τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 17. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1061a 19 – 1061b 17)

 In den letzten Abschnitten von Buch X war von verschiedenen an Menschen vorkommenden Akzidenzien – schwarz oder weiß oder andersfarbig bzw. männlich oder weiblich – die Rede.  Jetzt geht Aristoteles auf ein anderes durch Gegenteiligkeit oder Privation gekennzeichnetes Eigenschaftspaar ein: gerecht – ungerecht. Dabei greift er auf ausführlichere Behandlungen derselben Thematik zurück, die sich passenderweise in der Ethik finden: EN, V, 1129b 11ff.

Wieder einmal erweist sich die sogenannte Metaphysik als ein nachträglich geschriebenes, ein Nachbetrachtungs-Werk – wobei sich die Frage stellt, ob diese Nachträge nur Bekanntes, Allzu-Bekanntes wiederholen oder ob diese Wiederholungen doch etwas Neues finden wollen bzw. tatsächlich finden. Da die Wiederholungen in aller Regel kürzer ausfallen als die wiederholten Ausführungen gewesen sind, wird sich die Neufindung eher auf einer anderen Ebene abspielen – vielleicht einer Ebene der Zusammenschau, der Gemeinsamkeit.  

In der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwei Hauptteile der Gerechtigkeit: die Konformität mit den Gesetzen und die Orientierung an der Gleichheit. Hier unterscheidet er schematisch zwischen der Konformität mit bestimmten Gesetzen und derjenigen mit anderen. „Gerecht“ wird genannt, wer sich an bestimmte Gesetze hält, und wer sich nur an diese hält, ist gerecht in einem partiellen Sinn. Folglich kann er, wenn er die anderen Gesetze nicht respektiert, auch als ungerecht gelten – in einem partiellen Sinn. Und daher kann jemand mehr oder weniger gerecht sein.

Das war ja schon mehrmals als für die Akzidenzien typisch behauptet worden – im Unterschied zur Wesensbestimmung „Mensch“, die „man“ notwendigerweise gänzlich innehat, auch wenn man sich ganz und gar ungerecht verhält bzw. katastrophal agiert. 

Daß das für die Hautfarben ebenso gilt, liegt ja wohl ganz wörtlich auf der Hand, da die Benennung „weiß“  für  menschliche Hautfarbe phänomenal kaum je zutrifft. Da wird mit „weiß“ ganz konventionell ein ziemlich weites Spektrum von irgendwie hellen Hautfarben bezeichnet, die mit geographischen, ethnischen, womöglich auch sozialen Zuschreibungen verknüpft sind (und diese sogenannte weiße Hautfarbe kann im Zuge von modisch erwünschter Bräunung ganz schön dunkel ausfallen). Wenn ich im Protokoll vom 10. Juni geschrieben habe, dass Aristoteles in 1058b 1ff. die Gegebenheit von Rassen kundtut, so ist das irreführend, weil er ein solches Wort wie „Rasse“ gerade nicht einführt, welches ja eine subspezifische Spezies suggeriert. Eher wehrt er so eine Begriffsbildung ab, wenn er betont, die schwarze Hautfarbe konstitutiere keine eigene Spezies, auch wenn die Träger dieser Hautfarbe „mit einem eigenen Ausdruck“ bezeichnet werden. Damit antizipiert er oder vielmehr zitiert er aus seiner eigenen Erfahrung die Wortreihe schwarz, Schwarze, Neger ... (... Rasse). 

Im folgenden (1061a 29ff.) versucht Aristoteles, die Tätigkeit der Mathematik verständlich zu machen, indem er von der Betrachtung der sinnlichen Dinge und Eigenschaften ausgeht, welche ja gewissermaßen die mehr oder weniger bekannte, die alltägliche Umwelt – sowohl in seiner wie auch in unserer Zeit – ausmacht. Dinge und Eigenschaften, die man „physisch“ nennen kann, auch wenn sie nicht nur der Natur entstammen. Wenn man bestimmte Eigenschaftsdimensionen wie Gewicht, Konsistenz, Temperatur davon weglässt und nur Quantum und Kontinuum betrachtet und misst, dann bleiben vielerlei Objekte über, die man mit der Geometrie erkennen kann - zum Beispiel Felder, Tempel, Sterne. Beispiel für eine weitreichende aber keineswegs totale Wissenschaft, die mit dem komischen Anspruch auftritt, „alles“ erfassen zu können. 

Eine Wissenschaft, die schlechthin alles erfassen zu können beansprucht, gibt es bei Aristoteles nicht. Mag sein, dass so etwas vor ihm schon versucht worden ist – nach ihm dürfte es etwa ab dem 17. Jahrhundert nach Christus mehrmals konzipiert worden sein.[1]

Diese Bemerkung gilt vor allem für die jetzt ins Auge gefasste Wissenschaft: „Denn die Akzidenzien des (Seienden), insofern es seiend ist, und die Gegensätze desselben, insofern es seiend ist, zu betrachten, ist die Aufgabe keiner anderen Wissenschaft als der Philosophie. Denn der Naturwissenschaft kann man die Betrachtung des Seienden, insofern es seiend ist, nicht zuteilen, vielmehr nur des Seienden, insofern es teilhat an Bewegung. Die Dialektik und Sophistik handeln zwar von den Akzidenzien des Seienden, jedoch nicht, insofern es seiend ist, aber auch nicht vom Seienden selbst, insofern es seiend ist.“ (1061b 4ff.)

Mit der Philosophie wird eine Wissenschaft genannt, die noch nicht bereits eingeführt ist – wie die Mathematik oder die Physik, sondern eine, die erst in diesem umfangreichen Buch „gesucht“ wird: anfängerhaft in Buch I und II umrissen, in Buch III als Verkettung von Aporien schematisiert, in Buch V als Aneinanderreihung von 30 Begriffsanalysen ausgebreitet – in Buch IV formell als neue Wissenschaft definiert: „Wissenschaft vom Seienden als seienden und den ihm an ihm selber zukommenden Bestimmungen“ (1003a 21).

Aber die Rekapitulation hier im Buch XI unterscheidet sich merklich von der Ersteinführung im Buch IV – wo vor allem die kategoriale Ontologie mit Wesen und Akzidenzien programmiert worden ist. Hier wird das Wesen – wieder – ausgelassen und die Akzidenzien direkt dem Seienden zugeordnet. Das heißt: hier werden alle Achsen der Ontologie bündig zusammengefasst und die „Akzidenzien“ in einem weiteren Sinn verstanden: Wesen und Akzidenzien, Werden und Vergehen, Möglichkeit und Wirklichkeit, wahr und falsch, ein- und vielheitlich. 

Eine ungeheure Bündelungskraft (wie sie übrigens am Anfang von Buch X dem Einen als solchen zugesprochen worden ist) liegt in dieser Reprise und es ist kein Zufall, dass sie sofort politisch, nämlich erkenntnispolitisch gegen eine Front aufgestellt wird, die mit zwei Parteien bezeichnet wird. „Dialektik“ und „Sophistik“ sind nämlich nicht – wie Mathematik und Physik - zwei Disziplinen, die sich mit Teilaspekten des Seienden beschäftigen. Nein, sie haben ebenfalls das Seiende überhaupt auf ihre Fahnen geschrieben – doch sie verfehlen den entscheidenden Punkt, den Aristoteles mit der als-Verdoppelung markiert: das Seiende als seiendes. 

Diese entscheidende Facette, die den Gegenstand „Seiendes“ repetitiv und reflexiv auf ihn selber zurückwirft, in ihn selber hineinbohrt und die nur mit einer Verdoppelung ausgedrückt werden kann – wie lässt sich heute diese Facette begreifen?

Aristoteles macht sie hier zum punctum einer inter- bzw. innerphilosophischen Konfrontation, welche an die Problematik des letzten Postskriptums anschließt. Diese Konfrontation unterscheidet sich allerdings in Nuancen von derselben Frontstellung, die Aristoteles im Buch IV (1004b 9ff.) aufgeworfen hat. Dort wird die Abweichung der Dialektiker und Sophisten darin gesehen, dass sie den Primat des Wesens verkennen, und deswegen werden sie dann auch noch moralisch disqualifiziert – ja als Schein-Philosophen abgeurteilt. 

Diese Betrachtung des Seienden als seienden schließt keinen Realitätsbereich aus, aber sie kapriziert sich auf einen ganz eigenen Gesichtspunkt. Sie betrachtet alle Dinge in ihrer Seiendheit, welche sich selber in einer weiten Vielfalt auseinanderlegt, und außerdem betrachtet sie das Seiende selber, sofern es seiend ist.

Damit sind genau genommen zwei Themen in Aussicht genommen. Mit dem einen dürfte die Ontologie gemeint sein, die bisher schon ausführlich entfaltet worden ist – und mit dem anderen wohl das sogenannte abgetrennte ewige Wesen, nach dem wie neulich angedeutet die besten Denker suchen. 

Aristoteles kennzeichnet diese beiden Themen in einem Atemzug und mit fast identischem Vokabular (das in meinen Ohren immer noch fremdartig klingt). Umso wichtiger ist es, sie auseinanderzuhalten. Wenn man (damit meine ich die heutigen Leser) bei Aristoteles alles mit allem verwechselt, wird er unverständlich, absurd, lächerlich. 

Walter Seitter

PS.:

„Entrümpelt von dem historistischen Unsinn, man dürfe keine zeitgenössischen Begriffe für die Übertragung antiker Texte verwenden“, hat laut Thomas Meyer Dorothea Frede die deutsche Fassung der Nikomachischen Ethik von Aristoteles in ihrer Übersetzung, die 2020 in Berlin erschienen ist.



[1] Ich denke etwa an die von Johann Amos Comenius ausgehende Pansophie-Bewegung. Siehe Walter Seitter: Menschenfassungen: 87ff.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen