Rückblickend
sehe ich, daß Aristoteles bereits vor der Wortprägung autoanthropos, an
der er mit dem Artikel to eine regelrechte Geschlechtsumwandlung
vornimmt (aber nicht eine Umwandlung von einem sexuellen Geschlecht in ein
anderes, sondern eine Entsexualisierung), daß er bereits in 991a 4 eine
ähnliche Operation vornimmt, und zwar an dem Wort dyas (Zweiheit), einem
Wort weiblichen grammatischen Geschlechts, das er da öfter verwendet; und
einmal versieht er es mit dem Artikel to, so daß man ganz wörtlich
übersetzen müßte „das Zweiheit“. Mein Übersetzer sagt hier „die Zwei an sich“ –
und macht auf diese Weise einigermaßen kenntlich, daß Aristoteles damit die
platonische Idee der Zweiheit meint.
Die
heute anstehende Textpassage beschäftigt sich immer noch mit dem
„pythagoräischen“ Anteil an der Lehre Platons. Wir betrachten sie nur flüchtig,
weil sie sich unserem Verstehen kaum erschließt und weil sie für unser
Erkenntnisziel wenig beizutragen scheint.
In 992a
24 heißt es, „wir“ hätten mit unserer platonischen Redeweise zur angestrebten
Ursachenerkenntnis nichts beigetragen. Anscheinend eine platonische
Selbstkritik, die Aristoteles einfach so vorträgt – oder zitiert? Im Schlußsatz
allerdings ein anderes und entgegengesetztes Wir, ein rein aristotelisches.
Eine Spur von Dialog-Form? Dann eine pointierende Zusammenfassung der Kritik an
den „heutigen Philosophen“, nämlich den Platonikern: die Mathematik ist ihnen
zur Philosophie geworden, obwohl sie selber sagen, die Mathematik könnte nur
eine Art Hilfswissenschaft für eine anderweitige Erkenntnis sein. (992a 33f.)
Wir stellen fest, daß es diese „heutigen Philosophen“ nicht nur damals, also im
Jahre 320, gegeben hat. Ausdrücklich hat sich Galileo Galilei, etwa um 1620, in
diese Spur gestellt (um die Physik zu erneuern), und auch in unserer Gegenwart
finden sich derartige Versuche. Es wird vorgeschlagen, das Ausweichen in
Richtung Mathematik damit zu begründen, daß man in der Philosophie, wie sie
häufig betrieben wird, zu wenig Genauigkeit antrifft, und daher Mathematik
macht und diese dann für Philosophie hält.
Die
nächsten Passagen überspringen wir. Sie fassen diffizile Diskussionen zusammen,
in denen Aristoteles – wieder und wieder - die pythagoräisierenden Platoniker
zu widerlegen versucht.
In 992b
18 geht Aristoteles direkt zu seinem Programm über, indem er behauptet, man
könne die Elemente der Seienden nur finden, wenn man bei der Untersuchung der
Seienden darauf achtet, daß die Seienden als seiende „vielfach“ ausgesagt
werden. Mit einer Partizipialkonstruktion importiert hier Aristoteles in seine
methodische Grundsatzerklärung einen Hauptsatz seiner Philosophie; daß nämlich
das Seiende – als solches - vielfach ausgesagt werde (siehe Met. IV, 1003 33).
Auch wenn wir jetzt nicht den genauen Sinn dieses Hauptsatzes erörtern, so
dürfen wir uns ein intuitives Verständnis der Grundsatzerklärung zurechtlegen
und zwar in direkter Bezugnahme zu dem oben angschnittenen Postulat der
Genauigkeit in der Philosophie: es gibt nicht nur die mathematische
Genauigkeit; Genauigkeit ist auch eine philosophische „Tugend“ und sie kann
durch Differenzierung geleistet werden.
Machen
wir uns den Satz in seinen Grundzügen klar. Das Materialobjekt der ins Auge
gefaßten Untersuchung sind die Seienden, die seienden Dinge, nicht etwa „das
Seiende“ wie meine Übersetzung schreibt - der Plural ist nicht unwichtig. Wenn
eine neugriechische Übersetzung (allerdings eine alte) ton onton mit tou
Einai wiedergibt, dann geht der Fehlgriff wirklich weit: Singular statt
Plural, Infinitiv statt Partizip und die Großschreibung des Infinitivs
suggeriert eine schon beinahe theologische Dimension. Was war das für ein
Neugrieche – er soll sich schämen. Aristoteles ist viel moderner – im besten
Sinne des Wortes. Von den im Plural stehenden onta sollen die Elemente
aufgefunden werden; das sei aber nur möglich, wenn berücksichtigt wird, daß sie
– als Seiende – „vielfach ausgesagt“ werden. Das Ausgesagtwerden des oder der
Seienden – hier in den Plural gesetzt – ergibt, wenn man ein Substantiv bildet,
das eine Disziplin bezeichnen kann, das Wort „Ontologie“. Und da dieses
Ausgesagtwerden adverbial „vielfach“, „in vielen Hinsichten“ geschieht, kann
man die entsprechende Ontologie als eine „multiple“ oder „differentielle“
bezeichnen.
Am 28.
Jänner habe ich bereits davon gesprochen, daß die Untersuchung des vorliegenden
Buches in der Antike mit dem Namen „Metaphysik“ belegt worden ist. In der
frühen Neuzeit hat man dann den Begriff „Ontologie“ geprägt, der gerade einer
solchen Textstelle wie der hiesigen genau zu entsprechen scheint: Aufsuchen der
Elemente ton onton .......legomenon. Damit wird nicht ausgeschlossen,
daß auch der Begriff „Metaphysik“ eine Untersuchungsrichtung des Buches
formuliert – aber eine andere.
Allerdings
bleibt in dem von uns untersuchten Satz ein Rest ungeklärt: die beiden Wörter me
dielontas bleiben aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse unübersetzt, und ich
finde auch in den vorliegenden Übersetzungen nichts Entsprechendes. Sind das
zwei Wörter ohne Bedeutung (me heißt „nicht“ und dieleontas ...?)
Dann
nennt Aristoteles drei Seiende – das Tun, das Leiden, das Gerade, deren
Elemente nicht aufgefunden werden können. Die drei sind ja Akzidenzien und in
einem Nachsatz erklärt Aristoteles nur die Elemente der Wesen lassen sich
erfassen (und über die dann vielleicht auch die der Akzidenzien). Die negative
Aussage über die Akzidenzien entspricht der oft geäußerten aristotelischen
Auffassung, es gebe keine Wissenschaft vom Akzidens (vgl. Met. Vi, 1026b
26ff.). Und es folgt ein Satz, der dem Projekt, die Elemente der seienden Dinge
auffinden zu wollen, eine Absage erteilt, sofern damit „alle Seienden“ gemeint
sind. Ein derartiger Anspruch wird sogar als „nicht wahr“ abqualifiziert.
Walter Seitter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen