τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 18. Dezember 2022

In der Metaphysik lesen * Rückblick und Perspektive

14. Dezember 2022

 

Das hiesige Aristoteles-Lesen insgesamt dauert jetzt seit Anfang 2007 an, das hiesige Metaphysik-Lesen seit Anfang 2011, also seit 12 Jahren. Recht viel länger dürfte Aristoteles an diesem Text, dessen schriftliche Überlieferung von derartiger Unsicherheit gezeichnet ist, daß allgemein angenommen wird, er sei vom Autor gar nicht fertigredigiert worden, vielleicht nicht geschrieben haben.

Die im Buch enthaltene Angabe, es handle sich dabei um eine „Theologie“, trifft nur ganz geringfügig zu; die den meisten Platz einnehmende Ontologie wird zwar begrifflich definiert (Anfang von Buch IV), aber nicht auf die Teile begrenzt, in denen sie tatsächlich zur Ausführung kommt. Das Buch enthält zwar zwei längere Listen, eine Aporienliste und ein Begriffsverzeichnis, aber es fehlt ihm eine stimmige Angabe seines Gesamtinhalts.

 

Zur neulich aufgeworfenen Frage, ob Aristoteles Wissenschaft macht oder Philosophie, kann gesagt werden, daß er mit Platon zu denen gehört, die die abendländische Wissensordnung in dem Sinn begründet haben, daß jemand, der Kunsthistoriker ist, aus logischen Gründen notwendigerweise „auch“ Wissenschaftler ist. Speziell ist er Kunsthistoriker, generisch ist er Wissenschaftler. Der logische Aufbau aus Gattung und Art hat sich nun einmal im Abendland und das heißt – vorläufig – weltweit durchgesetzt.

 

Wenn wir Philosophen sind und das zur Kenntnis nehmen, sind wir gewissermaßen „Analytische Philosophen“ (wenn wir wollen).

 

Ich selber bezeichne mich als Philosoph und daher logisch vorrangig als Wissenschaftler. Daß ich mich innerhalb der Philosophie als Physiker bezeichne, Philosophischen Physiker, das ist eine Sache meiner persönlichen und philosophischen Idiosynkrasie.

 

Daß das Buch XIII unvermittelt mit einer hartnäckigen Kritik an der pythagoreischen bzw. platonischen Geometrie- und Algebra-Auffassung einsetzt, bestätigt den Eindruck einer mangelhaften Organisation des dargebotenen Stoffs.

 

Was nun diese Kritik selber betrifft, so habe ich im letzten Protokoll die Ansicht geäußert, ihre Stoßrichtung ziele auf eine Aussage, die weit über die Mathematik hinausgehe. Meine Rede von der „Stoßrichtung“ verdeutlicht dabei etwas, was mit „Kritik“ eigentlich schon gesagt ist: daß nämlich die Aussagen, die auf der Ebene des Kognitiven liegen, auch mit dem Volitiven zu „tun“ haben: sie sind selber Wollungen, Handlungen, Aktionen und sie begnügen sich nicht damit, irgendwelche Aussagen zu kritisieren. Vielmehr affirmieren sie andere schon gemachte Aussagen, nämlich den Aussagenkomplex im Buch XI 1064a 29 – 1064b 14.

 

Darin werden vier bestimmte Wissenschaften – für Aristoteles zählen nur Wissenschaften (mit allerdings sehr unterschiedlichen und grundsätzlich wichtigeren Themen) – aneinander gerückt und in ihrem Verhältnis zueinander festgelegt.

Nämlich die drei theoretischen Wissenschaften (Physik: bewegliche und abgetrennte Dinge; Mathematik: Bleibendes und nicht Abgetrenntes; Theologie: Unbewegtes und Abgetrenntes) und dazu noch die Wissenschaft, die gewissermaßen jenseits der aristotelischen Wissensordnung steht (oder vielmehr in ihrem jenseitigen Diesseits), nämlich die im Buch IV sorgfältig definierte Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die allgemeinste Wissenschaft.

 

Wie verhalten sich diese vier Wissenschaften zueinander? Mit ihren positiven bzw. negativen Eigenschaften gehören die drei ersten logisch gesehen eng zusammen, während die Ontologie alle diese Eigenschaften thematisiert und ordnet. Es sieht so aus, als wäre sie die Metawissenschaft in dem neulich besprochenen Sinn (der übrigens von Alfred Tarski (1901-1983) maßgeblich definiert worden ist).

 

Physik, Mathematik, Theologie bilden eine Reihe. Wenn die Physik als die erste Wissenschaft von den existierenden Dingen und Ursachen sich als unvollständig erweisen sollte, stellt sich die Frage, welche der anderen Wissenschaften als notwendige Ergänzung oder Vollendung in Frage kommt. Die Mathematik mit ihren bekannten Formen und Gesetzen oder aber die Theologie mit einer mehr oder weniger aus der Religion übernommenen Lehre von einer noch höheren Wirklichkeit oder aber die Ontologie mit ihrem Überblick über sämtliche Wirklichkeitsstufen?

Oder etwa eine poietische Wissenschaft als Anleitung zur Anfertigung von vollkommenen Dingen oder eine praktische Wissenschaft zur Verbesserung zwischenmenschlicher Verhältnisse?

 

Wohlgemerkt die beiden zuletzt genannten Möglichkeiten werden von Aristoteles gar nicht, jedenfalls hier nicht, in Erwägung gezogen – da müßte man sich vielleicht bei Nietzsche oder Kant oder ? umschauen.

 

Aristoteles entscheidet sich dann für die sogenannte Theologie, und zwar deswegen, weil sie ihm auf der Linie der Physik zu liegen scheint: beide sind Wissenschaften von real Existierendem. Auf dieser Linie hält er es sogar für angemessen, abermals von „Natur“ zu sprechen: es würde sich dabei um eine „andere Natur“ handeln: eine stofflose, körperlose, unwahrnehmbare. Wohl aber eine denkbare, das heißt eine erkennbare, ja wissbare und höchst gewisse. Ja, um eine denkende Natur. Cogitatio cogitationis. Und um eine begehrbare, bewunderbare, erstrebbare Natur. Ja, um eine permanent lustvolle, eine mangellos begehrende, eine durch und durch sich freuende Natur. Außerdem um eine lebendige. Also um eine ziemlich anthropomorphe (aber ich weiß nicht, ob Aristoteles das gern hören würde).

 

Da es sich dabei um eine frühere Natur handelt, nennt Aristoteles die entsprechende Wissenschaft eine allgemeine Wissenschaft, obwohl sie doch nur von einer einzigen Natur handelt. Aber diese Natur ist derart früher, ursächlich wirksam, Mitursache aller Dinge überhaupt, daß die entsprechende Wissenschaft auch eine allgemeine ist. Frage, welche Wissenschaft die allgemeinere ist: die vom Seienden als Seienden oder diese von der früheren, von der frühesten, also ersten Natur?

 

Diese „andere Natur“ wäre nicht irgendeine andere, nicht eine ganz und gar andere Natur. Sondern eine „Heteronatur“ – eine Steigerung der Natur, eine gesteigerte Natur. Eine Natur mit ungefähr gleichen Eigenschaften, Vorzügen, Leistungen – aber eben gesteigerten.

 

Diese Natur wäre eine suchbare weil schon gesuchte.

 

Gesucht ist sie, da Aristoteles ihre Erkenntnis im Buch I zunächst der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 20) zuordnet, womit er die bescheidenste, die minimalste, aber doch schon ordentliche Bezeichnung wählt.

 

„Gesuchte Wissenschaft“ statt oder als „Metaphysik“.

 

Mit der Bezeichnung als Wissenschaft stellt er sie neben alle schon bekannten Wissenschaften, die vorhin genannten und die anderen.

 

Als „gesuchte Wissenschaft“ stellt er sie unter die schon gegebenen Wissenschaften wie Medizin, Astronomie und so weiter. Sie hingegen muß erst zusammengebastelt, entwickelt, durch Aporien, Irrtümer, Sackgassen, Illusionen hindurch durchgekämpft werden. Sie sollte schließlich, um den Titel „Wissenschaft“ zu verdienen, übersichtlich, kohärent, irgendwie vollständig durchgeführt werden. Auf jeden Fall muß sie erarbeitet werden. Als wir im Buch III die Liste der Aporien gelesen haben, ist uns, wenn wir aufmerksam gelesen haben, aufgefallen, daß Aristoteles darauf insistiert, die Aporien sollten durchquert, durchgearbeitet und so „aufgelöst“ werden, und nicht handstreichartig erledigt werden. Damit hatte sich Aristoteles, trotz seines Verständnisses für die Sklavenhaltung auf die Seite der Arbeitenden gestellt (allerdings der denkenden, also der sehenden, der sagenden und schreibenden Arbeiter).

 

Immerhin setzt die gesuchte Wissenschaft voraus, daß es Suchende gibt. Zumindest den einen, der von gesuchter Wissenschaft spricht bzw. schreibt. Aber der – nämlich Aristoteles – hat zumindest einen gefährlichen illusionären Irrweg schon vermieden. Nämlich den solistischen, monopolistischen und fanatischen, der die gewünschte oder versprochene Erkenntnis allein für sich und von sich beansprucht, allein sich selber als Erkenntnisträger anpreist. Mit dem ersten Satz des Buches werden alle Menschen als Erkenntnissucher behauptet und mit schlichten geradezu kindlichen Beispielen auch an ihre eigenen Erfahrungen erinnert. Der Leser des ersten Satzes darf sich direkt angesprochen fühlen und sich selber fragen, ob es stimmt, daß auch er nach Wissen strebt. Und er wird eingeladen, durch sein Lesen und Weiterlesen die Frage performativ zu bejahen.

 

Womöglich durch hartnäckiges, aber auch geduldiges Lesen mit Weiterfragen, Nachdenklichkeit oder und Gesprächigkeit.

 

Der Protokollschreiber kann, sofern er auch sonst schon philosophisch geschrieben hat, jetzt eine andere, vielleicht banalere, eine niedrigere philosophische Schreibweise erproben. Die es ihm erlaubt, die Nacherzählung philosophischer Lektüre und Lektüregespräche mit anderen Eindrücken und Erfahrungen zu komponieren.

 

Immerhin habe ich am 9. März 2022 die niedrigere Schreibweise des Aristoteles-Protokolls zu einer litaneiartigen Paraphrase seiner Beschreibung des Permanenten Motors (UB) erhoben.

Mag sein, daß da noch weitere postprotokollarische oder paraprotokollarische Schreib- oder Zeichenarbeiten, also Graphiken oder Graphismen, nachgeliefert werden müssen, die das Verständnis der Paranatur, auch ihre Assoziierung mit dem Wort „Gott“, plausibilisieren könnten.

 

An dieser Stelle ein Einschub zu einem real schon existierenden Paraprotokoll. Das ist dasjenige, das Karl Bruckschwaiger seit über einem Jahr zu Hermann von Kärnten anfertigt. Eine Parallelaktion, die ich vorgeschlagen habe, damit die Aristoteles-Lektüre nicht zu schnell „fertig“ wird. Und obendrein liefert sie die Kenntnis von einer ungefähren Aristoteles-Rezeption ungefähr in der zeitlichen Mitte zwischen jenem und uns.)

 

Allerdings wissen diejenigen, die da seit dem Jahre 2011 lesen und diskutieren, daß es nicht leicht ist, das Streben wirklich durchzuhalten. Das Buch macht einem das Lesen nicht leicht. Es endet in einem Höhepunkt oder in einer Kadenz oder in noch einer.

 

Protokolle schreiben und lesen – das ist das Mindeste, was man dazu tun muß, um nicht das Meiste wieder und wieder zu vergessen. Wie zum Beispiel die minimalistische Formel von der „gesuchten Wissenschaft“.

 

Die möglichen Illusionen, Täuschungen und Selbsttäuschungen bestehen darin, daß man sich mit vornehmen Wörtern wie „Philosophie“ oder „Metaphysik“ über die dürren und wenig zusammenhängenden Begriffsanalysen hinwegschwindelt.

 

Buch XIII und XIV warnen davor, auf die denkerischen Möglichkeiten der Mathematik auszuweichen und darin die Erkenntniserfüllung zu sehen, zu der Aristoteles herausfordert und die wohl nicht ohne Mühe und existenzielle Erschütterung zu haben ist. Man muß sich von etwas bewegen lassen, man muß sich selber bewegen. Motivieren, agitieren, agieren. All das ohne die von der Moderne angepriesene Beherrschung der Natur, Weltveränderungsleidenschaft, Allmachtsphantasie und Vermenschlichung von allem und jedem. Innerhalb einer vita contemplativa, die sich mit geringfügigen Handlungsmöglichkeiten begnügt.

 

Andere schon vorliegende Parallelprotokolle sind diejenigen zur aristotelischen Poetik. Diejenigen zur Lektüre der Sonne von Francis Ponge sowie die noch nicht vollendeten zur Lukrez-Lektüre von Michel Serres.

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung: 21. Dezember 2022.

Aristoteles: Metaphysik, Buch XIII, ab 1084b 3

 

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