In der
Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1032a 27 – 35
Der französische Philosoph Bernard
Sichère, der vor einigen Jahren eine Neuübersetzung der aristotelischen Metaphysik vorgelegt
hat, hat jetzt mit Aristote au soleil de l’être eine Studie
publiziert, in der er von der Verblüffung berichtet, die ihm der Philosoph in
seinen späten Jahren bereitet habe.
Technischer nähert sich der
Philosophiehistoriker Alain de Libera der Frage nach dem Umgang mit alten
philosophischen Texten: ist es notwendig, diese Texte mit neuen Wörtern zu
besprechen? Titel seines Buches: L’archéologie philosophique. Séminaire du
Collège de France 2013-14 (Paris 2017).
Die Frage aus dem letzten Protokoll,
in welchen Realitätsbereich – Natur oder Kunst (Kultur) – die Philosophie
eingeordnet werden könnte, wird versuchsweise so beantwortet: wenn
Philosophie als eine menschliche Tätigkeit verstanden wird, dann fällt sie wohl
unter techne, also Kunst (Kultur). Bei näherer Umschau stellt sich
heraus, dass das für Aristoteles gar nicht sicher ist. In dem nur
vermutungsweise aristotelischen Protreptikos werden Philosophie und techne
nach ihren jeweiligen Wissensformen unterschieden, da die eine auf
unveränderliche Prinzipien gerichtet sei, die andere auf die veränderliche
Natur. Also zwei Formen von theoria. Außerdem umfasst das
menschliche Tun nicht nur das von der techne abhängige poiein,
sondern auch die mit den Tugenden verbundene praxis.
Die beiden Einwände stellen
allerdings die in unserem Text enthaltene Auffassung in Frage, wonach physis
und techne alle Bereiche des Entstehens abdecken.
Alle Entstehungen, die nicht zur
Natur gehören, werden nun als Bewirkungen (poieseis) der Kunst oder der
Fähigkeit (Vermögen) oder der Überlegung zugeordnet. Die Frage ist, ob
Aristoteles nun seine kurz zuvor gegebene Bestimmung – Entstehungen entstammen
der Natur oder Kunst – modifiziert, oder ob er mit Fähigkeit bzw. Überlegung
nur die Kunst erläutert. Das doppelte „oder“ legt die erste Annahme nahe und
könnte darauf hinauslaufen, dass neben der Kunst auch das Handeln und die
Wissenschaft gemeint sind; der Kontext und die Parallelstelle Met. VI, 1025b
22ff. sprechen eher für die zweite Annahme, also für eine feste Zuordnung von techne
und poiesis (die uns ja in der Wissenschaftsklassifikation schon
begegnet war).
Der folgende Satz erweitert die
natürlichen und künstlichen Entstehungen bzw. Bewirkungen durch spontane und
tychische, die ähnlich (oder fast ebenda) vorkommen (wobei die aristotelische
Satzkonstruktion so verdichtet ist, dass das Verhältnis zwischen den vier
Möglichkeiten nicht ganz klar wird).
Automaton und tyche werden im Zweiten Buch der Physik ausführlich erklärt
und zwar als zwei zusätzliche Verursachungsweisen – zusätzlich zu Natur und
Kunst beziehungsweise in den Bereichen von Natur und Kunst aber ohne deren
Wesensgesetzlichkeit. Zusätzlich auch im Sinn von „zufällig“ und akzidenziell,
während die Verursachungen in Natur und Kunst jeweils von entsprechenden Wesen
ausgehen (und daher intelligibler sind). Dabei steht die spontane Entstehung
der Natur näher, wie der berühmte Fall der „spontanen Zeugung“ zeigt: ein
Lebewesen geht aus etwas hervor, was nicht wesensgleich mit ihm ist, also nicht
aus dem Samen eines artgleichen Lebewesens. Die tychische Entstehung
kommt vornehmlich im Bereich des poietischen und praktischen, also menschlichen
Tuns vor: ein Zufall verändert die Situation.
Wir fragen uns, ob der Zufall auch in
der Kunst (im engeren also modernen Sinn des Wortes) eine Rolle spielt, und
stellen fest, dies treffe für manche Richtungen der modernen Kunst (im engsten
Sinn) tatsächlich zu. Mit seinem Begriff des Tychischen scheint also
Aristoteles eine Kunst zuzulassen, die seinem strengen Begriff von Kunst nicht
entspricht: denn deren Form muss in der Seele (wohl des Künstlers) gewesen
sein. Form oder „erste Wesen“. Diese Begriffsverwendung dreht die
Unterscheidung von erster und zweiter Substanz in der Kategorienschrift um:
jetzt ist das „erste Wesen“ die in der Seele vorausgesetzte Form. Eine psychologisierende
Platonisierung?
Walter Seitter
Sitzung vom 17. Jänner 2018
Nächste Sitzung am 24. Jänner 2018
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