τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 20. Oktober 2011

In der Metaphysik lesen (985a 10 – 985b 4)


Wir lesen gerade in der aristotelischen Theorie-Genealogie zu seiner eigenen „gesuchten Wissenschaft“. Er resümiert einige seiner Vorgänger, beurteilt ihr Vorgehen, verteilt Noten, die nicht sehr gut ausfallen. Er kommt noch einmal auf Anaxagoras und Empedokles zu sprechen. Anaxagoras habe den nous als Ursache für die „Weltherstellung“ angeführt – aber mehr aus Verlegenheit und ohne hinreichende Erklärung. Dieses Vorgehen benennt Aristoteles metaphorisch mit mechane – womit die Theatermaschine gemeint ist, mit der ein Gott, ein göttliches Eingreifen, herbeigezaubert bzw. maschinell vorgespielt wird: deus ex machina (985a 18). Mit diesem Vergleich wird eine bestimmte Vorgehensweise – hier eine theoretische – charakterisiert und gleichzeitig qualifiziert. Da der Vergleich aus dem Theaterwesen genommen ist, braucht es uns nicht wundern, daß diese Theatertechnik in der Schrift über die Dramendichtung, also in der Poetik, ebenfalls genannt wird: 1454a 3. Und dort wird diese Technik gar nicht gelobt: sie kommt zum Einsatz, wenn der plot der Tragödie die „richtige“ Verknüpfung zwischen den Geschehnissen nicht zustandebringt: wenn sich eine Episode nicht direkt aus der vorhergehenden Episode, die Geschehnisse nicht aus den Geschehnissen ergeben – und zwar verständlich, schlüssig („notwendig oder wahrscheinlich“). In so einem Fall muß das Drama einen außerordentlichen und übermächtigen Eingriff einbauen, der nur mit einer übermächtigen materiellen Technik, etwa einem Kran oder sonst einer special effect-Maschine bewältigt werden kann. Aristoteles kann darin nur eine Notlösung sehen, eigentlich eine dramaturgische Schwäche. In der Theorie ist ein solches Vorgehen, ein damit vergleichbares Vorgehen, noch unqualifizierter: denn da sind die Erfordernisse von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, von Einsichtigkeit und Schlüssigkeit, noch strenger.

Der Vergleich mit der Theatermaschine bedeutet für Anaxagoras, für seine Einführung der Weltursache „Geist“ ein vernichtendes Urteil. Sind damit alle Theorien, die so eine Ursache einführen, schon disqualifiziert? Nicht unbedingt: Aristoteles hat oben die Einführung des nous unter bestimmten Voraussetzungen anders beurteilt.

Mit seiner weitgehenden Ablehnung der Theatermaschine distanziert sich Aristoteles einigermaßen vom griechischen Theaterbetrieb, der mit solchen Techniken sowohl der Götterverehrung wie der Schaulust entgegenkommen wollte (im Griechischen sind die Wörter für „Schau“ und „Göttin“ buchstäblich gleich).

Damit rühren wir auch an die Frage, wie Aristoteles sich überhaupt zur Götterverehrung seiner Zivilisation gestellt hat. Deren offizielle Hauptorte waren ja die Tempel – und die kann man in ihrer imposanten Größe und ihrem reichen Bilderschmuck durchaus mit dem Aufwand und der Leistung der Theatermaschine vergleichen. Der Tempel ist eine auf Dauer gestellte Theatermaschine, die den Gott auf Dauer aufstellt: ein stabiles und mächtiges Dauertheater, nachhaltige Gottesbühne. Mit seiner Höhe von fünfzehn oder zwanzig Meter übertrifft er wohl die Höhe der Gotteserscheinung auf dem Theater. Wenn da ein Gott fünf oder zehn Meter hoch erscheinen soll, wird der Kran etwas höher sein müssen: wie das Dach höher ist als die Säulen oder der Fries über den Säulen. Ein Tempel ist ein außerordentlich aufwendiges Gestell, das notwendig erscheint, damit ein Gott einigermaßen angemessen, nämlich außerordentlich erscheinen, existieren kann.

So wird ein Gott „künstlich“ und „gewaltsam“ in die Welt eingeführt. Heißt das, daß so etwas wie Religion nur derart, mit diesen Mitteln möglich ist? Selbst wenn das der Fall wäre, wäre ein so eingeführter, zur Existenz gebrachter Gott, als „theoretische“ Größe, als „Ursache“ in einem kognitiven Zusammenhang keineswegs akzeptabel – eher wäre das Gegenteil der Fall.

Dann geht Aristoteles auf Empedokles ein und kommt da noch einmal auf Streit und Liebe als Ursachen zurück: diesmal als Ursachen für physische Bewegungsrichtungen nämlich Verbindung und Trennung (985a 25ff.) – was uns vorkommt wie anthropomorphe Ursachen für Wirkungen, die anderer Art sein können. Derartige Wirkungen kennen wir in der Physik als Gravitation (Anziehung) und Expansion (des Universums) – allerdings scheinen diese beiden Phänomene unterschiedlichen Formaten anzugehören. Des weiteren geht er noch einmal auf die Elementenlehre des Empedokles ein, die auf eine Vermehrung der Ursachen hinausläuft; allerdings habe er die vier Elemente doch als eine Zweiteilung aufgefaßt: einerseits Feuer, andererseits Erde, Luft und Wasser zusammen. Dies ergebe sich bei genauer Betrachtung seines Textes (985b 3). Schwarz übersetzt mit „Verse“; im griechischen steht da epe – d. h. Wörter, Verse, epischer Hexameter. Damit formuliert Aristoteles das Grundprinzip der Hermeneutik: genau hinschaun.

Außerdem verweist die Stelle auf Poetik 1447b 15ff., wo Aristoteles die übliche Vorstellung abwehrt, wer Verse macht, sei deswegen auch schon Dichter. Er nennt da Homer und Empedokles, die beide Hexameter geschrieben haben: doch nur der eine sei als Dichter zu bezeichnen, denn er habe Handlungen dargestellt, der andere hingegen sei ein „Physiologe“, also Naturkundler oder Naturforscher. Wer etwas Medizinisches oder etwas Physisches in Versen abhandle, sei Mediziner oder Physiker, keineswegs Dichter. Damit wird übrigens Empedokles – wohl entsprechend seinem Selbstverständnis – in die Disziplin der Physiologie oder Physik eingerückt. In unserem Buch hingegen wird er als Vorläufer einer anderen, der „gesuchten“ Wissenschaft, behandelt – die dann später, aber nicht von Aristoteles, „Metaphysik“ genannt worden ist. Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, daß der Status der gesuchten Wissenschaft noch äußerst unsicher ist: sogar ihre Abgrenzung gegenüber der sehr traditionellen Naturkunde ist ungewiß.

Eine ganz andere aber eng zusammenhängende Frage ist damit auch berührt: die Textsorten in der Philosophie, worüber Otfried Höffe in der FAZ vom 1. Oktober 2011 geschrieben hat: Lehrgedicht (Empedokles), Dialog (Platon), Abhandlung (Aristoteles), Essay (Montaigne), Aphorimus (Pascal) ...

Walter Seitter

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