Die zuletzt
angetroffenen Verwandlungsprobleme zwischen Lebewesen und Toten bzw. Wein und
Essig haben, selbst wenn wir ihnen nicht ganz auf die Schliche gekommen sein
sollten, zumindest darauf aufmerksam gemacht, dass die Akzidenzien wie auch der
Stoff entscheidende Faktoren im Geschehen der irdischen Dinge sind. Ralph
Rhenius führt übrigens in Die Einheit der Substanzen (Berlin
2005) eine Reihe von Unterscheidungen innerhalb des Stoffes ein, sodass dieser
Begriff an explanatorischer Kraft zunimmt. Und was die an dieser Stelle ins
Spiel gekommenen Formen betrifft, so gehören sie offensichtlich
unterschiedlichen Rangstufen an.
Im Abschnitt 6 geht es
sehr allgemein um die Frage, wodurch aus vielen Teilen Eines wird und ein Ganzes
mit mehr Ganzheitlichkeit als ein Haufen, ein Ganzes über den Teilen. Viele
Körper ergeben eine Einheit entweder durch Berührung oder durch
Klebrigkeit – durch letztere wohl in stärkerem Maße (siehe Mauerbau). Im
Abschnitt 6 von Buch V ist das Eine noch viel ausführlicher differenziert
worden.
Und dann ein Satz, den
ich herzitiere, damit er besser verständlich wird. Es ist da die Rede von der
Definition – aber nicht damit irgendetwas definiert wird, sondern damit
die Definition als ein Typ von Rede verglichen wird mit einer berühmten
namentlich genannten Rede – der Ilias. Die Definition ist eine Rede
– nicht aufgrund einer Zusammenfügung (von vielen Aussagen) wie die Ilias,
sondern weil sie die Rede von einem ist (1045a 14). Die
Vergleichung eines für die Wissenschaft wichtigen Aussagentyps mit der größten
Dichtung der Griechen überspringt einen riesigen Abstand und bezieht daraus
ihre Überraschungskraft. Der Unterschied ist auch ein quantitativer: eine
Definition ist meistens ein kurzer Satz, die Ilias enthält 15.000 Verse also
ungefähr so viele Sätze (und trotzdem nennt Aristoteles sie einen Satz).
Es handelt sich also um
ein kleines Stück Aussagenvergleich – hier eingeschoben als ein eher
fremdartiges Beispiel für die Frage, welches Eine ist einheitlicher: das eine
oder das andere? Dass sowohl die Definition wie auch die Ilias in
die bekannte Spezies „Satz“ eingereiht werden, um dann verglichen werden zu
können, ist typisch für Aristoteles. So eine Nivellierung der Aussagen ist
auch der Schlüssel zu Foucaults Archäologie des Wissens.
Und das kleine Stück ist
eine Übernahme aus der Poetik, aus dem linguistischen Kapitel 20,
wo die quantitativen Teile der Sprache der Größe nach gereiht und bestimmt
werden: vom Buchstaben bis zum Satz (Rede, Aussage): Definition des
Menschen oder Ilias (1457a 24ff.)
In unserer Stelle geht
Aristoteles tatsächlich zur Definition des Menschen über und fragt: was macht
den Menschen zu einem Einen? Doch es fallen ihm gleich bestimmte Philosophen
ein, die darauf sagen: ein Lebewesen und ein Zweifüßiges, und womöglich ein
Eigentlich-Lebewesen und ein Eigentlich-Zweifüßiges. Auf diese Weise macht man,
so Aristoteles, aus dem Menschen eine Zweiheit – man verkennt oder vereitelt
vielleicht sogar seine Einheit. Definiert man hingegen den Menschen durch Stoff
und Form (oder durch Potenzialität und Aktualität), also ebenfalls durch zwei
Bestimmungen, so bleibt die Einheit des Menschen gewahrt.
Es scheint so zu sein,
dass eine jede Definition eines Einen zwei davon unterschiedene
Bestimmungen angeben muss. Und diese beiden Bestimmungen müssen fähig sein,
einander zu ergänzen – und das ist der Fall, wenn sie sich zueinander
verhalten wie Stoff und Form bzw. wie Potenzialität und Aktualität.
Aristoteles konstruiert
dazu ein analoges Beispiel: die Definition von „Gewand“ als „rundes Erz“ –
zweifellos ein Artefakt. Er fragt, was denn – außer dem Hersteller – die
Ursache dafür ist, dass das Runde und das Erz eins werden und dass das
Mögliche wirklich werde. Aristoteles nennt das Was-ist und für das Runde gibt
er zwei Varianten an: die Kugel und den Kreis. Ich glaube, das müssen wir noch
einmal lesen.
Die Aussage, dass alle
real existierenden irdischen Dinge zusammengesetzt sind, dürfen wir auch so
verstehen, dass ihre Einheit nicht unmittelbar und auch nicht vollständig
gegeben ist. Sie werden von mindestens einer Differenz durchzogen - und die
Frage ist, ob sie damit auch auf Außenrealitäten bezogen sind.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 30.
Jänner 2019
Nächste Seminarsitzung
am 6. Februar 2019
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