τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 21. Juni 2012

In der Metaphysik lesen (994a 1 – 11)


Auf das letzte Protokoll zurückkommend schlage ich vor, die beiden unterschiedenen Gerichtetheiten folgendermaßen näher zu bestimmen: die horizontal gezeichnete und auf den Gegenstand gerichtete als intentio cognitiva, die vertikal gezeichnete und auf ein Ziel ausgerichtete als intentio volitiva. Das Nachschauen bei Google hat ergeben, daß sich in einem lateinischen Buch des mittelalterlichen Kirchenpolitikers und Philosophen Aegidius Romanus (1243-1316), herausgegeben 1646 von Petrus Damasus de Coninck, eben diese beiden Begriffe fast wortgleich finden. Dieses Begriffspaar scheint also in der Scholastik üblich gewesen zu sein – neben dem viel bekannteren aus intentio recta und intentio obliqua. Man kann sagen, daß das von mir konstruierte (bzw. im aristotelischen Text vorgefundene) Begriffspaar durch eine radikalere Binnendifferenz gezeichnet ist als dieses bekanntere. Allerdings können sich diese beiden Intentionen leicht auf ein und dasselbe Objekt richten – eben dies scheint ja in der Ersten Philosophie vorzuliegen. Dieses Objekt ist die Wahrheit; allerdings spaltet oder zerdehnt sich diese eben doch in zwei Versionen: die Aussagewahrheit und die Seinswahrheit, welche unserem modernen Wahrheitsverständnis eher fern liegt.
Um meine Zeichnung zu vollenden, müßte ich das BMW-Logo hernehmen und die zwei weißen Kreisviertel zusammen würden das Schema der Ersten Philosophie ergeben: links unten die beiden Intentionen, rechts oben die beiden Wahrheitsversionen: oder links unten die operative Gesamtintention der Ersten Philosophie, rechts oben das Gesamtding, das von der Aussagewahrheit bis zur Seinswahrheit reicht.




Die Sache mit der Seinswahrheit läßt sich so ausdrücken: was ist, ist auch wahr, und zwar in dem Maße, als es ist; was heißt hier “wahr“? Es heißt, daß man wahre Aussagen über es machen kann; also „erkannt“, „erkennbar“, „besprechbar“. Und der zweite Aspekt, der hierarchische: alles, was ist, ist mehr oder weniger, folglich ist es auch mehr oder weniger wahr. Und was seiender und wahrer ist, kann Ursache für andere Sachen sein, die dementsprechend weniger seiend bzw. wahr sind. Ursache sein heißt: erste Sache sein, Urheber sein, mehr sein. Mit der Bildung von Komparativen und Superlativen drückt man diesen Sachverhalt aus – auch wenn er uns nicht immer geläufig oder möglich erscheint, wie an dem berühmten Gegenbeispiel „schwanger, schwangerer ...“  erhellt.
Die von Moses gehörte und aufgeschriebene Aussage „Ich bin, der ich bin.“, die sich für uns tautologisch selbstverstärkend anhört, könnte man also aristotelisch so übersetzen: ich bin der Seiendste. In griechischen Kirchen finden sich aus Mosaik gebildete Jesus-Büsten, wo im Nimbus drei Buchstaben erscheinen: Omikron, Omega, Ny – und das heißt: der Seiende. Da ist das Zitat aus dem Buch Moses auf Jesus appliziert – aber in aristotelischer Sprache. Allerdings ohne Superlativbildung. Man könnte sagen: englisches Understatement. Entsprechend dem aristotelischen Satz: das Seiende wird vielfach ausgesagt. Statt Superlativ Differenzierung des Positivs.
In der Scholastik wurden neben dem Wahren auch das Eine, das Gute, das Schöne als Transzendentalien betrachtet, als „konvertierbar“ mit dem Seienden. Die Transzendentalien bildeten zusammen die eine in sich „konvertierbare Währung“.
In Abschnitt 2 geht Aristoteles auf die hierarchische Dimension ein, also auf die Ursachenreihe: die könne nicht endlos lang sein, es müsse jeweils eine erste Ursache geben. Aristoteles skizziert seine These für alle vier Ursachenarten: Materie, Bewegung, Ziel, Form. Insofern gibt es vier erste Ursachen. Warum? Weil auch "die Ursache vielfach ausgesagt wird".          

Walter Seitter

                          

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