hauptsächlich wird er durch seiend, sein, Wesen repräsentiert
(daher denn auch die späte Begriffsbildung „Ontologie“). Gegen den
selbstverständlichen Imperativ des Getrenntseins argumentiert in einem
ökologischen Sinne Charles Eisenstein.)
Damit
schließe ich die große Klammer zum Existieren und die Lektüre im Buch XI wird
nächste Woche fortgesetzt.
Walter
Seitter
[1] Siehe Tobias Keiling:
Heidegger nach links gekehrt. Zur Werkausgabe des Philosophen Reiner Schürmann,
in FAZ 24. Juni 2020.
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