τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 10. Juni 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1050a 7 – 1051b 3)



In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1050a 7 – 1051b 3) 


Mit den selbstzweckhaften Tätigkeiten, die zuletzt thematisiert worden sind, hat sich Aristoteles dem Grundbegriff seiner Ethik, nämlich dem Handeln, genähert und das nicht etwa im Rahmen der Ethik oder der Politik,  sondern von seiner Ontologie aus.

Diese Ontologie, die ja ab Buch IV ausdrücklich begründet wird, umfasst bisher folgende Schwerpunkte: Substanz und Akzidenzien, Entstehen und Vergehen, Möglichkeit und Wirklichkeit – und im Zuge dieses Abschnitts kommt er aufs Handeln.

Zum Begriff des Handelns sei hier in Klammern angemerkt, dass er von Hannah Arendt in dem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben sehr eingehend untersucht und mit der Arbeit und dem Herstellen konfrontiert worden ist. In einer anderen Konstellation wird das Handeln von Alice Pechriggl thematisiert. Sie stellt es dem Agieren gegenüber, welchen Begriff sie hauptsächlich Sigmund Freud entlehnt. Unter dem Agieren versteht sie spontanes Verhalten, das unterschiedlichste Wirkungen zeitigt; während Handeln als überlegendes Entscheiden, kooperatives Verhalten, in der Politik als Kombination aus Selber-regieren und Sich-von- anderen-regieren-lassen erscheint. Pechriggls Buch heißt Agieren und Handeln: Studien zu einer philosophisch-psychoanalytischen Handlungstheorie, sie hat es am 15. April 2019 in der Weinhandlung VINOE vorgestellt.

Obwohl unserer Erfahrung gemäß den Verwirklichungen zumeist Möglichkeiten vorausgehen, behauptet Aristoteles, dass in einem weiteren Sinn den Möglichkeiten immer Verwirklichungen vorausgehen müssen. Und diese These radikalisiert er nun mit der „metaphysisch“ klingenden These, dass es vor den vergänglichen Dingen, die aus Wirklichkeit und Möglichkeit zusammengesetzt sind, immer schon ewige Dinge gibt, die nur aus Wirklichkeit bestehen. Was sind nun diese „ewigen Dinge“? Die Sonne, die Gestirne, der ewige Himmel. Also Körper, die uns ständig vor Augen stehen oder vielmehr sich ewig bewegen.

Aristoteles springt also von seinen eher anthropologischen Ausführungen in die Kosmologie hinein. Nicht aus irgendeinem Bedürfnis nach Differenz oder Abwechslung heraus, sondern um seiner These von der Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.

Anthropologie und Kosmologie sind zwei Bereiche der Realität, vielleicht gibt es noch mehrere davon – und diese Mannigfaltigkeit ist nicht diejenige der Ontologie, die „das Seiende“ in Seinsmodalitäten differenziert (wie eben Möglichkeit und Wirklichkeit).

Können wir uns heute mit der Ansicht, dass die Himmelskörper ewig sind, anfreunden?  Vielleicht doch nur, indem wir sie relativ zu unserer menschlichen und irdischen Vergänglichkeit als viel beständiger einschätzen.

Und Aristoteles beruhigt diejenigen, die gehört haben, dass der eine oder andere Naturphilosoph fürchtet, diese ewigen Bewegungen könnten aufhören und die Welt zu Stillstand erstarren. Für Aristoteles vollziehen jene Himmelskörper ihre Bewegungen so mühelos, da sie nicht durch die Möglichkeit zur Nicht-Bewegung belastet sind. Er „idealisiert“ also den Himmel in eine andere Körperqualität hinein. Es scheint, dass jene Naturphilosophen die qualitative Homogenität des Universums schon in Betracht gezogen haben.

Und der folgende Satz scheint ebenfalls an dieses Problem zu rühren – allerdings auf vertrackte Art.

„Die unvergänglichen Dinge aber ahmen auch die sich verändernden Dinge nach, wie etwa Erde und Feuer.“ (1051a 29) Dass das Nachahmungsverhältnis tatsächlich so verläuft, ist eher unwahrscheinlich; diese Übersetzung von Franz F. Schwarz würde die Hierarchie zwischen den Himmelskörpern und den Elementen umkehren bzw. der Übersetzer scheint so eine platonisierende Hierarchie hier nicht am Werk zu sehen. Wieso aber dann die Rede von Nachahmung? Andere Übersetzer wie Bonitz, Seidl, Sachs bleiben bei der Annahme der Hierarchie, der zufolge die Elemente die Himmelskörper „nachahmen“.

Es folgt noch ein Seitenhieb auf die Platoniker, die Ideen annehmen und damit etwas, was wissender ist als die Wissenschaft oder bewegter als die Bewegung. Damit aber stellen sie Vermögen über die Verwirklichungen. Hier scheint Aristoteles die platonische Konzeption der Idee der modernen bzw. der banalen Konzeption von „Idee“ anzunähern: „Idee“ als subjektive Vorstellung von Möglichkeit.

Dass etwas wissender ist als die Wissenschaft, könnte vielleicht sogar Aristoteles behaupten. Er würde aber nicht eine Idee namhaft machen, sondern eine andere Verwirklichung wie etwa die Weisheit oder die Poesie (und so hat er sich auch wirklich geäußert – nämlich in der Poetik).


PS.: Wie ich gerade erfahre, ist am 4. April der Astronom und Philosoph Thomas Posch verstorben. Er hat den eben erwähnten Übergang vom Menschlichen zu den Gestirnen professionell realisiert und ihn für das Buch „Sehen und Sagen“ in einem Beitrag über das Funkeln der Sterne resümiert, wobei er dieses Funkeln nicht nur als Erscheinung für uns, sondern überraschenderweise auch als Wahrheit an sich interpretiert.


Seminarsitzung vom 22. Mai 2019

Nächste Sitzung am 19. Juni 2019

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