τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 2. November 2011

In der Metaphysik lesen (985b 22 – 986a 11)


Die Ursachen-Annahmen oder -Theorien der Pythagoräer werden von Aristoteles relativ klar resümiert: die Pythagoräer behaupten, sie sehen Ähnlichkeiten zwischen den Zahlen und ihren Harmonien einerseits und den empirischen Phänomenen der Welt andererseits: solchen Phänomenen wie Gerechtigkeit, Seele, Augenblick, Himmelskörper – also sehr unterschiedlichen Phänomenen (Aristoteles spricht vom Seienden und Entstehenden). Dieser – man könnte sagen induktive oder empirische - Erkenntnisweg führt von den Wirkungen zu den Ursachen (die allerdings als Sachen schon bekannt sein müssen). Sehen und Vergleichen, Ähnlichkeiten sehen: nach Aristoteles muß auf das Sehen das Resümieren und Korrelieren folgen. Man kann bzw. soll da auch eine materialistische Ebene einziehen: zum Sehen muß das Sagen kommen: das Formulieren, sei es das diskussive oder das notative.

Es geht auch hier darum, was das ist: Wissenschaft machen. Und ich ergänze das, was Aristoteles dazu sagt, ein bißchen materialistisch, aristotelisch gesprochen: physikalisch. Physik der Wissenschaft: welche „Teile“, Bestandteile, gehören dazu, auch welche Tätigkeiten. Wissenschaft ist ein Komplex oder ein Feld von Tätigkeiten – und dann womöglich ein Komplex von Ergebnissen, die ihrerseits in Aussagen bestehen (welche überwiegend sprachlicher Art sind).

Den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft bringt Aristoteles zum Ausdruck, indem er von den Pythagoräern sagt: „Und wenn etwas fehlte, fügten sie etwas hinzu, damit ihre ganze Theorie geschlossen sei.“ (986a -7) Das Tätigkeitsmoment „hinzufügen“ impliziert, daß Wissenschaft nicht unbedingt (vielleicht gar nicht) in einem Augenblick, mit einem Schlag gemacht wird: weder als totale Vision noch als einmalige Schöpfung – ein für alle Mal. Sondern eine Tätigkeit, die bestimmte Ziele anpeilt, verbunden mit Reflexion und Kontrolle über das Erreichen oder Nicht-Erreichen der Ziele und dementsprechend mit Fortsetzung oder Modifizierung der Tätigkeit.

Allerdings steht im Griechischen hier gar nicht das Wort „Theorie“ – sondern beinahe das Gegenteil davon: pragmateia. Und das heißt: Beschäftigung, Unternehmung, Arbeit, Studium. Mit pragmateia bringt Aristoteles den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft geradezu schlagartig-metaphorisch zur Darstellung: er setzt einfach das Wort „Tätigkeit“ oder „Pragmatik“ für Wissenschaft, Theorie, Forschung. Er ersetzt durch diese Benennung „Wissenschaft“ durch – „Machenschaft“. „Machenschaft“ war das schon ziemlich polemische Prädikat, das Heidegger der Wissenschaft zugesagt hat. Die Pragmatisten und Heidegger – beides haben wir in diesem aristotelischen Satz mit dem Wort pragmateia – das auf die Pythagoräer gemünzt ist.

Und zwar spricht er nun von dem zweiten Erkenntnisweg, der von den Ursachen ausgeht, um über die Wirkungen etwas zu sagen. Man könnte sagen: der deduktive oder „theoretische“ (im engeren Sinn) Erkenntnisweg. Die angenommene Ursache ist die Vollkommenheit und zahlentheoretische Wesentlichkeit der Zahl Zehn. Die Vollkommenheit weist darauf hin, daß die oben schon genannte „Harmonie“ bei den Pythagoräern doch nicht rein deskriptiv so etwas wie „Proportion“ heißt, sondern daß etwas Optativ-Normatives damit verbunden ist. Und die Wesentlichkeit der Zahl Zehn haben die Pythagoräer in der Figur der Tetraktys dargestellt, welche den Anfang der Zahlenreihe als  gleichseitiges Dreieck zeichnet.

Aber das Beispiel der Schlußfolgerung von der Zahl Zehn (Ursache) auf die Zahl der Planeten (Wirkung), das Aristoteles referiert, zeigt, daß die Pythagoräer es mit ihrem Sagen und mit ihrem Machen sozusagen übertreiben: sie „machen“ einen zehnten Himmelskörper. Der Aktionismus der Theorie versteigt sich zu einem Konstruktivismus, den man nun irrig oder mutig nennen kann ...

Interessant, daß Aristoteles bzw. die Pythagoräer den erfundenen zehnten Himmelskörper antichthon nennen: daß sie ihn also nicht in weitester Ferne etwa als Meta-Saturn ansetzen, sondern sehr „geozentrisch“ von der Erde aus benennen. Aber auch nicht als antigaia. Das Element Erde wird mit dem ganz und gar irdischen Wort für Erde benannt: chthon.

Die heutige Wissenschaftliche Physik ist genauso spekulations- und konstruktionsfreudig wie die pythagoräische seinerzeit: sie redet von „Antimaterie“, „Dunkle Materie“, „Dunkle Energie“ ...

Walter Seitter

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