23. März 2011
In Kapitel 1 hatte Aristoteles seine anfängliche Behauptung vom allgemein-menschlichen Streben nach Wissen mit der Aufstufung der unterschiedlichen Erkenntnis- und Wissensformen konkretisiert, wobei da auch schon historische Fortschrittsmomente genannt worden waren: bei den ägyptischen Priestern sind die "mathematischen Künste" um des Wissens willen gepflegt worden (981b 23ff.), womit bereits der Übergang von den poietischen zu den theoretischen Wissenschaften vollzogen worden ist. Was nun die in diesem Buch "gesuchte Wissenschaft" betrifft, die den Namen "Weisheit" zugesprochen bekommt, so führt Aristoteles recht langsam und umständlich aus, was es mit ihr auf sich haben soll. Er liefert keine präzise Gegenstandsbestimmung (wie das in der Poetik von Anfang an der Fall gewesen war), er redet von "ersten Ursachen und Gründen", nennt immerhin den Zweck, das Gute, das Beste; er betont, sie könne nur wenige Gründe behandeln. Sie sei die Wissenschaft vom "höchst Wißbaren" und keineswegs die Wissenschaft vom "leicht Erkennbaren". Damit spannt er eine epistemologische Differenz auf, die für das griechische Denken konstitutiv ist: das "an sich Intelligible" ist nicht ohneweiteres und von vornherein das "für uns Intelligible". Allerdings ist es für uns auch nicht schlechterdings verschlossen - wie bei Kant das "Ding an sich". Es wird die Frage aufgeworfen, ob damit so etwa wie ein "Okkultimus" installiert wird. Grundsätzlich wohl eher das Gegenteil, nämlich ein "Intelligibilismus". Je ursächlicher, je wichtiger, je erster die Sachen sind, umso intelligibler sind sie - jedenfalls "an sich". Für uns sind sie es zunächst vielleicht nicht, weil unsere Intelligenz schwach und abhängig ist: sie muß sich zur hohen Intelligibilität der wichtigen Sachen (Ursachen) emporarbeiten: ihre Intelligenz steigern. Übrigens dürfte jeder Okkultismus, wenn er sich als theoretische Lehre versteht, auch so eine Tendenz verfolgen: nämlich die Okkultheit gewisser Dinge aufheben wollen.
Die aristotelischen Ausführungen machen in diesem Sinn einen eher "okkultistischen" Eindruck, denn wir erfahren über die Gegenstände der gesuchten Wissenschaft recht wenig. Es werden uns ein paar Brocken vorgeworfen, Andeutungen wie Zweck, Gutes, Hinweise auf Mathematik. Immerhin kommt dann in 982b 11 ein sehr knapper Hinweis auf die griechische Wissensgeschichte; die "Philosophiert-habenden", also die ersten, die sich "Philosophen" genannt haben, haben sich bereits in der gesuchten Wissenschaft betätigt, die also doch nicht ganz neu sein kann, und die sogar schon einen Namen hat: nicht Weisheit sondern Liebe zur Weisheit. Und deren Wissenschaft war gerade keine poietische (auch keine praktische), sondern eine theoretische: Wissen um des Wissens willen. Doch wie kommt es zu so einem Wissen? Durch Erstaunen, Herumsuchen, Nicht-weiter-wissen, Doch-weiter-kommen-wollen. Also durch einen unfreiwilligen "Okkultismus", durch "Unkenntnis", aber gespürte, gewußte Unkenntnis, erlebte, erlittene, dann auch aktiv gewordene Aporetik.
Ein Anflug von solch rein theoretischer Aporetik herrschte in meiner Kindheit (aber nur im Hinterkopf und ohne Aktivierung): es war mir ein Rätsel, wieso man im Salzburger Hauptbahnhof eine Stiege hinaufgehen mußte, um dann im ersten Stock zum Zug zu kommen, der doch im Erdgeschoß durchs Land fuhr, jedenfalls kam er in den kleinen Bahnstationen immer auf der Erde an. Ein rein theoretisches Rätsel, denn praktisch hatte ich mit dem Einsteigen und Aussteigen kein Problem.
Die gefühlte, die eingestandene Unkenntnis (982b 18) und die aktive Flucht vor ihr - das ist der Anfang des Philosophierens, womit Aristoteles hier wohl alles theoretische Wissenwollen meint: angesichts von Unklarheiten in der engsten Umgebung bis hin zu den Fragen nach dem Warum der Himmels-Erscheinungen, ja der Welt-Entstehung. Die astronomischen und kosmologischen Phänomene, die Aristoteles ganz knapp anführt, beziehen sich eher auf die leicht erkennbaren Veränderungen. Die Ursachen-Fragen, die zu einem Wissen führen, die würden sich dann wohl auf die für uns schwer erkennbaren aber in sich vollkommen intelligiblen Himmelskörper und ihre gesetzmäßigen Bewegungen beziehen. Den Ausgangspunkt für das Philosophieren bildet die gefühlte Entfernung von der Weisheit, die man aktiv überwinden will.
In dem Maße, in dem man diese Situation bewußt erlebt, aktiv bearbeitet, ist man frei, so Aristoteles. Doch macht er sich den Einwand, daß die menschliche Natur vielfach "knechtisch", ja eine "Sklavin" ist, sodaß die freie Erkenntnistätigkeit gar nicht möglich, eine Illusion ist, zumindest von den Göttern, die tatsächlich frei sind, mit Argwohn und Eifersucht betrachtet, ja geahndet werden könnte. Mit solchen Göttern ist man mitten in den Mythen und ihren Rätselhaftigkeiten drin, die Aristoteles vorher erwähnt hat: die Mythen als Parallele zur philosophischen Aporetik. Der Götter-Neid, der sich gegen das menschliche Philosophieren richtet, erinnert an das biblische Erkenntnis-Verbot, mit dem die ersten Menschen bedacht worden sind. In der Bibel gilt die Übertretung des Gebotes als Sünde. Aristoteles hingegen erklärt die überlieferte Rede von den neidischen Göttern zu einer dichterischen Lüge. Der Gott sei gut und eine der gesuchten Ursachen.
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