In
den letzten Abschnitten von Buch X war von verschiedenen an Menschen
vorkommenden Akzidenzien – schwarz oder weiß oder andersfarbig bzw. männlich
oder weiblich – die Rede. Jetzt geht Aristoteles auf ein anderes
durch Gegenteiligkeit oder Privation gekennzeichnetes Eigenschaftspaar ein:
gerecht – ungerecht. Dabei greift er auf ausführlichere Behandlungen derselben
Thematik zurück, die sich passenderweise in der Ethik finden: EN, V, 1129b
11ff.
Wieder
einmal erweist sich die sogenannte Metaphysik als ein nachträglich
geschriebenes, ein Nachbetrachtungs-Werk – wobei sich die Frage stellt, ob
diese Nachträge nur Bekanntes, Allzu-Bekanntes wiederholen oder ob diese
Wiederholungen doch etwas Neues finden wollen bzw. tatsächlich finden. Da
die Wiederholungen in aller Regel kürzer ausfallen als die wiederholten
Ausführungen gewesen sind, wird sich die Neufindung eher auf einer anderen
Ebene abspielen – vielleicht einer Ebene der Zusammenschau, der Gemeinsamkeit.
In
der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwei Hauptteile der
Gerechtigkeit: die Konformität mit den Gesetzen und die Orientierung an
der Gleichheit. Hier unterscheidet er schematisch zwischen der Konformität
mit bestimmten Gesetzen und derjenigen mit anderen. „Gerecht“ wird genannt, wer
sich an bestimmte Gesetze hält, und wer sich nur an diese hält, ist gerecht in
einem partiellen Sinn. Folglich kann er, wenn er die anderen Gesetze nicht
respektiert, auch als ungerecht gelten – in einem partiellen Sinn. Und daher
kann jemand mehr oder weniger gerecht sein.
Das
war ja schon mehrmals als für die Akzidenzien typisch behauptet worden – im
Unterschied zur Wesensbestimmung „Mensch“, die „man“ notwendigerweise gänzlich
innehat, auch wenn man sich ganz und gar ungerecht verhält bzw. katastrophal agiert.
Daß
das für die Hautfarben ebenso gilt, liegt ja wohl ganz wörtlich auf der Hand,
da die Benennung „weiß“ für menschliche Hautfarbe
phänomenal kaum je zutrifft. Da wird mit „weiß“ ganz konventionell ein ziemlich
weites Spektrum von irgendwie hellen Hautfarben bezeichnet, die mit
geographischen, ethnischen, womöglich auch sozialen Zuschreibungen verknüpft
sind (und diese sogenannte weiße Hautfarbe kann im Zuge von modisch erwünschter
Bräunung ganz schön dunkel ausfallen). Wenn ich im Protokoll vom 10. Juni
geschrieben habe, dass Aristoteles in 1058b 1ff. die Gegebenheit von Rassen
kundtut, so ist das irreführend, weil er ein solches Wort wie „Rasse“ gerade
nicht einführt, welches ja eine subspezifische Spezies suggeriert. Eher wehrt
er so eine Begriffsbildung ab, wenn er betont, die schwarze Hautfarbe
konstitutiere keine eigene Spezies, auch wenn die Träger dieser Hautfarbe „mit
einem eigenen Ausdruck“ bezeichnet werden. Damit antizipiert er oder vielmehr
zitiert er aus seiner eigenen Erfahrung die Wortreihe schwarz, Schwarze, Neger
... (... Rasse).
Im
folgenden (1061a 29ff.) versucht Aristoteles, die Tätigkeit der Mathematik
verständlich zu machen, indem er von der Betrachtung der sinnlichen Dinge und
Eigenschaften ausgeht, welche ja gewissermaßen die mehr oder weniger bekannte,
die alltägliche Umwelt – sowohl in seiner wie auch in unserer Zeit – ausmacht.
Dinge und Eigenschaften, die man „physisch“ nennen kann, auch wenn sie nicht
nur der Natur entstammen. Wenn man bestimmte Eigenschaftsdimensionen wie
Gewicht, Konsistenz, Temperatur davon weglässt und nur Quantum und Kontinuum
betrachtet und misst, dann bleiben vielerlei Objekte über, die man mit der
Geometrie erkennen kann - zum Beispiel Felder, Tempel, Sterne. Beispiel für
eine weitreichende aber keineswegs totale Wissenschaft, die mit dem komischen
Anspruch auftritt, „alles“ erfassen zu können.
Eine
Wissenschaft, die schlechthin alles erfassen zu können beansprucht, gibt
es bei Aristoteles nicht. Mag sein, dass so etwas vor ihm schon versucht worden
ist – nach ihm dürfte es etwa ab dem 17. Jahrhundert nach Christus mehrmals
konzipiert worden sein.[1]
Diese
Bemerkung gilt vor allem für die jetzt ins Auge gefasste Wissenschaft: „Denn
die Akzidenzien des (Seienden), insofern es seiend ist, und die Gegensätze
desselben, insofern es seiend ist, zu betrachten, ist die Aufgabe keiner
anderen Wissenschaft als der Philosophie. Denn der Naturwissenschaft kann man
die Betrachtung des Seienden, insofern es seiend ist, nicht zuteilen, vielmehr
nur des Seienden, insofern es teilhat an Bewegung. Die Dialektik und Sophistik
handeln zwar von den Akzidenzien des Seienden, jedoch nicht, insofern es seiend
ist, aber auch nicht vom Seienden selbst, insofern es seiend ist.“ (1061b 4ff.)
Mit
der Philosophie wird eine Wissenschaft genannt, die noch nicht bereits
eingeführt ist – wie die Mathematik oder die Physik, sondern eine, die erst in
diesem umfangreichen Buch „gesucht“ wird: anfängerhaft in Buch I und II
umrissen, in Buch III als Verkettung von Aporien schematisiert, in Buch V als
Aneinanderreihung von 30 Begriffsanalysen ausgebreitet – in Buch IV formell als
neue Wissenschaft definiert: „Wissenschaft vom Seienden als seienden und den
ihm an ihm selber zukommenden Bestimmungen“ (1003a 21).
Aber
die Rekapitulation hier im Buch XI unterscheidet sich merklich von der
Ersteinführung im Buch IV – wo vor allem die kategoriale Ontologie mit Wesen
und Akzidenzien programmiert worden ist. Hier wird das Wesen – wieder –
ausgelassen und die Akzidenzien direkt dem Seienden zugeordnet. Das heißt: hier
werden alle Achsen der Ontologie bündig zusammengefasst und die „Akzidenzien“
in einem weiteren Sinn verstanden: Wesen und Akzidenzien, Werden und Vergehen,
Möglichkeit und Wirklichkeit, wahr und falsch, ein- und vielheitlich.
Eine
ungeheure Bündelungskraft (wie sie übrigens am Anfang von Buch X dem Einen als
solchen zugesprochen worden ist) liegt in dieser Reprise und es ist kein
Zufall, dass sie sofort politisch, nämlich erkenntnispolitisch gegen eine Front
aufgestellt wird, die mit zwei Parteien bezeichnet wird. „Dialektik“ und
„Sophistik“ sind nämlich nicht – wie Mathematik und Physik - zwei Disziplinen,
die sich mit Teilaspekten des Seienden beschäftigen. Nein, sie haben ebenfalls
das Seiende überhaupt auf ihre Fahnen geschrieben – doch sie verfehlen den
entscheidenden Punkt, den Aristoteles mit der als-Verdoppelung markiert: das
Seiende als seiendes.
Diese
entscheidende Facette, die den Gegenstand „Seiendes“ repetitiv und reflexiv auf
ihn selber zurückwirft, in ihn selber hineinbohrt und die nur mit einer
Verdoppelung ausgedrückt werden kann – wie lässt sich heute diese Facette
begreifen?
Aristoteles
macht sie hier zum punctum einer inter- bzw. innerphilosophischen
Konfrontation, welche an die Problematik des letzten Postskriptums anschließt.
Diese Konfrontation unterscheidet sich allerdings in Nuancen von derselben
Frontstellung, die Aristoteles im Buch IV (1004b 9ff.) aufgeworfen
hat. Dort wird die Abweichung der Dialektiker und Sophisten darin gesehen, dass
sie den Primat des Wesens verkennen, und deswegen werden sie dann auch noch
moralisch disqualifiziert – ja als Schein-Philosophen abgeurteilt.
Diese
Betrachtung des Seienden als seienden schließt keinen Realitätsbereich aus,
aber sie kapriziert sich auf einen ganz eigenen Gesichtspunkt. Sie betrachtet
alle Dinge in ihrer Seiendheit, welche sich selber in einer weiten Vielfalt
auseinanderlegt, und außerdem betrachtet sie das Seiende selber, sofern es
seiend ist.
Damit
sind genau genommen zwei Themen in Aussicht genommen. Mit dem einen dürfte die
Ontologie gemeint sein, die bisher schon ausführlich entfaltet worden ist – und
mit dem anderen wohl das sogenannte abgetrennte ewige Wesen, nach dem wie neulich
angedeutet die besten Denker suchen.
Aristoteles
kennzeichnet diese beiden Themen in einem Atemzug und mit fast identischem
Vokabular (das in meinen Ohren immer noch fremdartig klingt). Umso wichtiger
ist es, sie auseinanderzuhalten. Wenn man (damit meine ich die heutigen Leser)
bei Aristoteles alles mit allem verwechselt, wird er unverständlich, absurd,
lächerlich.
Walter
Seitter
PS.:
„Entrümpelt
von dem historistischen Unsinn, man dürfe keine zeitgenössischen Begriffe für
die Übertragung antiker Texte verwenden“, hat laut Thomas Meyer Dorothea Frede
die deutsche Fassung der Nikomachischen Ethik von Aristoteles
in ihrer Übersetzung, die 2020 in Berlin erschienen ist.
[1] Ich denke etwa an die von
Johann Amos Comenius ausgehende Pansophie-Bewegung. Siehe Walter Seitter:
Menschenfassungen: 87ff.
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