τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 2. Februar 2011

In der Metaphysik lesen

 Wir lesen zuerst Friedrich Kittlers Übersetzung der ersten Sätze der "Metaphysik" - im Kapitel "Säugetiere" von Musik und Mathematik I/2 (171f.). Er übersetzt aisthesis mit "Empfindung", welches Wort den Nahsinnen (Tasten, Schmecken, Riechen) näherliegt, aber auch den Gefühlen, der Lust und dem Schmerz. Eine zweite auffällige Übersetzung ist die von phantasiai mit "Erscheinungen": tatsächlich die "erste" Bedeutung des Wortes aber hier nicht unbedingt die passende; denn die phantasiai werden im Text den menschlichen Erkenntnisvermögen zugeordnet: also eher "Vorstellungsvermögen", "Vorstellungen". Techne gibt er mit "Kunst/Technik" wieder - sachlich sehr treffend; logismoi mit "Rechenwegen" - die anderen vorliegenden Übersetzungen nähern sich nicht so eindeutig der Mathematik.

Dann lesen wir weiter, was Aristoteles zum Verhältnis von Erfahrung und Kunst schreibt. Im großen und ganzen sagt er, daß sich diese aus jener (bzw. aus jenen) ergibt und insofern kann man sie als eine Steigerung, eine Vollendung bezeichnen. Aristoteles erläutert das kurz am Beispiel der Heiltätigkeit, die sowohl auf der Stufe der Erfahrung wie auf der der Kunst praktiziert werden kann: bei dieser kommt das ausdrückliche Wissen von den Ursachen dazu. Dieser Vorsprung der Kunst verliert aber seine Bedeutung, wenn es ums praktische Handeln geht. Da genügt das Erfahrungswissen. Und dann spricht Aristoteles der Erfahrung sogar einen Vorrang zu in bezug auf gelingendes Handeln - aber nicht gegenüber der Kunst sondern gegenüber dem erfahrungslosen theoretischen Wissen.  Er insistiert darauf, daß die Erfahrung eine Kenntnis des Einzelnen ist, und daß sie für das Handeln ausreicht, weil sich das Handeln nur am Einzelnen vollzieht. Der Arzt heilt nämlich den Kallias - zum Beispiel - und nicht den Menschen. Den "Menschen" erreicht sein Heilen nur nebenbei oder akzidenziell - sofern es für Kallias ein bloßer Zusatz ist, Mensch zu sein (981a 18). Symbebekos ist das zufällig Dazugekommene, lateinisch Akzidens, darunter versteht man gewöhnlich kontingente, auswechselbare Eigenschaften wie blond oder dick oder Sokrates heißend, die einem feststehenden Wesen - etwa Mensch - zukommen. Hier hingegen dreht Aristoteles diese seine eigene bzw. auch platonische Ordnung um und erklärt den "Menschen" zu einem Akzidens von Sokrates, welcher damit als Individuum zur Substanz erklärt wird. Einerseits eine totale Umkehrung der "richtigen" ontologischen Ordnung, andererseits aber doch auch ein Symptom für ein typisch aristotelisches und antiplatonisches Schwanken  gegenüber der Frage, welche Substanz (ousia) die erste ist: die allgemeine Wesensform oder das existieren könnende Einzelwesen.

Dieses Schwanken ist innerhalb der Schriften des Aristoteles feststellbar. An dieser Stelle aber treibt er die eine Position - die zugunsten des Einzelwesens  - auf die Spitze, weil die Alternativik nicht diejenige zwischen Erster und Zweiter Substanz ist sondern die zwischen Substanz und Akzidens.
Eine vergleichbare Umdrehung der ontologischen Ordnung haben wir in der Poetik gefunden - in dem Satz, die Tragödie ahme nicht Menschen nach sondern - nun ja: lauter Akzidenzien. Als ob es diese Akzidenzien ohne die Menschen geben könnte. In unserer Stelle: der Arzt heilt nicht (einen) Menschen sondern das Individuum, das nur akzidenziell Mensch ist. Auch hier Menschen-Negierung - mit dem Zusatz, akzidenziell werde doch auch der Mensch erreicht. Hier werden sogar die Begriffe "Akzidens" und "Substanz" andersherum zugeordnet (allerdings nicht diese lateinischen Begriffe, sondern das griechische Wort für "Akzidens", während "Substanz" auch griechisch nicht direkt vorkommt).

Walter Seitter

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