Zum Vergleich mit der aristotelischen Philosophiegeschichte werden zwei Werke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts genannt: Die Natur und die Griechen (1987) von Erwin Schrödinger (1887-1961) sowie The Idea of Nature (1945) von Robin George Collingwood (1889 –1943); in diesem Buch wird nach der antiken Kosmologie auch die frühneuzeitliche und die moderne behandelt, wobei für diese eine Historisierung der Natur selber entscheidend sei.
Liegt bei Aristoteles eine Art „Historisierung“ der Theorie vor? Gerade in dem jetzt von uns gelesenen Buch fällt auf, daß die umfangreiche historische Einleitung zu implizieren scheint, daß es die auszuführende Wissenschaft „schon längst“ gibt; andererseits soll sie erst gesucht werden, d. h. es gibt sie „noch nicht“. Das Schwanken in der Benennung der hiesigen Wissenschaft paßt zu diesem unsicheren Status.
In 988a 8ff. resümiert Aristoteles die Lehre Platons, zu der er übrigens biographisch ein ganz anderes Verhältnis haben mußte als zu den anderen referierten Lehren: immerhin war er zwanzig Jahre lang persönlicher Schüler, man kann wohl sagen „Meisterschüler“ bei Platon. Der erste Satz des kurzen Resümees, das ja nur Ausgeführtes noch einmal wiederholt, schlägt bereits einen kritischen Ton an: Platon habe nur zwei Ursachen oder Ursachenarten berücksichtigt: das Was und den Stoff. Nur zwei: das heißt nur zwei von den vier „aristotelischen“. Auf der Seite des Was sind die Dinge durch die eide bestimmt, die ihrerseits durch das Eine bedingt sind. Die Stoffursache ist durch die Zweiheit bedingt. Also eine zweiseitige und außerdem zweistufige Kausalität, wobei die untere Stufe aus Zahlen besteht und an Pythagoras erinnert. Im Resümee wird die Ursachenfrage aber noch auf andersartige Sachverhalte ausgeweitet, nämlich das Gute und das Schlechte. Für diese beiden Qualitäten (die auch „Qualitäten“ im engeren, nämlich modernen Sinn sind: optativ-normative Eigenschaften) gebe Platon nur eine Kausalitätsebene an: die Elemente des Einen und der Zweiheit. Das Eine als Ursache, als Wesensbestimmung und Grundprinzip des Vollkommenen – das ist uns als pauschale antike Option relativ gut bekannt; und entsprechend die Zweiheit als Prinzip der Defizienz. Bei dem hier genannten platonischen bzw. pythagoräischen „Element“ handelt es sich wohlgemerkt nicht um einen konkreten „Einen“ – wie etwa im Monotheismus, sondern um die abstrakte mathematische Größe, um das Eine, das sich oftmals nur in Vielheiten realisieren kann: so als Symmetrie, als Harmonie, als Gleichmaß.
Die „Zurückführung“ des Guten auf Einheit, des Schlechten auf Zweiheit widerspricht indessen einem modernen sagen wir Dogma von der strikten Trennung zwischen Sollen und Sein. Und da Aristoteles die hier gesuchte Wissenschaft als „theoretische“ Wissenschaft bezeichnet, können wir uns wundern, wieso er das Gute und Schlechte (hier nicht zum ersten Mal) überhaupt einführt. Das Gute scheint für ihn etwas zu sein, das ebenso wie das Seiende, so ist, wie es ist und nicht, jedenfalls nicht vollständig so sein kann oder anders und daher von menschlichem Tun abhängig ist (mit dem sich die poietischen und die praktischen Wissenschaften beschäftigen).
Die von Aristoteles referierte platonische Kausalität mit ihrer Zweistufigkeit im „Physischen“ und dem Einsatz derselben „Elemente“ als Ursachen von Gut und Schlecht steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur pythagoräischen Ursachenannahme, in der es einerseits die mathematischen und abstrakten Prinzipien gibt und andererseits die konkreten, man könnte sagen phänomenologischen, beinahe zoologischen Ursachen: nämlich die Eltern, die Ahnen, die Götter. Dort exakte numerische Verhältnisse, hier hingegen anschauliche „Ähnlichkeiten“, bei denen die Zahlen aber auch wichtig sind: wieviele Götter, wieviele Kinder?
Walter Seitter
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