τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 9. Februar 2011

In der Metaphysik lesen

Heute der 80. Geburtstag von Thomas Bernhard - dessen Erwähnung uns an die Poetik erinnert, wo der Tragödie zwei Material-Ursachen zugewiesen worden sind: die Rede und die Musikmachung. Thomas Bernhard hat in allen seinen Texten Reden geschrieben, denen übrigens eine hohe Musikalität nachgesagt wird. Seine Reden neigen zu Endlos-Monologen, weshalb die Romane seine konsequentesten "Dramen" sind. Dramen mit einem einzigen "Schauspieler" oder "Theatermacher" - laut Aristoteles die Urform der Tragödie (vor Aischylos), wo es aber außerdem noch den Chor gab). Bei Thomas Bernhard kann man sich als "Chor" die abwesend-anwesenden Leute dazudenken, gegen die der Redner anredet: also die Salzburger oder die Künstler oder die Österreicher oder sonstige Stumpfsinnige.[1] Peter Handke, der Geistesverwandte und Unverwandte, der dem Dramatischen und Rednerischen weniger Zugeneigte, hat in seiner Publikumsbeschimpfung die Bernhard-Konstellation ganz entschieden verdichtet und dramatisiert.

Und die aristotelische sogenannte "Metaphysik" - hat nicht auch sie in ihrer Fast-Gegenstandslosigkeit, in ihrer Meta-Sprachlichkeit, so etwas Dahin-Sinnierendes? Ein Dahin-Sinnieren eines nun schon etwas älteren Mannes, der einst auffallend lange ein Schüler gewesen war, dann Lehrer in unterschiedlichen Positionen, auch in allerhöchsten - und der nun - immer noch Lehrer - genau darüber, nämlich über die verschiedenen Formen und Stufen des Erkennens, Wissens und Lehrens, so dahinredet, dabei "nur" Erfahrungen ausplaudernd.

Er bleibt seiner Gewohnheit treu, zwischen den Höheren und den Niedrigeren zu unterscheiden. Immerhin hat er auch schon die Bienen erwähnt und ihnen irgendeine Erkenntnisstufe abgesprochen. Andererseits räumt er ein, daß der Heilpraktiker, dessen Wissen nur auf Erfahrung beruht, ein besserer Arzt sein kann ja sein wird als ein Mediziner, der begrifflich alles weiß aber keine Erfahrungen gesammelt hat. Der Arzt, der heilen soll, muß sich auf ein Individuum einlassen, und das kann er nur, wenn er schon vielmals auf Individuen gestoßen ist und mit denen Erfahrungen gemacht hat. Heilkünstler nennt Aristoteles diejenigen, die die Heilkunst/technik erfahrungsmäßig gelernt haben und auf diesem Wege dann auch bis zum Wissen des Allgemeinen und der Ursachen aufgestiegen sind. Die gelten ihm als Wissende und folglich als weiser als die anderen, die nur bestimmte Erfahrungen gesammelt haben. Vermutlich unterstellt er ihnen, daß sie auch mit ungewöhnlichen "Fällen" besser umgehen können - d. h. ihre Kompetenz ist letztlich auch im Hinblick auf Individuen eine größere (das ist aber eine jetzt von mir eingeschobene Vermutung).
Die Höher-Niedriger-Unterscheidung wird dann mit einem neuen Begriffspaar formuliert: architekton und cheirotechnes bezeichnen den wissenden und den unwissenden Macher (981a 31f.). Dem letzteren wird gleich ein anderer ebenfalls unwissender Akteur an die Seite gestellt, nämlich einer, der unwissend ist, weil er unbeseelt ist, und der also gar nicht wissen kann: das Feuer, das tut, was es tut, nämlich brennen, aufgrund der ihm eigenen Natur. Immerhin ist das Feuer das höchste (nämlich das wärmste und trockenste und folglich leichteste) der vier Elemente - das wird mit dem niedrigsten der menschlichen Macher gleichgestellt. Hier also wieder eine bestimmte kosmologische Einbettung von menschlichen, kulturellen Tatsachen. Der Handwerker kann das, was er kann, aufgrund von Gewohnheit, die man ja öfter als "zweite Natur" bezeichnet. Bestes Beispiel für eine weitreichende und sogar lebensnotwendige (und wohl doch schon sehr naturnahe) Gewohnheit: das Atmen. Auf dem sitzt wieder das Reden auf, in dem es auch nicht ohne Gewohnheiten abgeht - welche aber nun wohl schon weniger naturnahe und insofern eigentlichere Gewohnheiten sind. Hier schließt sich der Kreis zu den sehr "künstlichen" Rede-Gewohnheiten der Bernhardschen "Geistesmenschen".
Wenn sich die wissenden Künstler und die nicht-wissenden Handwerker durch ihre praktischen Erfolge kaum unterscheiden - woran erkennt man dann überhaupt die Wissenden? Aristoteles möchte sich nicht darauf verlassen, daß diejenigen die Wissenden sind, die sich selber dazu erklären oder die irgendwelche Studiennachweise vorzeigen können. Was sie vorzeigen sollen, ist die Fähigkeit zum Lehren. Und da wir hier einen Text aus dem Lehrbetrieb vor uns haben, zeigt Aristoteles genau mit diesem Text, daß er ein Wissender ist. Er zeigt es durch den praktischen Nachweis von Lehrtätigkeit - ohne darauf zu reflektieren oder gar sich dessen zu rühmen.

Walter Seitter

[1] Siehe Walter Seitter: Vorführungen. Paraphilosophische Dramatisierung in der Nachkrigesliteratur, in: M. Benedikt, R. Knoll, F. Schwediauer, C. Zehetner (Hg.): M. Benedikt und R. Knoll und J. Rupitz (Hg.), H. Kohlenberger und W. Seitter (Mithg.): Verdrängter Humanismus Verzögerte Aufklärung. Band VI. Auf der Suche nach authentischem Philosophieren. Philosophie in Österreich 1951-2000 (Wien 2010): 813ff.

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