In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1050a 7 – 1051b 3)
Mit den selbstzweckhaften Tätigkeiten, die zuletzt thematisiert worden
sind, hat sich Aristoteles dem Grundbegriff seiner Ethik, nämlich dem Handeln, genähert
und das nicht etwa im Rahmen der Ethik oder der Politik, sondern von
seiner Ontologie aus.
Diese Ontologie, die ja ab Buch IV ausdrücklich begründet wird, umfasst
bisher folgende Schwerpunkte: Substanz und Akzidenzien, Entstehen und Vergehen,
Möglichkeit und Wirklichkeit – und im Zuge dieses Abschnitts kommt er aufs
Handeln.
Zum Begriff des Handelns sei hier in Klammern angemerkt, dass er von Hannah
Arendt in dem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben sehr
eingehend untersucht und mit der Arbeit und dem Herstellen konfrontiert
worden ist. In einer anderen Konstellation wird das Handeln von Alice Pechriggl
thematisiert. Sie stellt es dem Agieren gegenüber, welchen Begriff sie
hauptsächlich Sigmund Freud entlehnt. Unter dem Agieren versteht sie spontanes
Verhalten, das unterschiedlichste Wirkungen zeitigt; während Handeln als
überlegendes Entscheiden, kooperatives Verhalten, in der Politik als
Kombination aus Selber-regieren und Sich-von- anderen-regieren-lassen
erscheint. Pechriggls Buch heißt Agieren und Handeln: Studien zu einer
philosophisch-psychoanalytischen Handlungstheorie, sie hat es am 15. April
2019 in der Weinhandlung VINOE vorgestellt.
Obwohl unserer Erfahrung gemäß den Verwirklichungen zumeist Möglichkeiten
vorausgehen, behauptet Aristoteles, dass in einem weiteren Sinn den
Möglichkeiten immer Verwirklichungen vorausgehen müssen. Und diese These
radikalisiert er nun mit der „metaphysisch“ klingenden These, dass es vor
den vergänglichen Dingen, die aus Wirklichkeit und Möglichkeit zusammengesetzt
sind, immer schon ewige Dinge gibt, die nur aus Wirklichkeit bestehen. Was sind
nun diese „ewigen Dinge“? Die Sonne, die Gestirne, der ewige Himmel. Also
Körper, die uns ständig vor Augen stehen oder vielmehr sich ewig bewegen.
Aristoteles springt also von seinen eher anthropologischen Ausführungen in
die Kosmologie hinein. Nicht aus irgendeinem Bedürfnis nach Differenz oder
Abwechslung heraus, sondern um seiner These von der Priorität der Wirklichkeit
vor der Möglichkeit die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.
Anthropologie und Kosmologie sind zwei Bereiche der Realität, vielleicht
gibt es noch mehrere davon – und diese Mannigfaltigkeit ist nicht diejenige der
Ontologie, die „das Seiende“ in Seinsmodalitäten differenziert (wie eben
Möglichkeit und Wirklichkeit).
Können wir uns heute mit der Ansicht, dass die Himmelskörper ewig
sind, anfreunden? Vielleicht doch nur, indem wir sie relativ zu
unserer menschlichen und irdischen Vergänglichkeit als viel beständiger
einschätzen.
Und Aristoteles beruhigt diejenigen, die gehört haben, dass der eine oder
andere Naturphilosoph fürchtet, diese ewigen Bewegungen könnten aufhören und
die Welt zu Stillstand erstarren. Für Aristoteles
vollziehen jene Himmelskörper ihre Bewegungen so mühelos, da sie
nicht durch die Möglichkeit zur Nicht-Bewegung belastet sind. Er „idealisiert“
also den Himmel in eine andere Körperqualität hinein. Es scheint, dass jene
Naturphilosophen die qualitative Homogenität des Universums schon in Betracht
gezogen haben.
Und der folgende Satz scheint ebenfalls an dieses Problem zu rühren –
allerdings auf vertrackte Art.
„Die unvergänglichen Dinge aber ahmen auch die sich verändernden Dinge
nach, wie etwa Erde und Feuer.“ (1051a 29) Dass das Nachahmungsverhältnis
tatsächlich so verläuft, ist eher unwahrscheinlich; diese Übersetzung von Franz
F. Schwarz würde die Hierarchie zwischen den Himmelskörpern und den Elementen
umkehren bzw. der Übersetzer scheint so eine platonisierende Hierarchie
hier nicht am Werk zu sehen. Wieso aber dann die Rede von Nachahmung? Andere
Übersetzer wie Bonitz, Seidl, Sachs bleiben bei der Annahme der Hierarchie, der
zufolge die Elemente die Himmelskörper „nachahmen“.
Es folgt noch ein Seitenhieb auf die Platoniker, die Ideen annehmen und
damit etwas, was wissender ist als die Wissenschaft oder bewegter als die
Bewegung. Damit aber stellen sie Vermögen über die Verwirklichungen. Hier
scheint Aristoteles die platonische Konzeption der Idee der modernen bzw. der
banalen Konzeption von „Idee“ anzunähern: „Idee“ als subjektive Vorstellung von
Möglichkeit.
Dass etwas wissender ist als die Wissenschaft, könnte vielleicht sogar Aristoteles
behaupten. Er würde aber nicht eine Idee namhaft machen, sondern eine
andere Verwirklichung wie etwa die Weisheit oder die Poesie (und so hat er sich
auch wirklich geäußert – nämlich in der Poetik).
PS.: Wie ich gerade erfahre, ist am 4. April der Astronom und Philosoph
Thomas Posch verstorben. Er hat den eben erwähnten Übergang vom Menschlichen zu
den Gestirnen professionell realisiert und ihn für das Buch „Sehen und Sagen“
in einem Beitrag über das Funkeln der Sterne resümiert, wobei er dieses Funkeln
nicht nur als Erscheinung für uns, sondern überraschenderweise auch als
Wahrheit an sich interpretiert.
Seminarsitzung vom 22. Mai 2019
Nächste Sitzung am 19. Juni 2019
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen