τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 26. Februar 2017

Das "Gute" | Erkenntnismöglichkeiten für die Qualität "gut"

Beim Vortrag vom 20. Februar 2017 über "Grillparzers philosophischer Hintergrund, Grillparzers Ästhetik, Grillparzer als Philosophie-Katalysator" hat sich als Hauptthema die Tatsache herauskristallisiert, daß Österreich jahrhundertelang ein Land ohne Philosophen war und daß sich erst nach der Revolution von 1848 professionelle Philosophen etablieren konnten, wozu Grillparzer lateral oder marginal beigetragen haben könnte.

Von  Wittgensteins Bemerkung zu Grillparzer (über die Wahrheit aufseiten des Unwahrscheinlichen) geht J. C. Nyiri (Gefühl und Gefüge. Studien zum Entstehen der Philosophie Wittgensteins, Amsterdam 1986) zur Kritik über, die Wittgenstein an Moritz Schlicks Ethik übt, in der gesagt worden war: Gott befiehlt das Gute deshalb, weil es gut ist. Dagegen Wittgenstein: "Gut ist, was Gott befiehlt."

Hier liegen zwei diametral entgegengesetzte Ansichten vor, die in der Geschichte des Denkens auch schon lange davor diskutiert worden sind - etwa zwischen dem Rationalismus eines Thomas von Aquin und dem Voluntarismus eines Duns Scotus.

Wittgenstein stellt den Willen Gottes über die Qualität des Guten, er macht diese von einem Willen abhängig, von einer personalen  Autorität.

Ganz anders Schlick, der es wagt, eine bloße Qualität unabhängig von einer höchsten Autorität einmal vorauszusetzen. Dieser höchsten Autorität bleibt dann nichts übrig, wenn sie befehlen will, als die vorausgesetzte Qualität anzuordnen, ihr zur Durchsetzung zu verhelfen. 

Die Position von Schlick ist auch dann verständlich, wenn die Existenz Gottes in Frage gestellt wird. An die Stelle dieses Befehlenden können auch andere Autoritäten gesetzt werden: König, Parlament, Gericht. Innerhalb einer staatlichen Ordnung sind die Entscheidungen solcher Instanzen anzuerkennen, als gültig und richtig zu akzeptieren.  Ob sie wirklich als gut anzunehmen  sind, hängt jedoch davon ab, ob es Erkenntnismöglichkeiten für die Qualität "gut" gibt.

Diese Erkenntnismöglichkeiten scheint Schlick vorauszusetzen, obwohl man das ihm als einem Positivisten kaum zutraut. 

Unabhängig davon würde ich sagen, die Qualität oder vielmehr die Qualitäten, die mit dem Wort "gut" ausgedrückt wird bzw. werden, sind erkennbar. Das heißt nicht: jederzeit mit einem Schlag schon klar. Wohl aber können sie empfunden und gespürt werden, sie müssen aber auch praktiziert, auch artikuliert, besprochen, hin und her diskutiert werden. Häufig wird diese Qualität nur ex negativo  empfunden werden - aber dann umso stärker und fordernder. Es handelt sich nämlich beim Guten um eine fordernde, eine normative, eine anrufende Qualität.  Diese Rede suggeriert nun doch wieder etwas Personales, was in Richtung einer Autorität gedeutet werden könnte, was in die Richtung Wittgensteins zu weisen scheint, bei dem es  auch einmal heißt: „Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt“. 

Indessen scheint mir diese Formel viel unklarer als die kleine Kontroverse zwischen Schlick und Wittgenstein, bei der ich mich auf die Seite von Schlick stelle.

Läßt sich von dieser modernen bzw. zeitgenössischen Problemstellung ein Bogen zur antiken Thematisierung schlagen, die hier am 8. Februar in Erinnerung gerufen worden ist?

Platon hat die Eigenschaft "gut" zum "Guten" substantiviert und dieses zur höchsten "Idee" erhoben, der substanzhafte Wirklichkeit zugesprochen wird. Aristoteles hat diese Lehre jahre- ja jahrzehntelang gehört und diskutiert. In der Nikomachischen Ethik schiebt er sie beiseite, weil ein solches "Gutes" für die Menschen unzugänglich sei. Für die Ethik sei die Qualität "gut" relevant und die werde in den "Tugenden" faßbar.

Es gibt also einen Unterschied zwischen der platonischen und der aristotelischen Sicht des Guten, die sich wohl auch auf die ethisch-politischen Anwendung auswirken dürfte. Aber in der hier aufgeworfenen Unterscheidung zwischen einer autoritären und einer kognitiven Fassung von "gut", also zwischen Wittgenstein und Schlick, stehen sowohl Platon wie auch Aristoteles aufseiten der kognitiven Fassung.  Damit verbunden ist eine gewisse Unabhängigkeitserklärung der Moral von positiven Religionen.  Eine Ansicht, die in der Gegenwart von vielen philosophisch denkenden Wissenschaftlern geteilt wird, z. B.  von Jan Assmann, Michael Tomasello.[1] 



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[1] Die Differenz zwischen Platon und Aristoteles relativiert sich weiterhin, wenn man bedenkt, dass die Lehre von den Tugenden ein großes sokratisch-platonisches Erbstück ist und dass andererseits auch Aristoteles substanzhafte Versionen des Guten kennt: Gott, (menschlicher)  Geist.


Walter Seitter


Zusatzprotokoll zur Sitzung vom 8. Februar und dem Montagsvortrag der Sektion Ästhetik vom 20. Februar 2017

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