Wieso subsumiert Aristoteles
die „gesuchte Wissenschaft“ unter die theoretischen Wissenschaften – neben und
über Physik und Mathematik? Weil sich diese Wissenschaften mit Sachen
beschäftigen, die so sind, wie sie sind – unabhängig vom Tun der Menschen. Die
poietischen und die praktischen Wissenschaften beschäftigen sich mit dem Tun
der Menschen – und zwar im Hinblick darauf, daß dieses Tun möglichst gut
vonstatten gehen soll: zum einen das Herstellen von guten Dingen (im weiteren
Sinn), zum andern das Gelingen von guten menschlichen Verhältnissen.
Die adverbialen Bestimmungen
„gut“ oder „schlecht“ gibt es jedoch auch im Feld der theoretischen
Wissenschaft. Schlechte Physiker, schlechte Mathematiker erkennt man daran, daß
sie keine „wahren“ Aussagen auf ihren Gebieten zustandebringen, vielleicht
sogar falsche vorbringen. Auf diesen Gebieten wird das aber nur in der Schule
eine Rolle spielen – und mit schlechten Noten geahndet. Bei den Erwachsenen
haben die einfach keine Chance und werden rücksichtslos eliminiert bzw. ignoriert.
Es sei denn, in diesen Wissenschaften bricht eine sogenannte Grundlagenkrise
aus, es tauchen neue Axiome auf, es kommt zu neuen, zu anders gearteten
Ergebnissen, die man nicht mehr ignorieren kann, und die sich schließlich sogar
durchsetzen. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die man nicht hochspielt, denn
man möchte es mit sicherer „Normalwissenschaft“ zu tun haben. Allerdings läßt
sich nicht verschweigen, daß es also doch in der Mathematik gute und sogar sehr
gute Fachverteter gibt: die guten bewähren sich in der Normalwissenschaft, die
sehr guten gründen neue Normalwissenschaften. Soll man „gut“ und „schlecht“
hier poietisch oder praktisch verstehen? Eher wohl poietisch, was impliziert,
daß in theoretischen Wissenschaften nicht nur „betrachtet“ wird sondern auch
etwas getan wird: es wird gesagt, diskutiert, es wird handwerklich gebastelt
und experimentiert, es wird geschrieben. Hatte die Antike für diese Seite der
theoretischen Wissenschaften irgendwelche Begriffe oder gar (Sub)Disziplinen?
Ansatzweise sehr wohl, auch wenn sie kaum mit den theoretischen Wissenschaften
in Verbindung gebracht wurden: die Disziplinen Logik (Denklehre), Dialektik
(Argumentationslehre), Rhetorik (Redekunstlehre), Grammatik (Schreibkunde). Die
Heuristik als Erfindungskunstlehre war in der Antike nicht sehr ausgeprägt, sie
findet sich in den genannten Disziplinen, auch in der aristotelischen Topik.
Die Philosophie war schon in
der Antike diejenige Wissenschaft, in der die Qualifizierungen „gut“ oder
„schlecht“ eine große Rolle spielten, weil da die unterschiedlichen und
feindlichen Richtungen ständig
koexistierten, ohne einander eliminieren zu können. Manche Richtungen wurden
jedoch von anderen (und einflußreichen) sehr wohl verbal eliminiert und als
„Nicht-Philosophen“, sogar „Anti-Philosophen“ etikettiert.
In unserem Text liefert
Aristoteles, der doch im Buch I mit manchen Schulen unsanft aber doch diskussiv
umgegangen war, ein Beispiel für polemischen, genaugenommen, eliminierenden –
immerhin nur verbalen – Umgang mit feindlichen Schulen: Dialektiker und
Sophisten. Sie beschäftigen sich mit den Themen der Philosophen, sind daher
direkte Konkurrenten. Aber wodurch unterscheiden sie sich? Aristoteles
verzichtet darauf, ihne falsche oder fragwürdige Aussagen nachzuweisen. Das hat
er ja gelegentlich mit Pythagoräern und ähnlichen getan. Hier argumentiert er
auf der Ebene des Verhaltens. Den Sophisten hält er sehr pauschal vor, daß sie
nur zum Schein Philosophen sind, das heißt sie sind bloße Nachahmer. Ähnlich
die Dialektiker, die über alles diskutieren, die alles versuchen, also
vielleicht alles „andiskutieren“. Also eine gewisse Nähe zur „gesuchten
Wissenschaft“, die ja eine suchende ist und sich durch die Aporien
durcharbeiten will.
Aristoteles deutet die
Unterscheidung an, indem er auf der Seite des Philosophen einige Punkte nennt:
die Philosophie unterscheidet sich von der Dialektik „durch die Wendung des
Vermögens“. „Wendung“ (tropos) ist genau das Wort, das Giannaras
(allerdings gegen eine bestimmte westliche Substanz-Auffassung) vorgebracht
hat. Was heißt hier „Wendung“? Es muß wohl eine bestimmte Wendung sein und
nicht ein Sich-Wenden je nach dem Wind. Die Formulierung verweist auf eine
Entscheidung und die geht in die Richtung von „Erkenntnis“. Die Unterscheidung
der Philosophie von der Sophistik liegt in der „Wahl des Lebens, der
Lebensweise“, geht also deutlicher in die Richtung eines „Praktischen“. Soll
wohl heißen, daß die Entscheidung fürs Erkennen auch das Umfeld der praktischen
Bedingungen und Konsequenzen einbezieht (was möglicherweise so etwas wie
praktische Wissenschaft oder Philosophie impliziert) – gegen ein total „freies“
Herumtheoretisieren.
Mit den oben genannten „artes
liberales“ war die Philosophie in die Nähe des „Poietischen“ gerückt worden.
Nun hat aber Aristoteles schon im Buch I betont, daß die gesuchte Wissenschaft
keine poietische ist (982b 11). Warum muß er das betonen? An der Stelle
vielleicht, weil er gerade ausführt, daß zu den ersten Prinzipien und Ursachen,
die zu betrachten sind, auch das Gute und das Weswegen gehören: die aber
verweisen in die Dimension des Praktischen (im weiteren modernen Sinn). Noch
weiter vorn war ausführlich von den Künsten die Rede gewesen, welche im
stufenweisen Aufbau der Erkenntnisleistungen eine große Rolle spielen. Aber da
hat Aristoteles die theoretischen Wissenschaften über die poietischen gestellt.
Walter Seitter
-
Sitzung vom
19. Februar 2014
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen