τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ φάναι μόνον καὶ νοεῖν.

Das Wahrnehmen also ist ähnlich dem bloßen Aussagen und dem vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 19. November 2025

De Anima / Peri psyches lesen 28 - (422a 8 - 422b 17)

 

Protokoll  vom 12. November  2025.


Heute nimmt zum ersten Mal Manfred Russo an unserer Sitzung teil .


Wir lesen das Kapitel 10  des Zweiten Buches.

Aristoteles  handelt von den verschiedenen Wahrnehmungssinnen.

Das Wahrnehmen bildet neben der Ernährung, dem Streben, der Ortsbewegung und dem Denken eine der wichtigen Leistungen der Seele  bzw. der Lebewesen.  Während durch die  Ernährung fremde Körper in den eigenen Körper  aufgenommen werden, wird durch die Zeugung ein gleichartiger aber neuer Körper geschaffen und in die Welt gesetzt. Beim Menschen wie auch bei anderen Lebewesen kommt zum Zeugen das Gebären dazu, das von den weiblichen Exemplaren der Spezies durchzuführen ist. Darüber  vorgestern der Vortrag von Irini Athanassakis in der Weinhandlung.


 In der Antike dürfte das Zeugen allein den Männern zugeschrieben worden sein. Nach heutiger Auffassung wird das Zeugen von den beiden Geschlechtern strikt gleichzeitig nämlich miteinander durchgeführt. 

   Was nun das Wahrnehmen betrifft, so wird es  von Aristoteles dahingehend charakterisiert,   daß es im Unterschied zum Denken nicht bei einem selbst liegt. Denn wahrgenommen werden einzelne und äußere Dinge (siehe 417b - 28).

Die Wahrnehmung kann  ihre Tätigkeit nicht selber initiieren - sie ist darauf angewiesen, daß ihr Objekte aus einem Außen zufallen.

Dieses Außen hat den Aspekt  der Kontingenz aber auch den der räumlichen Distanz.

    

Nach dem Sehen hat Aristoteles vom Hören gehandelt. Beide sind Fernsinne und da stellt sich die Frage, wie die Distanz zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem beschaffen sein muß oder kann. 

Aristoteles vertritt die interessante These,  daß die Distanz durch etwas Dazwischen-Liegendes ausgefüllt sein muß - allerdings durch etwas jeweils sehr Bestimmtes:  beim Sehen durch das Licht, beim Hören durch die Luft.  Diese nun bezeichnet Aristoteles als „Zwischen“  - wofür sich dann  „Medium“  durchgesetzt hat. 

Beim  Tasten und beim Schmecken hingegen ist "kein fremder Körper als Medium" anzunehmen.    Einige Zeilen später heißt es dann. das Schmecken geschehe  nicht durch das Medium, besser gesagt  "nicht durch das Zwischen“.  

Tatsächlich geschieht es durch das Fleisch, nämlich durch das eigene Fleisch des Wahrnehmenden, am besten durch weiches Fleisch, wo das Wahrgenommene mit Feuchtigkeit vermischt wird.

Sodann überlegt Aristoteles,   ob sich  die einzelnen Sinne auch zum  jeweils Unwahrnehmbaren verhalten.  

Er bejaht die Frage,  muß aber dann so paradoxe Feststellungen machen wie: 

das Sehen bezieht sich auf das Sichtbare und auf das Unsichtbare - die Finsternis ist zwar unsichtbar, aber auch sie wird vom Sehen erkannt und ähnlich aber anders das allzu Helle. 

Dabei handelt es sich nicht um schlechthin Unsichtbares - sondern um Unsichtbares, das entsteht, weil bestimmte Umstände eintreten, die die Lichtverhältnisse verändern,  wodurch das Sehen beeinträchtigt  oder unmöglich gemacht wird.

(Viel banaler die Unsichtbarkeit von Dingen, die von anderen verdeckt werden; die Unsichtbarkeit von allen Körperinneren von Festköpern; die Unsichtbarkeit aller Dinge, die weit entfernt sind (zum Beispiel im Nachbarzimmer)).

Aristoteles hebt die Sache auf die logische Ebene, unterscheidet zwischen dem Unmöglichen überhaupt und verschiedenen spezifischen Unmöglichkeiten oder Unfähigkeiten - etwa bei denen, die „fußlos“ sind oder bei solchen, die „kernlos“  sind.

Irgendwo hat Aristoteles von „kernlosen Trauben“ geschrieben und damit solche gemeint, denen die Kerne fehlen, welche ja zur Fortpflanzung dieser Pflanzen notwendig sind.


Der Begriff, mit dem Aristoteles derartige Phänomene gefaßt hat, ist derjenige der „steresis“ oder der „Privation“: da fehlt einer Sache etwas, was normalerweise zu ihr gehört.  Wenn einer Sache, etwa einem Lebewesen,  bestimmte Teile, etwa  der Kopf oder das Herz,  fehlen würden,  dann würde die „Beraubung“ in „Vernichtung“ übergehen.  Dazu der Abschnitt 27 über „verstümmelt“ im Buch V der Metaphysik  (kursiv) .


Analog verhält es sich  beim Schmeckbaren und beim Nicht-Schmeckbaren. Etwas Schmeckbares kann nicht-schmeckbar werden,  wenn das Schmeckorgan, also die Zunge, durch Krankheit  verändert ist. 

Aristoteles nennt so  verschiedene Schmeckqualitäten wie süß, ölig, bitter, salzig, scharf, herb, sauer, stechend.  Diese Qualitäten  liegen im Schmecksinn nur der Möglichkeit nach. Zur vollendeten Wirklichkeit werden sie erst durch die Wirkung der  Schmeckbaren gebracht. 


Da fügt  Aristoteles zwei weit auseinander liegende Wörter so zusammen, daß die Begriffe sich überlagern:

das Poietische und die Entelecheia.

Im Vollzug einer Schmeckwahrnehmung  sind zwei Aktionssubjekte  auf ganz unterschiedliche Weise aktiv und erfolgreich:  das essende Kind und die wohlschmeckende  Banane.

Die wohlschmeckende Banane entfaltet ihre süßen Geschmacksnuancen erst im Mund des schmeckend-genießenden Kindes.  Das Kind genießt die Banane erst dann so richtig, wenn diese im Mund angekommen ist. Sie ist etwas Eigenständiges und Äußerliches - sie kommt von weit her.  

Zum Gesamtvorgang gehört auch eine große geographische Distanz, die mit anderen Medien bewältigt worden sein muß - außerhalb der eigenkörperlichen Medien im Mund des Kindes. 

Im schmeckenden Kind und in der schmeckenden Banane kommt eine Dimension des Kosmos zum Vollzug. 

Und zu dem gehören auch die Wörter, die ich hier Aristoteles folgend herschreibe - sowie auch irgendwelche Worte, die das essende Kind mit den Menschen in seiner Umgebung austauscht und mit denen es mitteilen will, wie sehr ihm die Banane schmeckt. 

Auch die Worte sind Medien, die zwischen den auseinander liegenden Akteuren agieren, damit die zusammenkommen. 

Wenn wir in Bezug auf Aristoteles das Wort „Medien“ verwenden,  dann schieben wir ihn in eine moderne Problematik ein.  

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