5. März 2018
Im letzten Protokoll habe ich versucht, die
„Zweideutigkeit“ des aristotelischen Substanz-Begriffs unter der Etikettierung
der Kategorienschrift anzuschreiben. Diese Zweideutigkeit besteht darin, dass
das Individuelle und das Allgemeine in den einen Begriff der ousia zusammengerückt
werden – dass sie aber begrifflich doch unterscheidbar bleiben. Im Buch VII der
Metaphysik heißen die beiden Versionen der ousia nicht mehr Erste
Substanz und Zweite Substanz sondern „Das-da“ und „Was-ist“ – Aristoteles
entschließt sich also zu einer viel umgangssprachlicheren Terminologie. Und
zeigt damit auch, dass Terminologien einerseits notwendig sind, andererseits
aber austauschbar und eventuell verbesserbar.
Am letzten Samstag hat der deutsche Soziologe Andreas
Reckwitz in der Wiener Zeitung ein Gespräch geführt, in dem er die Thesen
seines letzten Buches Die Gesellschaft der Singularitäten (Berlin 2018)
erläutert – und zwar unter dem Titel „Es gibt eine Krise des Allgemeinen“.
Mit „Singularitäten“ will er sagen, dass in der
gegenwärtigen Gesellschaft die Individualisierung bzw. die Forderung nach ihr
sich steigern – sei es auf der Ebene der persönlichen Leistungen oder auf
derjenigen der Produktqualitäten in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.
Man begnügt sich nicht mehr mit der Einordnung in herkömmliche Klassifikationen
oder mit dem Einhalten gängiger Standards – sondern strebt nach
„Einzigartigkeit“.
Das Allgemeine gerät unter den ästhetischen Verdacht des
Gewöhnlichen und Langweiligen oder aber unter den politischen Verdacht von
Anpassung und Gleichschaltung, Ausmerzung der Differenzen. Man meint ein Recht
auf Besonderheit zu haben und durchsetzen zu müssen. Auf der anderen Seite
kippt das Verlangen nach Einzigartigkeit leicht in Überforderung oder es
schlägt in Personenkult um, wo sachliche Zugehörigkeiten keine Rolle mehr
spielen. Tatsächlich geht es dann nur noch um superlativische Steigerungen von
bestimmten Qualitäten, die als solche kaum noch interessieren.
Reckwitz bezieht sich damit auf den Bereich menschlicher
Leistungen oder Erfolge, in dem nur noch Superlative zu zählen scheinen.
Es gibt eine spezielle Wortart, besser gesagt eine
Subspezies der Wortart „Substantiv“, sie heißt „Singularetantum“ – und diese
Wörter sind nur im Singular gebräuchlich. Meine lange Erfahrung hat mich
gelehrt, dass die deutsche Sprache eine besondere Neigung hat, wichtigen
Wörtern den Plural zu verbieten. So dem Wort „Glück“. Vor kurzem haben zwei
französische Autoren dafür plädiert, das Glück, aber auch das Andere und das
Ganz-Andere in den Plural setzen zu können: Marc Augé und François
Jullien. Damit werden solche Wörter Allgemeinbegriffe.
François Jullien hat die Problematik des Allgemeinen in
bezug auf die Kulturen ausführlich erörtert und er konstelliert diesen Begriff
mit dem Einförmigen, mit dem Abstrakten, mit dem Ähnlichen, mit dem
Gemeinsamen. Ebenso zahlreich sind die Gegenbegriffe: das Einzelne, das
Besondere, das Singuläre, das Identische. Seine diesbezüglichen Bücher: Das
Universelle, das Einförmige, das Gemeinsame und der Dialog zwischen den Kulturen
(Berlin 2009); „Es gibt keine kulturelle Identität“. Wir verteidigen die
Ressourcen einer Kultur (Berlin 2017)
Mit Bezug auf einen anderen Realitätsbereich hat Bruno
Latour in eine ähnliche Debatte eingegriffen. „Speziezismus“ nennt man die
Diskriminierung bzw. Andersbehandlung bestimmter Arten von Lebewesen
aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. Latour behauptet nun in Le Monde vom 5.
März 2018, dass eine Kritik daran sich ins Absurde verirrt, wenn sie bestimmte
Arteigenschaften, etwa die Verspeisung von Gazellen durch Löwen, leugnet oder
abschaffen will. Gegen einen derartigen „Antispeziezismus“ setzt er einen
„Multispeziezismus“ – womit Überlegungen innerhalb der menschlichen Spezies
über ihre Nahrungsbeschaffung nicht präjudiziert sind; denn Überlegen ist eine
menschliche Fähigkeit. (Yves Bonnardel, Thomas Lepeltier, Pierre Sigler: La
révolution antispéciste (Paris 2018))
Ordnet man die Phänomene mit Begriffen nach einem Schema
von Gattung, Art, Individuum, so heißt das nicht – sie vergewaltigen. Allerdings
sind die taxonomischen Schemata nicht unveränderlich.
Walter Seitter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen