τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 1. Mai 2024

De Anima lesen (403a 3 – 403b 19)

24. April 2024 

 

Von der Frage nach der korrekten Deklination von nous stolpern wir über dessen aktiv-passive Zwitternatur zu möglichen Übersetzungen des dazugehörigen Verbs noein: von „denken“ bzw. „verstehen“ über „wahrnehmen“ und „erfassen“ zu „vernehmen“ – was einerseits einfach „hören“ bedeutet, andererseits an polizeiliche Einvernahme erinnert. Vermutlich weil dieser letztens seinen 300. Geburtstag gefeiert hätte, landen wir damit endlich bei Kant, dessen theoriegeschichtliche Bedeutung mitunter daran festgemacht werden kann, dass seit ihm als modern gilt, den (Untersuchungs)Gegenstand als etwas aufzufassen, das sich nach dem Erkennen richtet, anstatt der (antiken) Auffassung zu sein, das Erkennen richte sich nach dem Gegenstand. Letztere Vorstellung liegt auch wörtlich näher am herkömmlichen Theoriebegriff, der sich ja vom Zuschauen ableitet. Mit seiner selbst so genannten „kopernikanischen Wende“ hat Kant das Denken oder die Theorie dem polizeilichem Vernehmen angenähert: die Polizei (= Wissenschaftler, Subjekt) bestimmt, was sie wissen will, der Verdächtige (= Objekt), antwortet im Sinn der Frage bzw. „sagt“ was diese hören will (und idealerweise damit auch die Wahrheit). Um dem Vorwurf des Idealismus auszuweichen hat Kant in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft dann unterschieden zwischen empirischem und transzendentalem Idealismus und seine Wende auf letzteren beschränkt. 

 

Die beste Übersetzung für nous/noien bleibt aber, wenn man Buchheim folgen mag, „Verstehen/verstehen“. Nicht nur weil auch hier für den nominativen und prädikativen Gebrauch dasselbe Wort verwendet werden kann, sondern vor allem deshalb, weil das Verstehen sozusagen Wahrheits-inklusiv ist. Für ein Erkennen, Wahrnehmen, Erfassen oder auch Vernehmen, das in dieser Hinsicht unbestimmt ist und auch falsch sein kann, verwendet Aristoteles dagegen den Ausdruck diainoia (bzw. dianoeisthai).

 

Weiter im Text:

Aristoteles reflektiert die Frage nach dem Verhältnis des Seelischen zum Körperlichen. Besonderes Augenmerk liegt darauf, ob es etwas „eigentümlich“ Seelisches gäbe. Nur wenn dies der Fall sei, könne es auch abgetrennt vom Körperlichen existieren. Wer hier eine klare Ansage erwartet, wird enttäuscht. Wie ein Fluss, der definitiv weiß wo es lang gehen soll, aber seine Breite und Tiefe gemächlich ‚ausbadet‘, mäandert Aristoteles zwischen den hierbei möglichen Positionen und steckt diese gleichzeitig ab. 

 

Um seine Auffassung bzw. die wirklichen Verhältnisse besser verständlich zu machen, bedient sich Aristoteles einer geometrischen Analogie, die uns nicht richtig einleuchten will (ab 403a 10). Buchheim ergänzt in seinem Kommentar Metaph. B2, 997b 32ff.: 

 

„Zugleich ist auch das nicht wahr, dass die Geometrie (geôdaisia) sich auf wahrnehmbare und vergängliche Größen bezieht; denn dann ginge sie zugrunde, wenn diese vergehen. Vielmehr dürfte sie sich so wenig auf die wahrnehmbaren Größen beziehen, wie die Astronomie auf gerade diesen Himmel hier. Denn weder sind die wahrnehmbaren Linien solche, wie sie der Geometer begreift (keines von den wahrnehmbaren Dingen ist ja so gerade oder rund: der Kreis berührt den Richtstab nämlich nicht in einem Punkt, sondern wie Protagoras sagte, um die Geometer zu widerlegen), noch sind die Bewegungen und Spiralläufe des Himmels denen gleich, über die die Astronomen ihre Sätze fabrizieren.“  
 

Was Protagoras sagte, kann ich leider nicht rekonstruieren, aber vielleicht entspricht es doch meiner Vermutung, dass eine ‚echte‘ Linie (wie z. B. eine Messlatte) einen ‚echten‘ Gegenstand nicht nur an einem Punkt, sondern, wenn auch minimal, ‚flächiger‘ berührt? Aristoteles möchte damit jedenfalls deutlich machen, dass seelische Aspekte nicht wie mathematische Konstrukte als abstrahiert (abgezogen) vom Körperlichen denkbar sind, sondern nur als enhylo logoi: „in Materie befindliche Begriffe“. 

 

Als Beispiele für Leidenschaften, die „sämtlich im Verein mit einem Körper“ (Buchheim) existieren, zählt Aristoteles auf: Eifer, Milde, Furcht, Erbarmen, Zuversicht, Freude und das Lieben und das Hassen. Wir bemerken dazu, dass im Originaltext an der Stelle von „Liebe“ philia geschrieben steht. Nicht agape, wie im zweiten Satz der Metaphysik.[1]

 

Bei alledem fragt sich Aristoteles, wer für die Untersuchung des Seelischen zuständig sei und spielt durch, inwiefern das davon abhängt, was man darunter versteht bzw. was vom Seelischen man jeweils zu fassen versucht. Obgleich Seelisches nicht unabhängig von Körperlichem sein kann, so bleibt deren gesonderte Untersuchung „als abgetrennt [von Materie]“, dennoch die Aufgabe des „ersten Philosophen“ (protos philosophos – ein Ausdruck der sich, in dieser personalisierten Form ausschließlich hier, sonst nirgends bei Aristoteles finden lässt).[2]

 

Zu den vordringlichen Aufgaben dieses unmöglich scheinenden Jobs wird zählen, diese Konstellation widerspruchsfrei zu denken. Das Seelische ist Gegenstand vieler anderer Disziplinen; je nach Herangehensweise/Definition ändert sich seine Erscheinungsform, was Aristoteles an den Beispielen „Zorn“ und „Haus“ illustriert. Auffällig ist schließlich noch die Festellung, dass der Naturwissenschaftler „von überhaupt allem handelt.“ – Buchheim erklärt dies so, dass dieser „auch vom göttlichen nous handelt, sofern dieser nämlich nötig ist, um die Verstehensleistung körperlich existierender Lebewesen zu erklären.“ Zudem sind selbst die reinen Leistungen des Verstandes nur unter der Bedingung gewisser, körperlich bedingter Kognitionen möglich (vgl. III 4–8).

 

Ivo Gurschler   



[1] Vgl. dazu Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin (1929)

[2] Wir erinnern uns an die Definition der „ersten Philosophie“ in der Metaphysik: entweder „Theologie“ oder „Ontologie“, in Wahrheit wohl beides.

Montag, 22. April 2024

De Anima lesen 4

Protokoll zu Hermesgruppe von Karl Bruckschwaiger


Mittwoch, den 10. April 2024


In De Anima lesen


Aristoteles – Lektüre 4 (402b, 10 – 403a, 10) Meiner 1995


Wenn die Seele Teile hat und es nicht viele Seelen gibt, womit soll die Untersuchung begonnen werden. Auch wenn Aristoteles die Frage stellt, ob man mit der ganzen Seele oder mit den Teilen beginnen soll, nimmt er doch Seelenteile an, obwohl er da Vorbehalte hat, welche von Natur her zu unterscheiden sind. Die Frage wird nicht beantwortet, sondern das Fragen weiter differenziert und in den angeführten Beispielen liegt ein Teil der Antwort auf die zuvor gestellte Frage. Wenn die Teile untersucht werden sollen, fragt Aristoteles weiter, ob zuerst die Teile selbst oder deren Leistungen oder Arbeit (erga) kommen soll. Als Beispiele wird der Leistung des Denkens (noein) der Seelenteil der Vernunft (noun) als Prinzip vorausgesetzt und des Wahrnehmen (aisthanesthai) das Wahrnehmungsvermögen (aisthetikonomoios), wie auch bei den anderen Teilen.

Nach Corcilius sind diese anderen Teile die vegetative Selbsterhaltung und die Bewegung, aber wegen des knappen Stils werden sie hier nur angedeutet.

Die Untersuchung wird bei der Konzentration auf die Leistung des Seelenteils mit der nächsten Schwierigkeit (aporeia) konfrontiert, der Frage nach den Gegenständen des Wahrnehmens und des Denkens. Und natürlich ob der Denkgegenstand (noeton) vor dem Denken (nou) zu behandeln sei.

Es folgt eine Abwägung der Nützlichkeit des Erkennens des Was-es-ist, um die der Substanz zukommenden Eigenschaften zu erkennen, gegenüber der Umkehrung, das wir am besten über die Substanzen oder das Was-es-ist sprechen können, wenn wir die Eigenschaften (symbebekota) erklären können. Für den ersten Fall wird die Mathematik bemüht, wo die Kenntnis von Linien und Flächen zum Wissen über Gleichheit von rechten Winkeln in Dreiecken beiträgt Wenn das Prinzip alles Beweisens (apodeixeos) das Was-es-ist sein soll, dann müssen alle Definitionen, aus denen sich keine Erkenntnis der Eigenschaften ergibt leeres Gerede sein. In Aristotelischen Worten dialektisch und leer (dialektikos kai kenos).


Widerfahrnisse

Von den Leistungen und Eigenschaften wechselt Aristoteles von einem Satz auf den anderen zu den Widerfahrnissen (pathé) der Seele und ihrem Träger. Walter Seitter würde wohl sagen von den Activa zu den Passiva, obwohl es nicht ganz stimmt, denn einige von den Widerfahrnissen können auch Leistungen sein, wie etwa das Wahrnehmen. Aristoteles hat sofort die Frage nach den Erleiden der Seele weitergeführt zu der Frage ob es pathé gibt, die nur die Seele erleidet, aber nicht der Körper des Trägers. Da werden das Zürnen, Mutig sein, Begehren und Wahrnehmen angeführt, die nun ohne den Körper nicht denkbar sind. Am ehestens kommt für Aristoteles das Denken als körperlose pathé in Frage. Aber wie widerfährt das Denken der Seele, wie erleidet es das Denken, ohne den Körper einzubeziehen.

Aristoteles zieht sofort eine Linie zum Körper, das das Denken als eine Art Vorstellung gedacht werden könne oder nicht ohne Vorstellung (Phantasia) ist, und somit nicht ohne den Körper sein kann. Wenn sich aber kein Seelenteil vom Körper abtrennen lässt, so werden alle Widerfahrnisse der Seele auch den Körper betreffen.

Hier endet unsere Leseerfahrung vorläufig.


Karl Bruckschwaiger

 

De Anima lesen 3

Peri psyches

402a 23 - 402b 9
Protokoll vom 3.4.2024


Was ist die Seele?
Zu welcher Gattung können wir sie einreihen? Oder was ist sie?
Ist die Seele, dem Vermögen nach, ein Seiendes? Oder ist sie eher eine gewisse Art der wirklichen
Vollbringung (entelecheia)?
Sind sie (die Seelen) alle gleich, oder der Form, der Art (eidos) beziehungsweise der Gattung
(genos) nach verschieden?
Es geht zunächst darum sich der Frage zu stellen, von welchen Ausgangspunkten aus (a 21) die
Untersuchung begonnen werden muss. Aristoteles betont hier, dass es sich dabei um eine
Entscheidung handelt. Es ist notwendig, sich zu entscheiden (anagkaion dielein):
a. zu welcher der Gattungen die Seele gehört, und
b. was sie ist (ti esti).
Es stellt sich also hier die Frage, ob sie (die Seele) ein bestimmtes Ding (tode ti) und Substanz
oder einer kategorialen Bestimmung zuzuordnen sei. Dabei wird auf die verschiedenen
Kategorien Bezug genommen. Zu den Unterscheidungskriterien gehört ebenfalls der Akt:1
zu unterscheiden / zu entscheiden, ob sie etwas ist, das im Zustand eines Vermögens (en
dynamei) sich befindet oder sie als entelecheia – als ein Ding, ein Lebewesen oder eine
Wirkmöglichkeit im Status des vollendet-Vollgebrachten sich befindet.
(Eine Anmerkung hinzu: Das Wort entelecheia übersetzt Buchheim mit „Selbstvollbringung“ und
unterstreicht dabei, dass es sich um einen terminus technicus des Aristoteles handelt.
(‚en‘ ‚telos‘ ‚echein‘) – Buchheim: „Entelecheia ist die Innehabung des Endes oder der Vollendung
im herrschenden Zustand von etwas.“)
Des weiteren muss untersucht werden, ob jede Seele aus Teilen besteht oder sie als ungeteiltes
Ganzes existiert. Ebenso muss untersucht werden, ob sie (die Seelen) dem gleichen eidos
zugehören oder nicht. Und falls nicht, inwiefern sie sich unterscheiden: in Bezug auf das eidos
beziehungsweise in Bezug auf das genos .2
Aristoteles kritisiert an dieser Stelle diejenigen Theoretiker, welche ausschließlich von der
menschlichen Seele als Grundlage ihrer Forschungen ausgingen. Ob sozusagen eine Definition
der Seele auf ein Lebewesen zurückgeht, oder es für jede Art (eidos) eine andere Bestimmung
Aristoteles, Kategorien, Meiner Verlag 1974, Kap. 4: „Jedes ohne Verbindung gesprochene Wort1
bezeichnet entweder eine Substanz oder eine Quantität oder eine Qualität oder eine Relation oder ein Wo
oder ein Wann oder eine Lage oder ein Haben oder ein Wirken oder ein Leiden“.
Die Differenz in Bezug auf das genos ist intensiver als die Differenz in Bezug auf das eidos. Vgl.2
Metaphysik, I, 8, 1057b 35ff.
gäbe. 402b 3 „…ob sie der Form oder der Gattung nach verschieden sind.“ Er spricht hier nicht
nur von den Menschen, sondern ebenso den Tieren und dem Gott.
402b 5-10 / Die Übersetzung Buchheims von dieser Stelle lautet:
„man muss aber aufpassen, dass einem nicht entgeht, ob ihre Definition eine ist, wie die von Lebewesen,
oder im Gefolge von jeder eine andere, wie z.B. von Pferd, Hund, Mensch, Gott, während das Lebewesen
als das Allgemeine entweder nichts ist oder später; genauso, wenn etwas anderes als gemeinsam
ausgesagt würde.“
Zur Unterscheidung zwischen der Bedeutung von Form und Gattung möchte ich ergänzend
folgende Zeilen aus der Metaphysik hinzufügen:
1057b 35-37
„Das der Art nach andere ist anderes zu etwas in etwas und dieses muß beiden zukommen; z.B. wenn ein
Lebewesen der Art nach anderes zu einem anderen ist, so sind beide Lebewesen. Das der Art nach andere
muß sich also notwendig in derselben Gattung befinden.“
1057b 38-1058a 5
„Ich nenne nämlich dasjenige Gattung, was von beiden als ein und dasselbe ausgesagt wird und das sich
nicht bloß in akzidenteller Weise unterscheidet, mag es nun als Stoff existieren oder auf eine andere Weise.
Es muß nämlich nicht nur das Gemeinsame sich in beiden finden, daß z.B. beide Lebewesen sind, sondern
eben dies selbst, Lebewesen, muß für jedes von beiden ein anderes sein, z.B. Mensch und Pferd. Deshalb
ist das Gemeinsame untereinander der Art nach ein anderes.“
Zur Unterscheidung zwischen Pferd und Mensch:
Beide sind Lebewesen, der Unterschied zwischen beiden liegt daran, dass sie ein Anderssein der
Art nach sind. Der Punkt jedoch, der in Verbindung mit der hier besprochenen Textstelle (402b
7-9) von Bedeutung ist, betrifft die Frage, ob die allgemeine Bestimmung von der Seele
nachträglich komme, also nach der von der Art nach ausgesagten.
1058a 7-8
„Ich nenne nämlich den Unterschied der Gattung eine Anderssein, welcher diese selbst, die Gattung, zu
einem anderen macht.“


Sophia Panteliadou
Wien, 10.4.2024

Sonntag, 14. April 2024

De Anima lesen 2

In De Anima lesen  

Mittwoch, den 20. März 2024

Aristoteles – Lektüre 2 (402a, 7 – 402a, 23) Meiner 1995

Im letzten Satz vor unserem Abschnitt wurde die Seele wie ein Prinzip (arché) der Lebewesen bestimmt oder eigentlich vor der Untersuchung schon als Ausgangspunkt festgelegt. Klaus Corcilius, der Übersetzer der neueren Meiner-Ausgabe von De Anima aus dem Jahre 2017 schlägt als Übersetzung von arché neben Prinzip auch Ausgangspunkt vor. Dieser Übersetzer ist viel etymologischer interessiert als Horst Seidl, der Übersetzer der älteren Meiner-Ausgabe von 1995, der in seinem Kommentar sich vielmehr auf die Philosophiegeschichte bezieht und Frage nach den Wörtern etwas vernachlässigt.

Das erste Wort unseres Abschnittes ist epizetoumen, wo der G-Moll vorschlägt aufsuchen, vermissen und begehren und Corcilius übersetzt: Wir stellen uns die Aufgabe, um was zu tun? Zu betrachten und zu erkennen (theorésai kai gnonai) ihre Natur und das Wesen und alle hinzukommenden Eigenschaften (symbebêkota kath´hauta). Corcilius warnt im vorhergehenden Einführungskommentar davor, diese Eigenschaften mit den gleichlautenden Akzidentien zu verwechseln. Das wollen wir hier ohnehin nicht tun, obwohl Aristoteles im nächsten Satz im Bezug auf diese Eigenschaften zum einen von eigentümlichen Widerfahrnisse der Seele spricht und zum anderen, dass sie dadurch auch den Lebewesen zukommen. Diese Widerfahrnisse (idia pathé) werden bei Corcilius so übersetzt, bei Seidl nur als Eigenschaften, sie scheinen zu allererst nur der Seele zuzukommen und in der Folge auch den Lebewesen.

Es handelt sich doch zuerst um eine Seelenkunde und in der Folge um eine Grundlegung der zoologischen Wissenschaften.

Es folgt die Ankündigung, das es zu den schwierigsten Aufgaben gehört, etwas Verlässliches (pístin) über die Seele in Erfahrung zu bringen. Bei Seidl wird pistis zu Glaubwürdigkeit, bei Gernot Krapinger, Reclam 2011 wird es mit Gewissheit übersetzt. Eine Tendenz zur Steigerung von verlässlich bis zur Gewissheit.

Jetzt fragt sich Aristoteles, und er stellt sich rhetorische Fragen, ob es für die Frage nach der Substanz (ousia) und dem Was-es-ist (to ti esti) nur eine einzige Methode gibt und für die hinzukommenden Eigenschaften den Beweis (apodeixis), sodass man nur diese Methode zu suchen hätte.

Gibt es nicht nur eine einzige Methode, muss man diese für jedes Einzelgebiet herausfinden, wäre der Beweis (apodeixis) oder die Einteilung (diairesis) gefunden, so bleiben noch die Schwierigkeit (aporias) und der Zweifel, von wo der Auslassungspunkt der Untersuchung genommen werden soll.

Denn unterschiedliche Dinge haben unterschiedliche Ausgangspunkte, wie bei Zahlen und Flächen im Gegensatz zu Körpern angenommen werden muss.


Karl Bruckschwaiger





Samstag, 24. Februar 2024

In der Metaphysik lesen – Post-Protokoll II

19. Februar 2024

 

Dieses zweite Post-Protokoll könnte auch Para-Protokoll heißen, weil es zu den bisherigen regulären Protokollen mehr lateral hinzutritt: nicht von den Lektüre-Gesprächen auf dem Hohen Markt kommend, sondern von einem Gespräch in meinem „Montags-Café“ – nämlich dem Teehaus Haas & Haas hinter der Stephanskirche, welches Haus nach wie vor dem Deutschen Orden gehört und daher im sogenannten Volksmund auch „Deutsches Haus“ heißt; natürlich hat es auch einen engen örtlichen Bezug zur Stephanskirche, und wenn man im Sommer heraußen sitzen kann, hört man vor und um und nach Zwölf die Glockenschläge und das Glockenläuten dieser Kirche nach dem Glockengebimmel der Deutsch-Ordens-Kirche – also insgesamt eine Art Konzert, aber ein vormodernes, während dessen man nicht zu striktem Schweigen verpflichtet ist; und drittens hat das Teehaus – für mich – einen engen Bezug zu Conrad Celtis, dem einzigen in alten Zeiten gelehrt habenden Philosophen in Wien, dessen Epitaph an der Ostwand des Nordturmes, des halben, angebracht ist und in dem er zwar lateinisch, aber immerhin, sagt, er lebe immer noch.

 

Und in diesem Teehaus habe ich mich neulich mit Cezarina Sima getroffen, die ich vom Philosophencafé kenne.

 

Unser Gespräch ging von zwei unterschiedlichen Begrifflichkeiten aus: den sogenannten „Werten“, ohne die ein gutes Leben nicht möglich zu sein scheint, und dann von der Frage, ob es uns Menschen möglich sei, das „Wesen“ irgendwelcher Dinge zu erkennen, wo doch unsere Wahrnehmungen immer nur subjektiv ist.

 

Cezarina sagte, die Werte seien in uns und damit seien sie auch schon gegeben. Ich dazu: man sollte sie schon näher benennen, damit nicht jeder einfach auf „seinen“ Werten beharrt und gleichzeitig voraussetzt, die anderen Menschen hätten ohnehin dieselben Werte.

 

Um sie besprechbar zu machen, könne man unterscheiden zwischen verschiedenen Sorten von Werten: dem Angenehmen und dem Nützlichen und dem Edlen. Diese drei Gattungen des „Guten“ seien sehr unterschiedlich – aber alle drei seien „notwendig.“

 

 

Übergang zur „Wesensfrage“ - das „Wesen“ dieses oder jenes Dinges? Ist das eine „ontologische“ Frage. Ich: ja schon eher, aber wenn es sich um konkrete materielle Dinge handelt, vielleicht eine Frage der „Physik“. Aber eine, die man nicht unbedingt einem Physiker oder Chemiker vorlegt.

 

Eine, die man selber mit eigener Wahrnehmung und mit Umgangssprache zu beantworten versuchen kann.

 

Auf dem Kuchenteller liegt neben der kleinen Kuchengabel noch eine halbe Walnuß. Der Vergleich zwischen den beiden Dingen zwingt geradezu zur Vermutung, daß es sich um zwei ganz weit auseinander liegende „Wesen“ handelt, obwohl die beiden Dinge zu einem funktionalen nämlich gastronomischen Komplex zusammengehören.

 

Wie aber nun das Wesen der Nuß bestimmen, sagbar machen, welche Wahrnehmungsversuche anstellen mit ihr: anschaun, angreifen, in den Mund stecken, kauen, schmecken? Schmecken, ob sie gut schmeckt, so wie erwartet oder aber unerwartet steinhart oder fürchterlich grauslich schmeckend . . . . ?

 

Mit welchen Wörtern auf die Wahrnehmungen reagieren? Mit welchen „Wahrgebungen“? Wahrgebungen bilden den Gegenpol, den Reaktionspol, den Antwortpol zu Wahrnehmungen. Die verschiedenen Empfindungsqualitäten kann man halbwegs in Worte fassen. 

 

Aber das Wesen, das eine Spezielle dieses Dinges, seine Gesamtqualität – das Nußhafte? Kann ich immer nur das Wort „Nuß“ wiederholen, vielleicht mit leichten verbalen Abwandlungen umschreiben? 

 

Oder wir stoßen noch weiter vor zum „Eigentlichen“ und ersetzen die Was-Frage durch die Daß-Frage oder vielmehr durch die Daß-Antwort: das da ist!

 

Und dieses „Daß“ oder „Ist“ legt eine Reihe von verbalen Reaktionen aus, von Begriffen wie: Verhalten, Tätigkeit, Wirksamkeit. Beweglichkeit, nämlich Selbstbewegung.

 

Diese Begriffe haben mit dem Wesen der Nuß selber nichts zu tun, sie berühren eine andere Dimension, sie eröffnen sozusagen neben dem Wesen andere Modalitäten.

 

Eine Vielfalt von Modalitäten – auf die der Begriff „Ontologie“ tatsächlich zutrifft, der im 17. Jahrhundert von einigen nicht berühmt gewordenen Aristotelikern erfunden worden ist. Sie wollten damit eine von Aristoteles ausdrücklich „definierte“ aber nicht benannte „Wissenschaft“ benennen. Neben der viel besser bekannten Physik und Mathematik. Auch neben der von ihm sehr umfangreich ausgearbeiteten Logik – und in einem Naheverhältnis zu ihr.  

 

Und da spricht Cezarina, die diese aristotelischen Sachen so gut wie gar nicht kennt, das Wort „sprudeln“ aus, welches diese kleine Explosion von formalen Modalitäten neben dem Wesen, mit dem Daß, vielleicht auch mit dem Wie, und mit der Tätigkeit, beinahe lautmalerisch nachbildet. Denn das Sprudeln kann man auch hören, und wenn es seine Sichtbarkeit verstärkt, sieht man es glitzern. 

Zu den Begriffen, die sich da aufdrängen, gehört auch das Mögliche, natürlich das Eine und das Vielfältige.

 

 

Der Umschlag vom Was zum Daß – über das vermittelnde Wie: das ist nun wirklich ein Sprung, ein Ursprung, ein Katalysator der Ontologie, wo die Ausfaltung verschiedener Seinsmodalitäten anbricht, ausbricht, quasi vulkanisch.

 

Das Begriffsnetz, das Aristoteles von da aus aufgespannt hat, ist sehr umfangreich. Es taucht in dem Metaphysik genannten Buch immer wieder auf, wird weiter gesponnen. Immer wieder auf die Physik und auf die Mathematik bezogen – und davon abgesetzt.

 

Aber es wird auch von einer Dynamik angetrieben, die auf eine andere, sozusagen höhere Ebene verweist. Auf eine Ebene, die dann mit dem Wort „Gott“ bezeichnet wird - bei dem nämlich das Wesen selber Tätigkeit sein soll. 

 

Das Gespräch im Teehaus brachte innerhalb kurzer Zeit das Wort „sprudeln“ hervor - das war schon ein eine beachtliche Steigerung: nämlich ein Wort, ein sehr bekanntes, das etwas sehr Bekanntes bezeichnet: das „Sprudeln“ selber.

 

Walter Seitter