24. Jänner 2024
Die beiden Bücher XIII und XIV machen einen eher
schwachen Eindruck, da sie nach dem Buch XII, welches die aristotelische
Theologie einigermaßen deutlich umreißt, kein eigenes Thema aufweisen zu können
scheinen.
Sie gehen von der Mathematik aus, die in der
aristotelischen Wissenschaftsklassifikation einen bestimmten Platz einnimmt:
als zweitgenannte theoretische oder kontemplative Wissenschaft nach der Physik
und vor der Theologie. In der Metaphysik widmet sich das Buch X mit den
Begriffen des Einen und des Vielen und der Zahl grundlegenden Betrachtungen zur
Mathematik, die es insgesamt mit einem der Akzidenzien, mit der Quantität, zu
tun hat, was er auch in Buch XIV wieder in Erinnerung ruft (1089b 34f.).
Folgt man Aristoteles, so fanden vor sehr langer
Zeit in Ägypten Menschen die Muße, um sich wissenschaftlicher Tätigkeit, etwa
der Mathematik, hinzugeben (siehe I, 982b, 23ff.).
Zwei Jahrhunderte vor Aristoteles gründete
Pythagoras von Samos (570-510) in Unteritalien eine religiös gestimmte
Philosophenschule, in der die Mathematik und die Musik intensiv gepflegt worden
sind. Ihre Lehre prägte auch die Akademie von Platon (428-372) sehr stark, in
der Aristoteles zwanzig Jahre als Schüler, vielleicht auch schon als Lehrer
gelebt hat.
In den jetzt gelesenen Büchern der Metaphysik geht
Aristoteles von der Mathematik aus und arbeitet sich kritisch bis polemisch damit
ab, die Bedeutung der Zahlen und der geometrischen Figuren von sachlich nicht
haltbaren Aufladungen zu befreien. Er möchte ihnen „keine andere Natur
zuschreiben, sondern nur schauen, ob sie sind oder nicht sind, und wenn sie sie
sind, in welcher Weise sie sind“ (XIII, 1076a 23ff.)
Aristoteles insistiert darauf, daß Zahlen nicht
Ursachen, nicht Prinzipien, nicht Wesen, nicht Ideen sind. Sie seien nur Zahlen
- also Mittel zur Zählung von Dingen, zu deren Existenz und Essenz sie wenig
bis nichts beitragen.
Die Hartnäckigkeit, die polemische Intensität, mit
der die Zahlen auf ihre Seinsweise zurechtgestutzt werden, verfolgt wohl nicht
das Anliegen, eine „Reine Zahlenlehre“ zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, von
der Mathematik aus mannigfache Phänomene in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie
sie sich von da aus darstellen. Also die Mathematik wird sozusagen als
Observatorium benützt, mit dem fragwürdige philosophische Theorien kritisiert
werden. Aber auch neue Schlaglichter auf schon bekannte Phänomene geworfen
werden - angeblich bekannte Phänomene: denn die bekannten Phänomene rutschen
nur allzu leicht ins Ungefähre und Unbekannte.
Die mathematischen Größen können sich in den
wahrnehmbaren Dingen nur potenziell befinden; außerhalb ihrer, also
selbständig, können sie gar nicht existieren.
In einer entgegengesetzten Richtung betont
Aristoteles, daß „die mathematischen Wissenschaften sehr wohl vom Schönen oder
Guten sprechen, und daß sie das in höchstem Maße deutlich machen; auch wenn sie
sie nicht benennen, so zeigen sie doch ihre Werke und Proportionen auf. Die
hauptsächlichsten Arten des Schönen sind Ordnung, Gleichmaß und das Begrenzte.
Diese aber werden am besten von den mathematischen Wissenschaften gezeigt. Und
weil diese (nämlich die Ordnung und das Begrenzte) Ursachen vieler Dinge zu
sein scheinen, so ist es offensichtlich, daß die mathematischen Wissenschaften
auch von einer solchen Ursache sprechen, die als das Schöne gewissermaßen
Ursache ist. Noch deutlicher werden wir darüber noch an anderen Stellen
sprechen.“ (1078a 34ff.)
Mein Grazer Übersetzer bemerkt dazu, daß daß dieses
Versprechen von Aristoteles nicht eingelöst worden sei.
Und man kann auch die Vermutung anfügen, daß diese
Stelle ein ernst zu nehmendes „Symptom“ sein könnte - dafür, daß der Text
unvollständig überliefert oder gar unvollständig - nämlich nicht -
fertiggestellt worden ist, etwa weil der Autor durch einen schwerwiegenden
Zwischenfall daran gehindert worden ist.
Daß er gerade an dieser Stelle unterbrochen,
abgebrochen worden ist, muß tatsächlich als schwerer Unfall betrachtet werden -
denn die Stelle ist vielversprechend. In höchstem Maße aufzeigend, am besten
zeigend - das sind gerade die erkenntnispolitischen Glücksfälle, die hier im
Text selber genannt werden.
Daher ist es sehr wohl angebracht, hier einen „Fall“
von „Verstümmelung“ anzunehmen - jenem Unglück, das von Aristoteles in sein
Begriffslexikon (im Buch V) aufgenommen worden sind, wo angeblich nur „Grund-
oder Hauptbegriffe“ Platz finden können. Wir müssen unser Verständnis von
„Grund- oder Hauptbegriffen“ revidieren, wenn wir dem aristotelischen Denken
näher kommen wollen, als es die bisherigen Aristoteles-Klassiker zustande
gebracht haben. Aristoteles versteht unter Verstümmlung einen Vorgang bzw.
einen Zustand, der knapp vor der Zerstörung oder Vernichtung liegt - und das
Kriterium für die Unterscheidung liegt im Begriff des Wesens: wenn das gerade
noch bewahrt ist (was sich an der Funktionsfähigkeit bemißt), dann kann man von
Verstümmelung, dann muß man nicht von Vernichtung sprechen.
Diese Stelle liegt gewissermaßen quer, ja konträr zu
meiner obigen Einschätzung, daß Aristoteles hier die Mathematik nur zurechtstutzen
oder gar reduzieren will. Die Mathematik will er gar nicht zurechtstutzen - nur
irrige „philosophische“ Deutungen will er korrigieren.
Es folgt eine Auseinandersetzung mit der
platonischen Ideenlehre - oder mit einer Auffassung davon, welche dem
Begriffsallgemeinen, das von Sokrates erstmalig präzis als das „was“ eines
Dinges, einer Eigenschaft oder eines Vorganges definiert worden ist, ein
selbständiges Existieren zuspricht.
Und mit der Auffassung, daß innere Formen (die auch
Aristoteles annimmt), etwas entstehen lassen. Dazu brauche es auch ein „Etwas,
das bewegt hat“ (1080a 4).
Sodann eine langwierige Auseinandersetzung mit der
These, daß die Zahlen selbständig existieren und agieren - wobei Aristoteles
hier auch ein Element der sogenannten ungeschriebenen Lehre Platons kritisiert:
„das Eine und die unbestimmte Zwei“. Was wiederum dazu führt, daß er
pythagoreische und platonische Ansichten miteinander zusammenbringt (worüber er
als langjähriger Platon-Schüler und wohl auch -Assistent) bestens informiert
gewesen sein muß. Wiederum verteidigt er die Lehre des Sokrates, die ja Platons
Lehre überhaupt erst „bewegt“ hat.
Auch der Wahrnehmungsvorgang wird als Beispiel
angeführt: „In akzidenzieller Weise sieht der Gesichtssinn die allgemeine
Farbe, weil eben ‚diese Farbe‘, die er gerade sieht, Farbe ist.“ (1087 a 19f.)
Eine philosophiehistorische Ursache für das
Aufkommen der falschen Hypostasierungen, wie sie in der sogenannten Ideenlehre
sich durchgesetzt haben, sieht er in einer von Parmenides vorgeschlagenen Vereinheitlichung
der Realität - wogegen er seine pluralistische Ontologie zur Geltung bringt: „das
Seiende ist teils ein Das, teils ein Qualitatives, teils ein Quantitatives,
teils ein Örtliches.“ (1089a 14).
Die zahlenartigen angeblich platonischen Prinzipien
sind nicht geeignet, Ursache dafür zu sein, „daß es zweierlei Weiß gibt oder
viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren - sonst wären nämlich auch sie Zahlen
und Einsen.“ ( 1089a 37f.).
Die Flüssigkeiten gehören für Aristoteles zu den
Körpern, weil eines der vier Elemente das Wasser ist - neben der Erde, der Luft
und dem Feuer. Unsere Gewohnheit, nur Festkörper für Körper zu halten, hat sich
seit der Neuzeit herausgebildet. Michel Serres hat in dem genannten Buch über
Lukrez den beweglicheren Körpern einen gewissen Vorrang eingeräumt - weil sie
den mikrophysikalischen Vorgängen näherbleiben.
Selbst wenn es die Zahlen nicht gäbe, „gäbe es die
Seele und die wahrnehmbaren Körper“ (1090b 1). Die Seele ist eine bestimmte Art
von Formursache, die bestimmte Körper auszeichnet - ihnen aber nicht die
Körperlichkeit nimmt (eher im Gegenteil!).
Empfindungen sind einerseits Bestimmungen des
Wahrnehmenden, andererseits Eigenschaften des Wahrgenommenen - der Körper. „Das
Weiße, das Süße, das Warme“. (1092b 16). Eine zufällige (?) Zusammenstellung
von beinahe intimen Qualitäten, die keine Zahlen sind.
Mit diesen Beispielen „rettet“ Aristoteles das
Physische als solches, das aufseiten der sogenannten Subjekte und auch der
Objekte besteht.
Noch intimer die sprachlichen Laute, etwa die Konsonanten,
die an verschiedenen Stellen im Mund gebildet werden. Wenn mehrere Konsonanten
unmittelbar zusammentreffen und somit eine Konsonanz bilden, werden sie
entweder zu einem Buchstaben zusammengeschrieben - wie etwa X - oder die
Schrift schreibt sie einzeln - wie etwa GR. Phonetik und Graphik bilden die
Physik der Sprache. (1093a 21ff.) Ein angrenzender Phänomenbereich ist die
Musik.
Diese „Mikrophysik“ geht direkt in eine Physik der
Kultur über, in die Ästhetik, wie sie Aristoteles auch der Mathematik
zugeordnet hat.
Und die verweist direkt auf die „Physik“ jenes
Wesens, die nach Aristoteles eine „andere Physik“ ist:
eine des „Ersten, Ewigen, des Selbstgenügsamsten,
des Ersten, das das Heil ist und sich selbst genügt, und dem das Gute zukommt. Es
muß unvergänglich und sich selbst genügend sein - weil es sich gut verhält“
(1091b 16ff.).
Die von den mathematischen Wissenschaften
aufgewiesenen Schönheitswirkungen verbinden die Qualitäten des Physischen mit
den Qualitäten des ersten Prinzips, welche sowohl ethische wie ontische sind.
Eine Figur in einer Konstellation, die die
Theographie des Buches X vollendet - und doch nicht vollendet - hat.
Die Tatsache, daß Aristoteles zuletzt in Anlehnung
an die „mathematischen Wissenschaften“ die Wirkungen und Proportionen des
Schönen und Guten herbeiruft, um die Positionierung des „Schönen als Ursache“ plausibel
zu machen, wenn auch nicht vollkommen, erlaubt es mir, ein nicht ganz
vollkommenes Bild von so einer Ursache hier einzuschalten.
Walter Seitter