30. November 2022
Das Protokoll vom letzten Mal hat versucht, anhand der aristotelischen Auseinandersetzung mit der pythagoreischen sowie mit der platonischen Zahlenlehre eine Stoßrichtung zu formulieren, die über die engere Thematik dieser Auseinandersetzung hinausreicht und die vielleicht für die gesamte aristotelische Unternehmmung typisch ja entscheidend ist.
Man darf sich ja fragen, wieso nach den knappen aber dennoch beeindruckenden Ausführungen zur Theologie (XII, 6-10) die Bücher XIII und XIV das theoretische Niveau anscheinend abstürzen lassen und sich hartnäckig in einer bestimmten Kritik festbeißen, die nicht leicht verständlich ist.
Letztes Mal habe ich gemeint, daß Aristoteles damit – wenn auch mehr indirekt bzw. negativ - den Pluralismus seiner Ontologie bekräftigen will, wo schwächere und stärkere, überhaupt unterschiedliche Seinsgrade oder -tropen, nebeneinander zugelassen und behauptet werden.
Sophia Panteliadou hat zu meinen Ausführungen die Frage aufgeworfen, ob meine Rede vom „einai“ als schwächerer Seinsart gegenüber dem „hyparchein“, das ziemlich genau unserem „existieren“ und damit dem aristotelischen „abgetrennt sein“ entspreche, ob nicht diese Rede die aristotelische Auffassung von „einai“ verkürze und insofern entstelle.
Ich glaube, meine diesbezügliche Aussage war unzureichend. „Einai“ besagt nicht eine einfach schwächere Seinsart als „hyparchein“, es deutet auf ein größeres Spektrum von Seinsarten – von schwächeren bis zu stärkeren und überhaupt von mannigfaltigen. Es inkludiert auch die Bedeutung von „hyparchein“ sowie diejenige aller schwächeren, etwa der akzidentellen. Es legt einen flexiblen Charakter der Seiendheit nahe – der in dem berühmten Satz „to on pollachos legetai“ klar ausgedrückt wird.
Es geht also wirklich um das Spezifische der aristotelischen Ontologie.
Und dennoch kann die Stoßrichtung im Buch XIII auch noch einfacher und common sense - näher bestimmt werden.
Als Affirmation derjenigen Wissenschaft, die als die erste Wissenschaft innerhalb der theoretischen Wissenschaften genannt worden ist – und das ist die Physik.
Die Wissenschaft von den wahrnehmbaren, materiellen Dingen. Die abgetrennt, also extra sind, also „existieren“. Die Wichtigkeit der Dinge, auch ihre „Notwendigkeit“ für uns Menschen, die selber solche Dinge sind - also Körper, die hängt die sogenannte Metaphysik mit geradezu eifernder Eindringlichkeit ans Buch XII an. Und zwar in Auseinandersetzung mit Theorien, die den mathematischen Gegenständen eine höhere Seinsweise zusprechen als den gewöhnlichen Dingen.
Die Affirmation der Physik – nach den endlosen Ausführungen zur Ontologie und nach dem kurzen Abriß der Theologie, stört in gewisser Weise den Anspruch des Buches, über die bisherigen Bücher hinauszugehen. Diese Störung rückt jene zurecht.
Wenn diese Lektüre stimmt und wenn der Text auch noch im Buch XIV diese Stoßrichtung aufrechterhält, dann würde das Buch namens Metaphysik nicht nur die angekündigte Theologie relativ kurz ausführen, sie würde nicht nur die erst 2000 Jahre nach ihrer prekären Fertigstellung mit einer eigenen Benennung ausgezeichnete Ontologie einigermaßen ausführlich darstellen, sie würde auch den „Fortschritt“ oder den „Aufstieg“ oder die „Transzendenz“ von der Physik zur Metaphysik von jenem Überschwang freihalten, den das Präfix „meta“ bis heute immer wieder plakatiert (vor kurzem hat man das Universum durch ein sogenannte Metaversum überboten).
Sie würde auch das Schwungrad der Mathematisierung abbremsen, mit dem das Physische auf andere Weise aufgehoben oder ersetzt zu werden droht.
Unser Text bestätigt so eine Sicht.
„Die Pythagoreer jedoch setzen die Zahl mit den Dingen gleich; wenigstens wenden sie ihre Theorien in einem solchen Sinne auf die Körper an, als bestünden diese aus jenen Zahlen. Wenn es nun notwendig ist, daß die Zahl, sofern sie etwas von dem Seienden an sich ist, es in einer der erörterten Weisen ist, wenn sie es aber doch in keiner dieser Weisen sein kann, so ist offenkundig, daß es eben keine derartige Natur der Zahl gibt, wie sie diejenigen aufbauen, die die Zahl als getrennt annehmen.“ (1083b 17ff.)
Er wendet sich gegen die Ansicht, daß die Körper aus Zahlen zusammengesetzt seien.
Auch andere pythagoreische Ansichten führen zu selbstwidersprüchlichen Aussagen.
Eine besonders groteske Vermischung verschiedener Ebenen liegt dort vor, wo unterschiedliche Wesen wie die Arten der Lebewesen jeweils mit einer Zahl identifiziert werden und nur die Zahlen bis zur Zehn dafür in Frage kommen – obwohl doch die Arten der Lebewesen weit mehr sind. Hier wird deutlich, daß solche Theorien die Gesamtrealität einem Schema unterwerfen wollen, das „früher“ ist, das „apriori“ festlegt, was und wie geschieht.
Ein Machtanspruch der Theorie, den Aristoteles weder erhebt noch akzeptiert. Seine Physik ist eine Erfahrungswissenschaft – folglich auch eine diskutierbare und kritisierbare.
Walter Seitter
Wissenswert und schön geschrieben;)
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