Mittwoch, 13. November 2024
408 a 31 - 409a 30
Eingangs berichtet Karl Bruckschwaiger, daß er demnächst nach Venedig fahren werde, was ihm eine befreundete Person vorgeschlagen habe.
Dabei wird es sich um eine Ortsbewegung handeln, die auch durch irgendein Fahrzeug verursacht sein wird, welches als physisch Bewegendes zu gelten hat. Da er diese Reise freiwillig ja gern durchführen wird, dürfte noch ein anderes Bewegendes dabei im Spiel sein - etwa ein solches, von dem wir in 406b 10 gelesen haben: die Seele werde von wahrgenommenen Dingen bewegt. Im angegebenen Fall sind solche Dinge die gehörte Rede der befreundeten Person, aber auch die Stadt Venedig, die von ihm bereits vor mehreren Jahrzehnten gesehen worden sei. Solche Bewegungen können als psychische bezeichnet werde (auch wenn Aristoteles sie nicht so nennt). Dazu gehören das Motivieren, das Faszinieren, das Attrahieren.
Die intransitive Bewegung des Reisenden ist jedenfalls eine physische - aber auch eine psychische.
Ein Zusammenspiel von psychischen und physischen Bewegungen dürfte wohl auch bei dem berühmten „Unbewegten Bewegenden“ des Buches XII der Metaphysik gegeben sein - dort aber wird nicht von „Seele" sondern von „Geist“ gesprochen, der das Bewegende ist und das Bewegte sind die irdischen Dinge. Statt von psychischen müsste man da von noetischen Bewegungen sprechen.
408 a 31 - 409a 30
Eingangs berichtet Karl Bruckschwaiger, daß er demnächst nach Venedig fahren werde, was ihm eine befreundete Person vorgeschlagen habe.
Dabei wird es sich um eine Ortsbewegung handeln, die auch durch irgendein Fahrzeug verursacht sein wird, welches als physisch Bewegendes zu gelten hat. Da er diese Reise freiwillig ja gern durchführen wird, dürfte noch ein anderes Bewegendes dabei im Spiel sein - etwa ein solches, von dem wir in 406b 10 gelesen haben: die Seele werde von wahrgenommenen Dingen bewegt. Im angegebenen Fall sind solche Dinge die gehörte Rede der befreundeten Person, aber auch die Stadt Venedig, die von ihm bereits vor mehreren Jahrzehnten gesehen worden sei. Solche Bewegungen können als psychische bezeichnet werde (auch wenn Aristoteles sie nicht so nennt). Dazu gehören das Motivieren, das Faszinieren, das Attrahieren.
Die intransitive Bewegung des Reisenden ist jedenfalls eine physische - aber auch eine psychische.
Ein Zusammenspiel von psychischen und physischen Bewegungen dürfte wohl auch bei dem berühmten „Unbewegten Bewegenden“ des Buches XII der Metaphysik gegeben sein - dort aber wird nicht von „Seele" sondern von „Geist“ gesprochen, der das Bewegende ist und das Bewegte sind die irdischen Dinge. Statt von psychischen müsste man da von noetischen Bewegungen sprechen.
Die
quasi psychologische, genau genommen aber noologische Vorbereitung der
aristotelischen „Theologie“ findet sich im 7. Abschnitt von Buch XII.
Dort ist die Rede von dem erotisch Geliebten, dem Begehrten, dem als
schön Wahrgenommenen, dem, was schön agiert und daher exzelliert, also
nicht anders sein kann und folglich initiiert.
In der Folge referiert Aristoteles einige ältere Auffassungen von den Bewegungen zwischen Körper und Seele, zunächst die des platonischen Timaios. Dann gewisse Lehren von kreisförmigen Bewegungen des Denkens, die den Pythagoreern zugeschrieben werden, von Aristoteles jedoch skeptisch beurteilt werden. Auch die Lehren von der Seele als Harmonie und als Mischung werden eher abgelehnt.
Aristoteles
geht dazu über, gewisse bekannte Seelenerfahrungen oder -tätigkeiten
wie Leid, Freude oder Denken auf eine Ebene zu stellen. Beziehungsweise
dazu, diese Tätigkeiten nicht einfach der Seele sondern dem aus Körper
und Seele zusammengesetzten Menschen zuzusprechen. Mitleiden, lernen,
denken seien Bewegungen, die wie die Wahrnehmung oder die
Wiedererinnerung zwischen den Dingen und der Seele, entweder in der
einen Richtung oder in der anderen, passieren.
Interessant,
daß Aristoteles heute so genannte „emotionale“ (das heißt:
herausbewegende) Seelenbewegungen auf ein und dieselbe Ebene stellt wie
kognitive oder intellektuelle. Wobei das Lernen vielleicht bestimmten
Bewegungsarten wie dem Wachsen oder dem Sich-ernähren nahesteht.
Dem
schon öfter genannten „Geist“ wird nun eine Sonderstellung
zugeschrieben: er sei ein eigenes Wesen, das hineingelangt und nicht
vergeht (siehe 408b 19). Mit dem „hinein“ ist wohl die
Seele-Körper-Gesamtheit gemeint, zu der dann auch der Geist gehört. Er
bewahrt aber eine gewisse Eigentümlichkeit.
Ähnlich
wie schon zuvor werden Nachdenken und Lieben und Hassen zusammengerückt
- aber nicht als Affektionen des Geistes sondern als Affektionen
dessen, der ihn hat - also des Menschen.
„Affektion“
heißt eigentlich Passivität, Leiden, Leidenschaft. Daß man das Lieben
und das Hassen so zuordnet, dürfte uns einleuchten - aber das
Nachdenken?
Das
Nachdenken als Leidenschaft - wäre das nicht das Ideal für den
Wissenschaftler, den Philosophen? Das lateinische Wort dafür ist
„studium“. Hat nicht doch jeder diese Erfahrung schon gemacht? Muß man
nicht beim Aristoteles-Lesen dem nahekommen?
Aristoteles
nimmt das an, weil beim Menschen der Geist in das Gesamte eingegangen
ist und seine spezifischen Leistungen dann auch abnehmen und vergehen.
Die
Triade der Affektionen „Nachdenken und Lieben und Hassen“ (408b 27) hat
im 20. Jahrhundert nach Christus eine Wiederbelebung und Transformation
erfahren, indem Jacques Lacan die Triade der Leidenschaften "Liebe und
Haß und Ignorieren“ aufgestellt hat.
Der
noetische Terminus „Nachdenken“ ist durch den ebenfalls noetischen aber
konträren Gegenbegriff „Ignorieren“ ersetzt worden - eine
pessimistische Wendung?
Kann
man daraus schließen, daß Lacan dem Geist, der ja das Vermögen zum
Nachdenken ist, eine schwächere oder etwa gar keine Position einräumt?
Diese Frage wollen wir stellen, wenn wir einen kompetenten Lacanianer treffen.
Vorläufig
begnügen wir uns mit folgender Aussage Sigmund Freuds: „Die Stimme des
Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft
hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es
doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft
der Menschheit optimistisch sein darf ….“
Aristoteles
selber nimmt für die genannten Fähigkeiten und Leidenschaften an, daß
ihre Leistungen aufhören, wenn der Mensch stirbt. Vom Geist selber aber
sagt er, er sei „göttlicher und leidensunfähig“ (408b 29)
Das
Adjektiv „göttlich“ im Komparativ - damit taucht Aristoteles ganz in
die damalige und dortmalige Umgangssprache ein. Es handelt sich um eine
Eigenschaft, die bei dem oder bei jener, da und dort, einmal mehr,
einmal weniger vorkommt. Wie da die seinerzeitigen Götter, die
olympischen und die titanischen, genau einzuordnen sind, sei
dahingestellt.
Das
„Unbewegt-Bewegende“, das Aristoteles im Buch XII aufweisen will und
beschreibt und als „Gott“ bezeichnet, ist wohl auch mit dem „Geist“ zu
identifizieren, von dem hier gesagt wird, er sei „göttlicher“ als die
geistigen Fähigkeiten der Menschen, selbst wenn sie hoch veranschlagt
werden. Ob er gar als das „Göttlichste“ gelten kann, das im Universum zu
finden ist? Selbst wenn das für die aristotelische Weltsicht zutreffen
sollte, würde er wohl durch den Gott, den die jüdische Religion annimmt,
übertroffen werden, und erst recht durch denjenigen, den das
Christentum dann mit noch mehr Qualitäten ausgestattet und überhöht
hat.
Aristoteles
wendet sich wieder dem Referieren älterer Ansichten zu und schon stößt
er auf eine „unsinnigste“: die Seele sei eine sich selbst bewegende
Zahl. Da spricht er superlativisch allerdings von einer negativen
noetischen Qualität.
Schaut
man sich diese Seelendefinition an, sieht man sofort, daß sie mit dem,
was wir heutzutage unter Seele verstehen, nichts zu tun hat, während
die oben zitierten aristotelischen Bestimmungen sich sehr wohl damit
berühren. Daß er eine davon, nämlich die geistige, dann noch in ein
Extrem steigert und vom Menschen abtrennt - stimmt natürlich auch.
Kann
man sagen, daß der eben zitierte Freud mit seiner Seelenauffassung in
ein anderes Extrem gegangen ist, nämlich in die Richtung der Triebe, der
Körpertriebe?
Selbst
wenn er die noetische Seite der Seele als schwach wahrgenommen hat, er
hat ja um 1900 nach Christus gelebt, so hat er doch nicht angenommen,
die noetischen Leistungen würden ganz und gar verschwinden - da die
Menschen sterben. Er hat mit seinem Werk dazu beigetragen, daß sie sogar
in jenem 20. Jahrhundert weitergeführt worden sind - in dem dieses Werk
von bestimmten Mächten der Vernichtung geweiht worden ist. Eine derart
bewußt geplante und politisch organisierte Vernichtung von
intellektuellen Leistungen dürfte es im griechischen Kulturraum der
Antike vielleicht kaum gegeben haben.
Aristoteles
wirft die Frage der Vernichtung der noetischen Leistungen, zu denen
auch die Wiedererinnerung und das Lieben gehört, explizit auf und
verknüpft sie mit der natürlichen Sterblichkeit der Menschen.
Die Bestimmungen der Seele als Zahl, als Einheit von Punkten im Körper, werden im Text dann noch weiter diskutiert.
Walter Seitter
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