τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 7. Mai 2012

Troja in Wien: Episches Theater, Meta-Theater?


Ruft man sich nur die Tatsache in Erinnerung, daß Homers Ilias aus dem zehnjährigen Kampf der Griechen um Troja gerade 51 Tage herausgreift, so meint man zu verstehen, daß da eben nur der „Zorn des Achilleus“ abgehandelt wird: Streit zwischen Agamemnon und Achilleus; dessen Weigerung, sich am Kampf der Griechen zu beteiligen; Tod des Patroklos, Achilleus’ Freund; Totenfeier für Patroklos; Achilleus kämpft wieder, tötet Hektor und schändet dessen Leichnam; Übergabe des Leichnams und Totenfeier. Tatsächlich aber wirkt die Ilias wie ein Mikroskop, bläst diese 51 Tage dermaßen auf, daß da ein genaues Abbild des gesamten Trojanischen Krieges Platz hat: Diskussionen bei den Göttern, den Trojanern, den Griechen, Verhandlungen zwischen ihnen, Gruppenkämpfe und Einzelkämpfe, Tode und Totenfeiern. Ungeheuer viele Geschehen – die 16.000 Verse wollen ja nicht leer daherkommen.
In seiner Poetik betont Aristoteles, daß jedwedes Dichtwerk eine Handlung, ein Handlungsgefüge darzustellen hat: etwas handlungslogisch Zusammengehöriges und keineswegs irgendwie „alles“, was sich irgendwann und irgendwo zuträgt. Das gelte auch für epische Dichtungen, obwohl die durchaus umfangreich zu sein pflegen. Und da hebt er die Kunst Homers hervor, der keineswegs „den ganzen Krieg“ erzählt habe – das wäre nämlich zuviel gewesen (vgl. Poetik 1459a 32ff.). Gerade zum Trojanischen Krieg gab es auch Epen, die im aristotelischen Sinne zu viele Handlungen aneinandergereiht haben, und aus denen könne man, so Aristoteles, dementsprechend viele Tragödien machen. Aus der Ilias nur eine, höchstens zwei.
Dieser Faustregel scheint nun das neue Wiener Stück zu widersprechen, welches den gesamten Trojanischen Krieg für einen Abend auf die Bühne bringt. Mitsamt der – halb göttlichen – Vorgeschichte und bis zum bitteren Ende. Bitter für die Trojaner, doch nicht nur für sie. Homers Ilias liefert immerhin den Kern für dieses Stück, Achilleus ist unter den Männern fast die einzige eindrucksvolle Figur, die Übersetzung von Raoul Schrott bringt eine kräftige Sprache zu Gehör. Der Abend liefert aber auch etwas, was man sonst kaum erlebt: eine Gesamtbiographie – eine teilweise ödipale – des Paris, auf seine Weise ein tragischer Held, wenn auch kein Waffenheld. Dementsprechend muß auch Helena auf die Bühne, und sie tut das mit bravouröser Grazie. Gesamtbiographien sind etwas, was dem aristotelischen Drama-Modell total widerspricht.
Das Kasino am Schwarzenbergplatz zeigt also kein „aristotelisches“ Theater. Sondern etwas ganz anderes. Das Drama ist ja auch nicht von einem Dichter geschrieben – sondern von wem eigentlich? Es handelt sich um eine Collage von Texten aus drei Jahrtausenden: Textfragmente von Homer und anderen Antiken, Vergil, Friedrich Schiller, Walter Jens, Christa Wolf und so weiter. Dieser Theaterabend ist vom Theaterdirektor erfunden, zusammengeschrieben, inszeniert, mit einem Wort gemacht worden. Statt eines richtigen Dichters nur ein Theatermacher – in der Art des Josef Emanuel Schikaneder (1751-1812). Oder des bernhardschen Theatermachers Bruscon (2. Hälfte des 20. Jahrhunderts), der einen Shakespeare-Zusammenschnitt namens Das Rad der Geschichte auf mancherlei Bühne brachte.
Text-Collage, aber auch Szenen-Collage. Nicht nur, daß die Göttinnen echte Auftritte habe, irdische wie auch himmlische, nämlich theatermaschinengemachte. Die 1186 Schiffe der Griechen werden tatsächlich und leibhaftig aufs Meer gesetzt (später dann vom Wind des Staubsaugers hinweggefegt). Leichnamsschändung ganz anders, aber brutal. Am Schluß dann lustiges und erfolgreiches Aufbauen des riesigen Trojanischen Pferdes. Allegorische Hauptfigur – für superlativische Frechheit und Dummheit.

Verhält sich dieser „Trojanische Krieg“ zur Ilias ein bißchen wie die aristotelische Metaphysik zur Physik?

WS

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